Deadforce

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Aus der Reihe: Deadforce #1
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Dann dämmerte es Julian.

"Da kommt jemand!", schrie Julian sofort und als er das tat, beobachtete er ein seltsames Spektakel. Die Gestalt, die er ausgemacht hatte, verschwand einfach. Als ob sie nie da gewesen war. Doch alle hatten sich aufgerichtet und waren innerhalb kürzester Zeit um Julian herum versammelt.

"Wo ist wer?", fragte ein Krieger aus Bar Golan.

"Habt Ihr wirklich jemanden gesehen?", fragte einer von Odobars Männern.

"Julian, mein Freund, ich glaube, dass die Wüste Euch zu schaffen macht.", gab Odobar schließlich von sich.

"Nein, da war wirklich jemand. Ich habe ihn genau gesehen. Eine Gestalt wanderte dort am Horizont. Und es wirkte, als ob sie sich uns näherte.", gab Julian von sich. Er zeigte noch in die Richtung, wo er die Person erspäht hatte. Niemand war dort mehr zu sehen. Entweder erlaubte sich da jemand einen derben Scherz mit Julian oder er hatte wirklich eine Halluzination gehabt. Das gefiel ihm nicht, weil er sich bisher eigentlich immer sicher gewesen war, was nun Illusion und was Realität war. Abgesehen vom Angriff auf das Dorf, doch das zählte nicht, das es ohne Zweifel ein traumatisches Erlebnis gewesen war. Um sich abzulenken wollte Julian nun Dinge erfahren, die eindeutig wahr waren. Also fragte er Odobar:"Sagt mal, gibt es außer Raspetanien eigentlich noch andere Reiche in Afrika? Oder ist alles unterhalb von Eurem Land unbesetztes Areal?"

"Nein, Julian. Das Land südlich Raspetaniens ist durchaus besetzt. Direkt südlich angrenzend liegt Dereboaea, das Reich der Nomaden. Doch dort solltet Ihr nicht hingehen, mein Freund. Außer natürlich, Ihr möchtet einen äußerst schmerzvollen Tod sterben."

"Wieso, was stimmt denn nicht mit den Nomaden?"

"Nun, sie sind sehr eigen. Wenn Ihr uneingeladen ihr Reich betretet, kann das katastrophale Folgen haben. Deshalb tut Ihr besser daran, diesen Ort zu meiden, mein Freund. Zum Glück kommen wir nicht mal ansatzweise in die Nähe der Grenze zu diesem schrecklichen Reich. Denn zwischen Bar Golan und der Grenze liegt noch einmal dieselbe Strecke, die wir gerade von Apuerto nach Bar Golan wandern. Und dafür bin ich auch dankbar. Es ist nur schade, dass die schönste Stadt unseres Reiches und womöglich sogar der ganzen Welt, so nahe an Dereboaea liegt." Odobar sah betrübt zu Boden.

"Die schönste Stadt der Welt? Welche soll das denn sein?"

"Habt Ihr schon mal von Lapeorla gehört, Julian? Das bedeutet "Perle" in der alten Sprache und genau das ist diese Stadt. Sie ist die Perle von Raspetanien und wie gesagt auch die Perle der ganzen Welt. Eine Stadt, so wunderschön, dass es Euch die Sprache verschlagen würde. So mancher ist auf seinen Reisen über diese gut verborgene Stadt gestolpert und nie wieder fort gegangen. Lapeorla befindet sich beinahe schon direkt an der Grenze zu Dereboaea, doch ist die Stadt von einer unscheinbaren Bergkette umrandet, sodass es schwer ist, dort hineinzukommen. Falls die Nomaden versuchen würden, die Stadt zu erobern, müssten sie den einzigen Eingang nehmen, den es gibt und dort würden sie gnadenlos von der Stadtwache vernichtet werden. Über die Berge können sie nicht, denn diese gelten als unüberwindbar. Es ist unmöglich, diese Berge zu erklimmen und selbst wenn man es schafft, muss man auf der anderen Seite noch immer nach unten und die Berge verlaufen auf beiden Seiten so steil, dass es ohne ein Seil und gute Metallhaken zum Festhalten erst recht unmöglich ist. Und selbst mit der richtigen Ausrüstung gibt es noch genug Tücken. So bin ich wenigstens ein wenig beruhigt, dass Lapeorla nicht so schnell von den Nomaden vernichtet oder eingenommen werden kann. Leider kann ich Euch selbst nicht viel von der Stadt berichten, denn ich war auch noch nie dort."

