Besser als nix

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3 ungeahnte perspektiven

Ich sitze jetzt direkt vor der Tür des Besprechungszimmers auf einer Holzbank. Über der Tür hängt so ein Motivationsposter: eine glückliche Blondine mit Bäckermütze, ein cooler Typ mit Zahnspange und Schraubenschlüssel in der Hand und ein anderer mit Strähnchen im Haar, der einen Pinsel schwingt. Darüber steht: »Mach’s richtig«. Jemand hat die Schrift als Sprechblase umrandet und was dazugekrakelt, sodass der Kfz-Mechaniker jetzt zum Maler mit Pinsel sagt: »Ich mach’s Dir richtig«. Die Bäckerblondine hat einen Schmollmund und eine Krokodilsträne abbekommen.

An mir vorbei laufen die ganzen erwachsenen Arbeitslosen, aus dem anderen Gebäudetrakt. Mit fahlen Gesichtern und irgendwelchen Blättern zum Ausfüllen in den Händen. Die sind hier nicht zum Spaß. Das macht einem ganz schön Angst. Hier will ich nicht noch mal hin.

Sarah sammelt die Bögen ein, und vielleicht hab ich mich auch geirrt, aber ich glaube, sie hat mir zugezwinkert. Unter ihrem weißen T-Shirt zeichnet sich ihr Busen ab. Ich kann nicht genau erkennen, ob sie einen BH trägt.

(Sorry. Das schreibe ich jetzt hier wie im Tagebuch, O.k. Weil ich mir eigentlich doch nicht vorstellen kann, dass Du das liest. Vielleicht streich ich es auch nachher, sicherheitshalber. Aber jetzt lass ich es erst mal so stehn.)

Ich frag mich auf einmal – warum auch immer –, wie alt man als Referendarin so ungefähr ist. Paul sagte mir vorhin auf dem Klo, alle reden heute über sie, alle gucken ihr auf die Titten (hat Paul so gesagt). Dann ging die Tür auf der Jungstoilette auf, sie stand da und meinte trocken, sie habe keine Lust, sich hier zum Affen zu machen und allen hinterherzulaufen. Die Jungs sollten jetzt die Bögen ausfüllen oder gleich nach Hause gehen. Oder sich mal drüben angucken, wie es aussieht, wenn man hier regulär anstehen muss. Weil man keine andere Chance hat. Da sind dann alle rausmarschiert und haben brav zum Stift gegriffen. Die nimmt das nicht so hin wie Frau Frevert. Das gefällt mir.

Sie kommt hier aus Schönburg, direkt neben Schwarzbeck, ist nach dem Abi nach Berlin gegangen. Zum Studieren. Und jetzt ist sie anscheinend wieder da. Seine Schwester kennt sie noch. Die hat inzwischen zwei Kinder und ist verheiratet. Pauls Schwester ist jedenfalls 25.

Ich werd reingerufen. Ein Raum mit Topfpflanze auf dem Fensterbrett, bunten Mallorca-Postkarten, die mit Tesafilm an den Spanholzschrank gepappt wurden, und einem Katzenbildschirmschoner, der auf dem Computer flimmert. In diesem Raum entscheidet sich also meine Zukunft.

Die Arbeitsamtsberufsberaterin wendet sich förmlich an mich: »Tom. Erst einmal möchten wir uns bei Ihnen bedanken, dass Sie den Bogen so konkret ausgefüllt haben. Bei so vielen Details ist es uns sehr leichtgefallen, ein passendes Berufsprofil zu erstellen.«

Sie lächelt mich motivierend an. Ich bin ein offenes Buch. Ich bin verblüfft. Genau das hab ich mir erhofft. Aber warum krieg ich dann jetzt Angst?

»Der Beruf, den wir für Sie entdeckt haben, wird Ihnen vielleicht erst mal nicht so viel sagen. Er ist auch erst seit wenigen Jahren ein anerkannter Ausbildungsberuf ... Die Empfehlung hat natürlich nichts mit Ihrem äußeren Erscheinungsbild zu tun, keine Sorge, sondern besonders mit den Ausführungen und Wünschen, die Sie uns haben zukommen lassen. Ich gebe Ihnen hier mal das Tätigkeitsprofil, damit Sie sich etwas darunter vorstellen können ... Aber kriegen Sie keinen Schreck. Das ist ein ganz normaler Beruf.«

Sie reicht mir einen Bogen. Ich linse auf die Überschrift, bin auf alles gefasst.