"Dafür, dass Ihr noch nie dort wart, seid Ihr doch gut mit der Stadt und ihrer Umgebung vertraut. Sonst könntet Ihr mir nicht so viel darüber berichten."

"Vielen Dank, mein Freund. Ich weiß das alles nur, weil mein Vater es mir von seinen Reisen berichtet hat. Irgendwann reise ich mal selbst dorthin. Dann kann ich Euch erzählen, wie es war."

"Das würde mich freuen, Freund.", antwortete Julian. Er sah Odobar mittlerweile als einen guten Freund an.

"Dann ist es beschlossen, Julian. Doch zuvor müssen wir erst Bar Golan erreichen und dafür sorgen, dass Erudicor nicht von der Armee dieses bösen Magiers überrannt wird. Wie hieß er noch gleich?"

"Er nennt sich "Düsterer Magier". Aber ich habe ein wirklich schlechtes Gefühl bei ihm. Ich weiß auch nicht, was es ist. Doch irgendwie kommt er mir vertraut vor und dennoch habe ich Angst vor ihm."

"Angst ist gut. Wenn Ihr Euren Gegner fürchtet, mein Freund, seid Ihr im Kampf umsichtiger und könnt nicht so schnell getötet werden."

"Das klingt doch gut. Aber diesen verdammten Fröthljif werde ich niemals fürchten."

"Wer ist Fröthljif?", fragte Odobar sofort. Dann erzählte Julian ihm die Geschichte, wie sein Dorf zerstört wurde und alle getötet wurden, die er je kannte.

"Euer Verlust tut mir furchtbar leid, mein Freund. Aber es klingt so, als ob dieser Fröthljif ein sehr mächtiger Gegner ist. Dann solltet Ihr erst recht Angst haben, mein Freund. Unterschätzt ihn nicht, nur weil Ihr Euch rächen wollt. Handelt mit Bedacht und holt Euch Eure Rache mit einem kühlen Kopf."

"Ich kann nicht. Noch nie zuvor in meinem Leben habe ich so viel Hass gegen irgendetwas oder irgendjemand verspürt. Und wenn es mich das Leben kostet: Ich töte Fröthljif. Ich töte diesen Sohn einer Hure."

"Genau genommen gibt es keine weiblichen Trolle.", erklärte Odobar.

"Was? Aber wie können sie dann mehr werden?"

"So genau weiß ich das auch nicht. Aber ich glaube, dass mein Vater einmal erwähnt hat, dass ein spezieller Troll die Macht besitzt, andere Trolle zu erschaffen. Er wird einfach mehr Trolle erschaffen, wenn er Lust hat. Doch ich bin mir nicht sicher, ob es wirklich so einfach ist. Ihr solltet ihn selbst fragen, wenn wir ihn in Bar Golan treffen."

"Gut, das werde ich tun. Ich hoffe nur, dass nicht Fröthljif dieser eine Troll ist, der andere erschaffen kann. Andererseits könnte ich dann dafür sorgen, dass nie mehr ein weiterer Troll erschaffen wird, wenn ich ihn töte."

Odobar wandte sich ab. Er machte sich Sorgen, dass Julians Rache ihn irgendwann noch das Leben kosten würde. Da wusste er, was er zu tun hatte. Er nahm sich vor, in der Schlacht in Julians Nähe zu bleiben und ihm falls nötig gegen Fröthljif zu helfen. Er wollte ihm keinesfalls die Chance auf Rache durch einen persönlichen Zweikampf mit Fröthljif nehmen, doch er wollte ihn auch nicht sterben lassen. Odobar war entschlossen, seinen neu gewonnen Freund zu beschützen. Und das würde er auch tun. Julian blickte inzwischen wieder umher und versuchte, noch einmal die Gestalt zu erspähen, die er vorhin zu sehen geglaubt hatte. Doch nirgendwo ein Anzeichen einer solchen Gestalt. Vielleicht war es ja wirklich nur eine Halluzination und die Wüste hatte ihm nur einen Streich gespielt. Und dennoch hatte er so ein ungutes Gefühl im Magen. Das lag nicht am Essen, denn über die letzten Tage hatte er nicht viel gegessen. Großteils Reis, Fladenbrot, Ziegenkäse, Datteln und Nüsse. Obwohl alles sehr gut schmeckte, sehnte sich Julian nach einem Wildschweinbraten aus dem "Zum Goldhaus". Dieser Braten war eher nach seinem Geschmack. Fleisch war beim Reiseproviant nicht dabei und ein Kamel zu schlachten, stand außer Frage, denn sie benötigten jedes einzelne Tier. Auch wenn das Essen nicht unbedingt nach seinem Geschmack war, so hatte sein Magen es doch ohne Probleme vertragen. Umso nervöser wurde er, denn dieses Gefühl konnte nichts Gutes bedeuten. Er sah sich zu der Gruppe um und während er hoffte, dass sie bereits die Kamele abmarschbereit machten, passierte alles vor seinen Augen viel zu schnell. Er stand einfach abseits und sah zu, was geschah. Irgendeine seltsame Gestalt, die beinahe komplett in Leinenbandagen eingewickelt war, schwang gekonnt eine Kette umher, an deren Ende sich ein metallener Haken befand. Dieser grub sich tief ins Fleisch eines Kriegers aus Bar Golan. Genau am Hals hatte der Haken ihn erwischt und sobald er drinsteckte, wurde er auch schon wieder herausgerissen, während eine Blutfontäne aus dem Hals des Kriegers strömte. Er brach innerhalb weniger Sekunden zusammen und verblutete. Der zweite Krieger stürmte auf die einbandagierte Gestalt zu und stieß seinen Speer in ihre Richtung. Doch die Gestalt war flink und wich dem Speer problemlos mit einer Drehung und zugleich einem Seitwärtsschritt aus, trat dem Krieger mit ihrem Fuß ins Gesicht und schwang dann ihre Kette so, dass sie sich um den Hals des Kriegers wickelte. Dann nahm die Gestalt die Kette und wickelte sie sich um den eigenen Arm, dass sie kürzer wurde. Anschließend sprang sie mit ihrem ganzen Körper so stark sie konnte vom Krieger weg und riss dadurch auch die Kette mit, die durch die plötzliche Bewegung dem Krieger den Kopf verdrehte und ihm das Genick brach. Sofort danach wickelte die Gestalt die Kette von ihrem Arm und dem Hals des Kriegers ab und hielt sie wieder komplett in ihren Händen. Da kamen schon die anderen angestürmt und wollten sich mit Krummsäbeln gegen die seltsame Gestalt verteidigen. Aber die Gestalt blieb wie angewurzelt stehen und schwang ihre Kette mit gezielten Hieben genau so, dass sie jeden einzelnen Krieger traf, der zu nahe an sie herantrat. So wurde manchen das Gesicht aufgekratzt, andere bekamen den Haken direkt ins Auge. Wieder anderen bohrte sich der Haken in die Pulsadern der Hand, mit welcher sie den Säbel führten. Anderen wurde der Hals aufgeschlitzt. So vernichtete diese Gestalt, die Julian schon von weitem erblickt hatte, innerhalb von maximal zwei Minuten seine gesamte Karawane, bis nur noch er und Odobar übrig waren. Dieser war in dem ganzen Tumult erstaunlich untätig geblieben. Julian hatte mehr von ihm erwartet. Im Moment konnte er ihn nicht einmal erspähen. War er tatsächlich geflüchtet? Wenn, dann bestimmt aus dem Reflex heraus zu Fuß. Dann würde er ohnehin nicht weit kommen. Erst recht nicht, wenn er es mit diesem Monstrum zu tun hatte. Also bleiben nur noch Julian und das einbandagierte Scheusal übrig. Julian wagte nicht, sich zu bewegen. Seltsamerweise trug die Gestalt auch über ihren Augen Bandagen, weshalb Julian sich wunderte, wie sie wohl sehen konnte. Nachdem auch das letzte Opfer des Bandagenteufels seinen letzten Laut von sich gegeben hatte, wandte sich das bandagierte Monster Julian zu.

 

"Nicht so schüchtern. Ich weiß, dass Ihr da seid.", sprach eine eindringliche Stimme. Doch nicht die Tatsache, dass das Monster sprechen konnte, erschütterte Julian. Da war noch etwas an der Stimme, womit er nie gerechnet hätte. Wenn er mehr auf die schlanke Figur des Monsters geachtet hätte, wäre es ihm vielleicht aufgefallen. Das Monster war eine Frau.

Kapitel VI: Die Träne

Julian konnte es kaum fassen. Die Gestalt vor ihm, die er für ein unmenschliches Monster, etwas Grässliches, Abstoßendes gehalten hatte, war in Wirklichkeit eine Frau. Dennoch hatte sie all seine Gefährten umgebracht. Bis auf Odobar natürlich, der geflohen war. Doch auch den hätte sie sich bestimmt geholt. Julian wagte es immer noch nicht, etwas zu sagen, obwohl ihn die Frau schon längst entdeckt hatte.