Auf fast alles.

Bestattungsfachkraft

Die Ausbildung zur Bestattungsfachkraft ist in Deutschland seit dem 1. August 2003 möglich. Die Ausbildungsdauer beträgt 3 Jahre und wird in Bestattungsinstituten und in Friedhofsverwaltungen durchgeführt. Die praktische Ausbildung wird im Betrieb durchgeführt und umfasst unter anderem die Bergung, Überführung, Versorgung, Einkleidung und Einbettung von Verstorbenen. Grabtechnik, Warenkunde, Dekoration, Beratungsgespräch und Trauerpsychologie werden in zwei überbetrieblichen Lehrgängen im Bundesausbildungszentrum der Bestatter in Münnerstadt gelehrt.

Im kaufmännischen Teil der Ausbildung werden das Beratungsgespräch mit den Angehörigen, die Organisation, Planung und Kontrolle der Bestattung, die Kalkulation und Rechnungslegung, aber auch die Beurkundung eines Sterbefalls beim Standesamt sowie alle nach einem Sterbefall abzuwickelnden Formalitäten vermittelt. Dazu gehören zum Beispiel das Abmelden eines Verstorbenen bei den Krankenkassen und den Rentenversicherungen.

Puh. Puh. Die Worte verschwimmen vor meinen Augen.

»Tom?«

»Tom, hallo, alles O.k.? Das ist ja erst mal nur eine Empfehlung. Du kannst ja auch was anderes machen. Aber das hat so gut gepasst, ist abwechslungsreich und«, Sarah reicht mir noch zwei ausgedruckte kleine Zettel, »ich hab auch schon zwei Ausbildungsplätze entdeckt hier in der Umgebung, wo du dich noch bewerben könntest für dieses Jahr.«

Ich nicke. Na, dann passt ja alles perfekt.

»So, wer ist als Nächstes dran?«, fragt die Dame von der Berufsberatung schon und drängt mich hinaus.

Draußen fragen Paul und Max gleich: »Und, na, was wirst du jetzt?«

Ich sage nix. Das kann man doch keinem erzählen. Auch Papa nicht. Schon gar nicht. Der denkt dann gleich wieder, mit mir stimmt was nicht, wenn die mir hier so was empfehlen.

Bevor ich zurückfahre, geh ich lieber in Kiel noch ins Solarium. Zum Sonnenstudio Palme. Ich habe in letzter Zeit ganz schön Augenringe. Vielleicht hat es auch daran gelegen ...

Solarium hab ich auch von Mike gelernt. Ohne ihn wäre ich doch niemals ins Solarium gegangen. Schon allein wegen dem Krebs. Erst habe ich immer draußen vor der Kabine gewartet, bis er fertig war, hab ihn sogar aufgezogen damit, aber dann wollte ich es irgendwann doch ausprobieren. Ich mag eigentlich gar nicht mal am liebsten daran, wie ich danach aussehe, das ist mir fast egal, ich finde am besten, wie schön warm es dort ist.

Ich stell mir dann immer vor, ich wäre verreist. Es ist eine Ewigkeit her, dass ich in echt mal verreist war. Mit der ganzen Familie, früher. Vater, Mutter, Kind. Meer, Sonne, Strand. Vielleicht zehn Jahre oder so ist das her, und wenn ich das schon sagen kann, dann bedeutet es, es ist mehr als mein halbes Leben her.

Jetzt bietet mir Carsten nur noch manchmal an, mich ins Trainingslager mitzunehmen, in den Ferien. Aber das ist ja keine Erholung oder so was – wer als Zwerg wie ich zwischen Hammerwerferinnen, Boxern und Bobfahrern in einem Leistungszentrum Urlaub machen will, der muss schon ein ziemliches Selbstbewusstsein haben.

Auf der Fahrt zurück, kurz vor Schwarzbeck, treffe ich ausgerechnet auf die Referendarin, Sarah. Wir beide sind anscheinend die einzigen Fahrradfahrer der ganzen ausbildungsplatzlosen Oberstufe. Sonst ist mir unterwegs jedenfalls keiner begegnet.