"Wenn Ihr noch weiter schweigend da herumsteht, seid Ihr der nächste. Habt Ihr verstanden?"

Da nahm Julian all seinen Mut zusammen und antwortete, möglichst gelassen wirkend:"Na schön. Ich habe zwei Fragen. Erstens: Wer seid Ihr? Zweitens: Warum habt Ihr meine gesamte Karawane getötet?"

"Nicht Eure gesamte Karawane, Idiot. Dieser feige Prinz aus Bar Golan ist geflohen und die Kamele leben auch noch. Wobei ich vielleicht eines oder zwei töten werde. Gebratenes Kamel am Abend ist das allerbeste. Habt Ihr es schon einmal probiert?"

"Ich verzichte darauf, Kamele zu essen." Bei diesem Satz wären Julians behaarte Begleiter ihm sicherlich dankbar gewesen, hätten sie ihn verstanden.

"Wie schade aber auch, dann verpasst Ihr einen wahren Genuss. Egal, kommen wir zu Euren Fragen. Ich beantworte sie Euch, aber nur für die Antworten auf zwei Gegenfragen. Seid Ihr damit einverstanden oder zieht Ihr es vor, gleich zu sterben?"

"Nein, ich bin einverstanden. Stellt Eure Fragen."

"Gut. Wer seid Ihr und was macht Ihr in der Gesellschaft des Prinzen von Bar Golan? Das ist übrigens eine Frage."

"Von mir aus. Mein Name ist Julian und ich komme im Auftrag von Kaiser Theron aus Anthem Gows. Ich will Krieger aus Raspetanien als Verbündete gewinnen, denn bald schon wird die goldene Stadt von einer gewaltigen Armee angegriffen. Den Prinzen von Bar Golan, wie Ihr ihn nennt, traf ich nur zufällig und habe mich ihm angeschlossen, um seinen Vater in Bar Golan um Hilfe zu bitten. Seid Ihr damit zufrieden?"

"Ihr seid wirklich bescheuert."

"Wie bitte?!", fragte Julian empört. Er hatte ihr alles verraten, auch noch wahrheitsgetreu, weil er hoffte, so eine höhere Chance aufs Überleben zu besitzen und sie beschimpfte ihn einfach. "Was für eine Schlampe.", musste Julian denken. Zum Glück sagte er es nicht sofort laut, denn die Frau sprach weiter.

"Ihr könnt doch nicht einfach jedem dahergelaufenen Trottel erzählen, was Ihr vorhabt. Jeder würde das ausnutzen, um seinen eigenen Vorteil herauszuschlagen. Begreift Ihr denn gar nichts?"

"Was ist mit Euch? Erfahre ich endlich einmal, wer Ihr seid?"

"Wer ich bin? Gut, wenn Ihr es denn unbedingt wissen wollt. Man nennt mich Sahel. Ich bin eine Nomadin und stamme aus dem Reich der Nomaden, Dereboaea, welches südlich an Raspetanien angrenzt. Davon abgesehen bin ich die viertmächtigste Assassine auf der Welt. Jetzt zufrieden?"

Julian konnte kaum etwas sagen und sein Mund stand so weit offen, dass sich Sahel bei seinem Anblick sicher halb totgelacht hätte. Was Julian da alles vernommen hatte, hatte ihm Ehrfurcht vor seinem Gegenüber eingetrieben. Eine der besten Assassinen, die existierten und eine Nomadin noch dazu. Dennoch wollte er wissen, ob sich alle Nomaden so bescheuert einbandagierten oder ob nur sie Probleme hatte. Vorerst aber wollte und konnte er nicht fragen. Darauf reagierte Sahel sogleich.

"Was ist los? Hat es Euch die Sprache verschlagen? Hallo? Ihr seid doch noch da. Ich spüre Eure Anwesenheit."

"Ja...ja ich bin...noch hier.", gab Julian stockend von sich.

"Sehr schön, dann kann ich ja meine zweite Frage stellen. Habt Ihr eigentlich eine Ahnung, was genau hier vor sich geht?"

"Bitte was? Natürlich nicht! Ich verstehe gar nichts mehr! Und es wird mit jedem weiteren Wort Eurerseits nur schlimmer. Also vielleicht wollt Ihr mich mal erleuchten, denn ich kann es jedenfalls von allein nicht."

"Was für ein Pech. Ich hatte mehr von Euch erwartet, Julian, Sohn Raspetaniens."

Erneut blieb Julian der Mund offen stehen. Konnte diese Assassine hellsehen? Wie konnte sie wissen, dass er ursprünglich aus Raspetanien stammte?