Ihr klappriger Drahtesel hat einen Platten. Das Bike sieht sowieso aus, als ob sie es irgendwann mal zum Kindergeburtstag geschenkt bekommen hat, mit buntem Speichenschutz und einer großen Klingel. Fehlen nur noch die Stützräder.

Sie fragt mich, wo ich denn jetzt grad herkomme, aber natürlich sag ich nichts vom Solarium.

Unter der neuen Bräune werde ich rot. Ich glaube, ihr Hinterreifen ist richtig kaputt, und wir schließen ihr Rad schließlich an einen Zaun an, irgendwo mitten auf der Strecke. Es kommt mir vor als würden wir es wie einen hinkenden Wanderkameraden kurz vor dem Berggipfel im Stich lassen. Eigentlich wollte ich vorschlagen, dass wir beide schieben. Hatte gehofft, mich so noch ein bisschen mit ihr unterhalten zu können.

Aber es kommt noch viel besser: Sie will sich allen Ernstes vor mich auf mein Rennrad setzen, auf die Stange, noch bevor ich mich darauf einstellen kann, springt sie wie selbstverständlich auf, und da ist sie mir so nahe, dass ich kaum fahren kann, geschweige denn mich locker und unbeschwert mit ihr unterhalten. Das ist echt ein bisschen zu viel für mich.

Sie kriegt das anscheinend gar nicht mit, dass das eher ein ungewöhnlicher Platz ist für ‘ne Lehrerin oder so – was weiß ich, Frau Frevert würde das jedenfalls nicht machen, aber sie hält sich am Lenker fest, riecht nach Pfirsich und erzählt ganz entspannt, dass dieses Fahrrad noch aus ihrer Jugend stammt, wie auch ihr altes Pferd und alle Sachen in ihrem Zimmer, die sie hier zurückgelassen hat, bei ihren Eltern, als sie nach Berlin gezogen ist, mit neunzehn.

Mit blauen Haaren und kaputten Jeans und einer Gitarre – genau, wie man sich das vorstellt, wenn man zum ersten Mal richtig von zu Hause weggeht. Abhauen mit Ansage. Und dass es seltsam sei, jetzt wieder in diesem Zimmer zu wohnen und dieses Leben aufzunehmen, als hätte es gar keine Lücke gegeben, und als sei sie immer noch dasselbe junge Mädchen, das damals aufgebrochen ist, ungefähr in meinem Alter. Sie guckt versonnen vor sich her, während ich das Rad balanciere.

Und dann sei hier auch noch alles so überschaubar und ständig würden einem alle Ortsbewohner über den Weg laufen und nach der Familie fragen und wie es einem geht und warum man damals denn weggegangen wäre und warum man jetzt zurückgekommen sei und so. Total ungewohnt, ergänzt sie.

Ich hab irgendwie den Eindruck, als ob sie eigentlich mehr zu sich selbst spricht, als mir das alles zu erzählen. Als ob sie so voll von ihren ganzen Gedanken vom ersten Schultag und so ist, dass sie es einfach sofort loswerden muss, egal bei wem, um nicht zu platzen.

»Ich will auch so schnell wie möglich abhauen hier«, verrate ich ihr. Hab ich noch keinem so erzählt. »Manchmal weiß ich gar nicht, was ich hier soll, ich hab immer das Gefühl, das Leben würde anderswo passieren. Vielleicht in Berlin?«

 

Ich lenke das Gespräch in Richtung Hauptstadt, damit sie was zu erzählen hat. Dachte, das wäre geschickt. Aber Fehlanzeige. »Berlin. Da ganz bestimmt nicht!«, wehrt sie abrupt ab, ist auf einmal hellwach und macht so plötzlich Anstalten, vom Rad zu springen, dass ich fast das Gleichgewicht verliere.

An der nächsten roten Ampel verabschiedet sie sich hastig, ohne mich überhaupt noch mal richtig anzusehen, und verschwindet. Seltsam.

Zu Hause fällt mir auf, dass ich immer noch die zerknüllten Zettelchen in der engen Jeanstasche habe. HEIMKEHR BESTATTUNGEN und DISCOUNT BESTATTUNGEN. Vielleicht sollte ich doch anrufen? Ich werfe noch mal einen Blick auf das Berufsprofil. »Einbettung von Verstorbenen?« Brrrhh.

Wenn es noch etwas gibt, was mich mehr schockiert hätte als Kaufhaus-Detektiv, Fahrkartenkontrolleur oder Gerichtsvollzieher, dann ist es sicherlich das. Tote anfassen. Nur mit »Hinterbliebenen« zu tun haben. Jeden Tag von Neuem Abschied nehmen. Niemals würde ich das machen. Echt nicht. Auf keinen Fall.

Ich schalte den Fernseher ein. Privatfernsehen. »Drei Kandidaten – ein Job« läuft da. Drei sendungsbewusste Anwärter kämpfen um einen Job, um den sie sich vermutlich auch ohne TV hätten problemlos irgendwo bewerben können. Bitter. Ich stell mir vor, dass ich dort antreten müsste. Die letzte Chance. Wer kann am schnellsten das Grab ausschaufeln? Los geht’s. Mein Vater mit seiner Stoppuhr stünde hinter uns.

Auf dem Weg zur Fahrschule wollte ich noch Oma besuchen. Es ist nicht so, dass sie meinen Besuch besonders dringend nötig hätte: Sie hat ständig Gäste. Es kommt immer jemand vorbei, der ihr Blumen bringt, sodass es in ihrem Zimmer fast jeden Tag so aussieht, als würde sie grade Geburtstag feiern. Falls jemand im Haus eine Vase sucht, dann kommt er direkt zu ihr. Sogar Alkohol sammelt sich bei ihr mittlerweile in rauen Mengen, weil sie die geschenkten Schnäpse, Weinbrände und Cognacs nicht konsumiert, sondern auf ihrem Schrank hortet.

Wenn ich sie ansehe, dann wäre ich auch gerne so wie sie, wenn ich alt bin. Manchmal wäre ich dann sogar gerne sofort so alt wie sie, echt jetzt, dann hätte ich den ganzen Stress mit dem Leben schon hinter mir und könnte gelassen auf meine Erinnerungen zurückblicken. Die Frage: »Was soll nur aus dir werden?« würde mir dann keiner mehr stellen, denn dann wüssten ja alle schon, wie es gelaufen ist.

Oma sieht einem sofort an, was einen grade beschäftigt, und schafft es in jeder Lage, das Beste zu erkennen. Und sie findet absolut für jeden Knopf, den man verloren hat, den richtigen Ersatz in ihrem Nähkästchen. Ein Phänomen.

Sie ist anders als alle, die ich kenne und das liegt vermutlich daran, dass Wally gar nicht meine leibliche Oma ist ... Aus verschiedenen tragischen Gründen habe ich keine echte, lebende Oma. Auf der einen Seite der Krebs, auf der anderen Familienzwist, mehr sag ich dazu nicht.

Papa hat sich früher wegen dieser ganzen Familiensache Sorgen gemacht, glaub ich, so von wegen: der arme Junge, ganz ohne Großeltern, kann nie jemanden besuchen, der für ihn nach einem uralten Rezept Apfelkuchen bäckt, ihm vom Krieg erzählt oder irgendwelche Traditionen vermittelt, die Kinder so von ihren Omas und Opas übernehmen.

Als er schon nicht mehr aktiver Fußballer war und kurz bevor er seinen Trainerschein gemacht hat, hing er ein bisschen in der Luft und ist Taxi gefahren, um Geld für die Familie zu verdienen. Einmal hat er dann meine Oma gefahren, Wally. Sie sah schon damals so aus wie jetzt, wie eine Bilderbuchoma, mit geflochtenen weißen Zöpfen und bunten Blumenkleidern an. Und da hat er sie spontan gefragt, ob sie nicht vielleicht meine Oma werden will. Hat er mir so ungefähr erzählt.

Sie dachte natürlich erst, er meint es nicht ernst, will ihr was verkaufen oder sie sonst wie übers Ohr hauen, und war eher zögerlich. Aber er hat ihr dann anscheinend sehr überzeugend von mir berichtet – dem einzigen gänzlich großelternlosen kleinen Jungen im ganzen Landkreis. Buhuhu. Da muss man auch erst mal drauf kommen, oder? Heute würde er das bestimmt nicht mehr machen. Aber damals hat er sich alles Mögliche für mich ausgedacht.