"Woher wisst Ihr...", setzte Julian an.

"Ach bitte, das merke ich sofort. Ich fühle, dass Ihr hier geboren wurdet, bevor Eure Eltern mit Euch nach Anthem Gows ausgewandert sind. War ihnen wohl zu heiß hier. Oder zu langweilig. Oder zu beschissen. Was für ein Drecksladen dieses tolle "Reich der Gleichheit" doch ist." Nach dem letzten Satz spuckte Sahel auf den Boden.

"Seid froh, dass Ihr nicht hiergeblieben seid, Julian."

"Warum sollte ich? Weil ich dadurch Euch nicht begegnen musste? Jetzt ist das auch hinfällig."

"Hahaha, ihr habt Eier, das gefällt mir. Selbst im Angesicht des sicheren Todes seinen Henker noch beleidigen zu können, dafür braucht man große Eier. Die habt Ihr zweifellos."

"Wollt Ihr sie sehen?", fragte Julian unverschämt. Er war sich in diesem Moment sicher, dass er in wenigen Minuten ohnehin sterben würde. Da konnte er auch noch ein wenig Spaß haben und seine Henkerin vorführen. Doch Sahel machte ihm einen Strich durch die Rechnung.

"Oh, so ein Pech, leider kann ich Eure prachtvollen Eier nicht sehen. Das tut mir wirklich leid."

"Warum nicht?", fragte Julian sofort.

"Weil ich blind bin.", erwiderte Sahel.

Julian konnte es kaum fassen. Konnte diese Assassine eigentlich auch mal etwas sagen, das ihm nicht den Mund offenstehen ließ? Ständig enthüllte sie ein neues Detail über sich, das noch unglaublicher als das vorige war.

"Wollt Ihr mich jetzt verarschen?"

"Nein, das ist mein voller Ernst. Wenn Ihr mir nicht glaubt, so zeige ich es Euch. Seht in meine Augen, Julian."

Dann nahm Sahel langsam die Bandagen um ihre Augen herum ab. Erst jetzt erblickte Julian alle Details ihres Aussehens. Sahel war ungefähr so groß wie Julian, vielleicht ein wenig kleiner. Sie besaß eine dunkle Hautfarbe, aber nicht so dunkel wie die meisten Einwohner Raspetaniens sie besaßen. Ihre Hautfarbe war in etwa die Mitte zwischen der wirklich dunklen Hautfarbe von beispielsweise Odobar und der hellen Hautfarbe Julians. Am Großteil ihres Körpers befanden sich die Bandagen, doch an vereinzelten Stellen wie den Armbeugen, den Kniekehlen und Knien, Füßen, Armen und ihrem unteren Gesicht inklusive Mund und Nase befand sich nichts, das die Haut bedeckte. Am Rest ihres Körpers waren die Bandagen großzügig umgewickelt, doch sie wirkten steif und hart. Davon abgesehen hatten sie die Farbe des Sandes angenommen. Zweifellos waren Sandstürme dafür verantwortlich. Julian fragte sich wirklich, wie genau man dazu kam, so auszusehen. Als Sahel die Bandagen um ihre Augen schließlich abgenommen hatte, erstarrte Julian vor Schreck. Sie hatte nicht gelogen. Sahel war ohne jeden Zweifel blind. Das konnte selbst der dümmste Mensch der Welt verstehen, denn Sahel besaß nichts, womit sie hätte sehen können. Ihre Augenhöhlen waren so leer wie die vielen Gefäße, die einst Wasser beinhalteten, aber schon von der mittlerweile toten Karawane geleert worden waren.

"Glaubt Ihr mir nun?", fragte Sahel mit einem boshaften Unterton. Sie konnte genau fühlen, wie unwohl sich Julian gerade fühlte.

"Ja, selbstverständlich. Es tut mir leid, dass Ihr Eure Augenhöhlen für mich entblößt habt."

"Was für ein Charmeur.", sagte Sahel und sie lächelte dabei. "Wenn es Euch wirklich leid tut, dann erklärt mir Eines: Wisst Ihr eigentlich, was genau in diesem Reich passiert?"

"Nein, das weiß ich nicht. So weit waren wir doch schon."

"Keine Ahnung, was hier vor sich geht, nein? Dann eben nicht. Ich werde Euch ohrfeigen, bis Ihr endlich aufwacht. Warum wollte ich wohl Odobar töten?"

"Ihr wollt Odobar töten? Aber was genau hat er Euch denn getan?"

"Was er mir getan hat? Ach, ich verstehe. Ihr habt ihn kennen gelernt als Odobar, Prinz des Nebels, den freundlichsten Prinzen, den man sich nur wünschen kann. Hat er auch einmal erwähnt, was er uns Nomaden angetan hat?"

"Was genau hat er Euch angetan? Das ist doch sicher nur ein Versuch, mich gegen ihn aufzubringen?"

"Wirklich? Das denkt Ihr? Ich kann Euch mit einer einzigen Bewegung meiner Kette töten. Wenn ich Euch belügen wollte, würde ich mir die Zeit sparen und Euch einfach umbringen. Aber ich dachte, dass Ihr mich vielleicht versteht. Niemand sonst kann das. Nur die Nomaden, mein Volk. Also, wollt Ihr meine Geschichte über Odobar hören oder lieber sterben?"

"Wenn es für mich noch eine Möglichkeit gibt, aus alledem lebend herauszukommen, dann wähle ich sie. Das heißt im Grunde: Legt los, erzählt mir die Geschichte."

"Sehr gerne, Julian. Nun denn...

Vor 17 Jahren, als ich noch ein kleines Mädchen im Alter von fünf Jahren war, lebte ich glücklich mit meinen Eltern und meinen beiden älteren Brüdern in Keohn, einem kleinen Grenzdorf, das direkt an der Grenze zwischen Raspetanien und Dereboaea lag. Das Dorf war nicht allzu weit entfernt von Lapeorla, der angeblich schönsten Stadt der Welt. Odobar war damals wohl so alt wie Ihr es heute seid, Julian. Als junger, aufstrebender Sohn des Regenten von Bar Golan war er erpicht darauf, Großes zu vollbringen. Und Großes vollbrachte er auch. Fragt sich nur, für welches Volk. Er teilte die Meinung seines Vaters, dass die Grenze zu Dereboaea viel besser bewacht gehörte. Am liebsten hätte er dort eine riesige Mauer errichtet, allerdings fanden sich für so ein riesiges Unterfangen nicht ausreichend Materialien. Eines Tages beschloss Odobar, dass man einfach einen Streifen der Verwüstung entlang der Grenze erschaffen würde. Dort würden sie einen tiefen Graben ausheben, in den sie etliche Kakteen, sowie verwesende Tiere, Fäkalien und verdorbene Essensreste warfen. Wer dann auch immer die Grenze überqueren wollte, egal in welche Richtung, würde erst diesen schrecklichen Graben überqueren müssen, bei dessen bloßem Gedanken man sich schon übergeben muss. Doch bevor dieser Graben errichtet werden konnte, mussten natürlich alle Siedlungen in der Nähe verlagert werden. Doch alle Dörfer, die zum größeren Teil in Dereboaea lagen, wurden einfach angegriffen und dem Erdboden gleich gemacht. Leider traf auch mein Dorf dieses Schicksal. Mein Vater war an diesem Tag nicht bei uns und seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen. Ich weiß nicht, ob er noch lebt oder ob sie ihn auch erwischt haben. Jedenfalls vernichteten sie das Dorf Keohn, töteten so gut wie alle Einwohner und meine Familie nahmen sie gefangen. Warum genau sie gerade uns nicht sofort töteten, wie alle anderen, weiß ich bis heute nicht. Wir wurden dann lange Zeit in einem Kerker festgehalten. Irgendwann erschien dann Odobar und nahm sich den älteren meiner beiden Brüder vor. Er nahm ihn mit in einen angrenzenden Raum, aus dem seine Schmerzensschreie zu uns herüberhallten. Als Odobar wieder aus dem Raum kam, war er am ganzen Körper voll Blut und verließ mit leeren Augen den Kerker. An diese Augen werde ich mich mein ganzes Leben lang erinnern. Auch wenn ich nichts mehr sehe, diese leeren Augen sehe ich für immer deutlich in meinem Kopf. Ich weiß nicht, was er von uns wollte. Wahrscheinlich wollte er Informationen, die wir nicht besaßen. Das hielt ihn aber nicht davon ab, auch den jüngeren meiner beiden Brüder sowie meine Mutter zu töten. Und ich musste all ihre schrecklichen Schreie mit anhören. Es brach mir das Herz, sie so leiden zu hören. Schließlich war nur noch ich da und Odobar nahm mich mit in das Folterzimmer. Er setzte mich auf einen Stuhl, kniete sich hin, um auf meiner Augenhöhe zu sein und hielt mir einen Silberlöffel vors Gesicht.

 

"Weißt du, was das ist?", fragte er mit einem diabolischen Grinsen.

"Ein Löffel.", antwortete ich. Ich dachte schon, er will mich verarschen. Als ob ich noch nie einen Löffel gesehen hätte. Doch dieser eine Löffel verfolgt mich auch für den Rest meines Lebens. Denn anschließend sprach Odobar:"Kluges Mädchen. Wenn du nicht möchtest, dass dieser Löffel dein Verhängnis wird, dann sagst du mir jetzt, was du weißt. Was planen die Nomaden? Wissen sie von unserem Plan mit dem Graben?"

"Was für ein Plan? Und was ist ein Verhängens..."

"Verhängnis. Das heißt, dass dir dieser Löffel viel Leid zufügen wird. Du weißt doch, was Leid ist, oder?"

"Das, was meine Mutter und meine Brüder gespürt haben."

"Das ist Schmerz, aber ja, auch sie haben gelitten. Nun, willst du jetzt reden?"

"Worüber?"

"Über den Plan der Nomaden! Gestehe endlich! Du weißt etwas davon, das sehe ich in deinen Augen!", Odobar brüllte mich an. Ich hatte solche Angst.

"Bitte, lasst mich gehen.", flehte ich. Doch es half nichts.

"Wenn du nicht redest, dann wirst du eben leiden müssen."

Ich verstand nicht, was geschah. Alles, was ich sah, war, wie der Löffel immer näher an mein Auge herankam. Dann spürte ich einen höllischen Schmerz und auch wenn ich nicht wusste, was passierte, dachte ich als kleines Kind in diesem Moment wohl, dass ich sterbe. Dann sah ich nur noch mit einem Auge und konnte kaum glauben, worauf ich blickte. Es war mein eigenes Auge, das mir entgegen starrte. Odobar hielt es in der Hand, während er mich teuflisch angrinste. Kurz darauf verlor ich auch mein zweites Auge. Ich sah nichts mehr und wusste nicht, was geschehen würde, bis ich die fürchterlichen Schmerzen an den verschiedensten Stellen meines Körpers spürte. An meinen Armen, Beinen, am Ober- und Unterkörper. Er musste mit einer Art Messer oder Schwert entlang geschnitten haben, so fühlte es sich an. Anschließend bandagierte er mich an den blutenden Stellen und ich wurde so, wie ich heute bin. Die Bandagen schmerzten höllisch auf den offenen Stellen, weil sie in eine Flüssigkeit getränkt waren, die an den Wunden furchtbar brannte. Eigentlich hätte ich sterben müssen, doch irgendetwas hielt mich am Leben. Odobar hatte mich danach nie wieder besucht. Er dachte, ich sei tot. Irgendwann warfen mich seine Männer in die Wüste und überließen mich den Geiern. Doch so kam es nicht. Denn ich erhob mich und wanderte in eine bestimmte Richtung. Irgendwie fühlte ich, dass es in dieser Richtung am ehesten ein Dorf oder ähnliches geben würde. Schließlich gelangte ich wirklich in ein Dorf, wo man mich zunächst verwirrt beäugte, aber mir schließlich half, als ich darum bat. Ich sagte immer wieder "Hilfe. Bitte." Mehr konnte ich nicht mehr herausbringen. Die Menschen in dem Dorf halfen mir. Sie nahmen mich bei sich auf und kümmerten sich um mich. Was ich aber nicht wusste, ist, dass dieses Dorf vielmehr eine Stadt war. Nämlich ebenjene, die Odobar so viel bedeutete. Ich war direkt nach Lapeorla, der schönsten Stadt der Welt, marschiert. Es schmerzte mich, diese Schönheit, obwohl sie zum Greifen nahe war, nicht mit eigenen Augen sehen zu können. Doch dafür wurde mir mein Leben geschenkt. Als ich älter war, schickten mich die Leute aus Lapeorla zu einem alten Mann, der einsam irgendwo in der Wüste lebte. Nach allem, was ich gehört hatte, musste er ein Druide sein, einer der ersten 15 Menschen. Irgendwann fand nicht ich ihn, sondern er mich. Da wäre ich schon wieder beinahe gestorben, doch zuvor half er mir und so überlebte ich erneut. Er brachte mir bei, wie ich meine Sinne trainiere und schärfe und nach sehr hartem und jahrelangem Training wurde ich schließlich zu einer der besten Assassinen, die existieren. Nun sehe ich besser als jemals zuvor und das ganz ohne Augen. Odobar hat damals einen schlimmen Fehler begangen. Er hat nicht sichergestellt, dass ich auch wirklich tot bin. Jetzt holt ihn seine Vergangenheit ein.

Nun kennt Ihr meine Lebensgeschichte, Julian. Was sagt Ihr, glaubt Ihr mir?"

Julian konnte diese Geschichte nicht verarbeiten. Er hatte Tränen in den Augen und war zutiefst erschüttert. Egal ob Odobar oder sonst wer, wer konnte einem armen, kleinen Mädchen nur solche Gräuel antun? Solch unmenschliche Taten durften nicht ungesühnt bleiben. Natürlich konnte sich Sahel das alles auch nur ausdenken, aber sie hatte Julian schon erklärt, dass sie nichts davon hatte, ihn zu belügen. Sie konnte sowohl ihn als auch Odobar mit Leichtigkeit töten. Julian war sich sicher, dass sie ihn überzeugen wollte, dass sie in Wirklichkeit das Opfer war. Und es hatte funktioniert.

"Sahel, ich glaube Euch. Jedes einzelne Wort. Eine solche Geschichte kann man sich nicht einfach ausdenken. Dafür ist sie viel zu genau und Euer Körper ist stummer Zeuge dieser grässlichen Geschehnisse. Es tut mir furchtbar leid, was Euch widerfahren ist. Niemand, egal wer, sollte jemals so etwas durchmachen müssen."

"Wie schön, Julian. Dann muss ich Euch nicht töten. Das ist schon mal eine Erleichterung. Ich mag Euch, Ihr habt eine spezielle Art, die mir unheimlich vertraut scheint. Irgendwie erinnert Ihr mich an meinen Vater Jakar."

Julian glaubte, sich verhört zu haben. Er fragte zur Sicherheit noch mal nach.

"Was habt Ihr gerade gesagt, Sahel?"

"Dass Ihr mich an Jakar, meinen Vater, erinnert."

"Aber Jakar ist mein Vater. Das muss eine Verwechslung sein. Oder es gibt mehrere Jakars. Vielleicht ist es ein häufiger Name in Raspetanien."

"Deshalb also.", sagte Sahel knapp.

"Deshalb was?", wollte Julian wissen.

"Deshalb seid Ihr mir so vertraut. Du hast exakt die Art unseres Vaters, Julian."

"Ich bin kein bisschen wie mein Vater! Er hat meine Mutter und mich im Stich gelassen und selbst wenn er wirklich auch dein Vater ist, hast du selbst gesagt, dass du ihn nach dem Angriff nie wieder gesehen hast. Er ist einfach abgehauen, als er den passenden Moment dafür sah."

"Aber er ist dennoch unser Vater, Halbbruder. Scheinbar sind doch nicht alle Mitglieder meiner Familie tot. Wie klein die Welt doch ist. Endlich habe ich einen kleineren Bruder. Das wollte ich schon immer."

"Jetzt mal ganz langsam. Wir wissen noch immer nicht, ob das wirklich der Wahrheit entspricht."

"Doch natürlich, Julian. Wenn du mir nicht glaubst, nimm meine Hand."

Julian ergriff Sahels Hand und jeglicher Zweifel, dass sie nicht seine Schwester war, wurde weggespült. Er konnte deutlich fühlen, dass eine ganz besondere Macht sie beide verband. Eine Macht, so alt wie die Menschheit selbst, die Kraft der Familie. Er fühlte das Blut seines Vaters, Jakar, durch Sahels Venen strömen und sie nahm dasselbe bei Julian war. Kaum zu glauben, dass die viertmächtigste Assassine der Welt Julians Halbschwester war. Nun schlichen sich einige Erkenntnisse in seinen Kopf. Sein Vater hatte vor seiner Mutter bereits eine Frau gehabt. Letztendlich hatte er beide Familien verlassen. Aber das war nicht alles. Julian besaß tatsächlich eine Schwester. Ebenso wie zwei tote Brüder. Und er hatte seine Schwester gefragt, ob sie seine Eier sehen will. In diesem Moment schämte er sich furchtbar. Sahel schien das nicht zu entgehen.

"Was ist los, Bruder?"

"Ich denke nur gerade an vorhin, als ich dir angeboten habe, meine Eier zu betrachten. Das wirkt jetzt angesichts der neuesten Umstände so falsch."

"Mach dir nichts daraus, das kann doch jedem passieren. Ich hätte zunächst auch nicht geahnt, dass sich mein Bruder, von dem ich bisher nichts wusste, bei dem Mann befindet, der mein Leben zerstört hat. Aber jetzt, da wir das geklärt haben, was sollen wir tun?"

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