Er hat mir sogar mal zum Geburtstag ein eigenes kleines Holzhäuschen gebaut, da konnte man sich richtig reinsetzen. Mit Klingel und Namensschild an der Tür. Das stand bei uns im Garten.

Na ja, vielleicht lag es auch nur daran, dass er damals Zeit hatte, dass er auf solche Ideen kam.

Jedenfalls, ich war damals noch ganz klein und wusste nicht, dass mir eine Oma fehlt. Und dann kam sie zu Besuch, Papa hat sie mit dem Taxi abgeholt, Du hattest anscheinend den Kuchen gebacken, und sie hat gesehen, dass es bei uns wirklich jemanden gibt, der bis jetzt noch keine Oma hat, nämlich mich. Und seitdem ist sie meine Oma. Und auch wenn Carsten und ich so gänzlich verschieden sind und wir uns eigentlich nie über irgendwas einig sind, in der Auswahl meiner Oma hat er einen absoluten Volltreffer gelandet.

Mittlerweile ärgert er sich, glaub ich fast darüber, dass er sie entdeckt hat, und ist manchmal richtig eifersüchtig, weil er befürchtet, dass ich mich besser mit ihr verstehe als mit ihm. Stimmt ja zurzeit auch.

Natürlich ist Oma begeistert von der Berufsempfehlung. Ich könnte sie ja dann unter die Erde bringen und alle ihre Bekannten hier auch, meint sie strahlend. Hier gäbe es große Nachfrage. Das sind Konsequenzen, die ich noch nicht bedacht habe, die machen mir erst richtig Angst. Und es würde bedeuten, dass die Leute denken, ich hätte sehr viel Einfühlungsvermögen, wenn sie mir so etwas empfehlen, setzt sie noch schmeichelnd hinzu.

So habe ich das noch gar nicht betrachtet. »Ich bin sehr stolz auf dich, mein Junge«, meint sie anerkennend. Wenn ich sie nicht kennen würde, würde ich wahrscheinlich glauben, sie macht sich über mich lustig. Aber für sie ist es keine Frage, ob ich dort antreten soll oder nicht. Oder was »die Leute im Ort« von so einem Job halten. Es ist ein Abenteuer, und die Frage ist eigentlich nur, wann es losgeht. Typisch.

Ich habe ziemlich die Zeit vergessen mit ihr und bin schon wieder zu spät dran. Das passiert mir jedes Mal, weil das Altersheim nun mal auf dem Weg liegt und ich mich fast immer zu einem Zwischenstopp hinreißen lasse. Weil sie einfach so gut zuhören kann und weil das ein Ort ist, an dem absolut keine Hektik herrscht, an dem Zeit kaum noch eine Rolle zu spielen scheint und ich deswegen immer vergesse, auf die Uhr zu gucken.

Ungeduldig wartet mein Fahrlehrer Herr Seibel auf dem Parkplatz. Er hat hier im Ort Generationen von Autofahrern mit seiner ganz persönlichen Schulterblick- und Einparktechnik geprägt, denn das ist die einzige Fahrschule weit und breit. »Wo bleiben Sie denn? Die Stunde beginnt um Punkt sechs und sie wird durch Ihr Zuspätkommen nicht länger!«, schimpft er gekränkt. Er ist das nicht gewöhnt. Alle hier sind verrückt darauf, schnellstmöglich ihren Führerschein zu machen. Bloß ich komme immer zu spät.

Carsten hat mir diese Stunden geschenkt – das gehört alles noch ins Gesamtpaket von diesem braun gebrannten, topfitten Fußball spielenden, Auto fahrenden Sohn, der ich nicht bin.

Ich finde, ich brauche gar kein Auto, ich habe ja das Internet. Damit kann ich in Sekunden die ganze Welt durchqueren. Ich sage nur: Google Earth. Aber kein Wunder, dass er das nicht versteht, er kann ja noch nicht mal eine E-Mail verschicken, wie gesagt.

Ich kann mir auch gar nicht vorstellen, wirklich richtig draußen Auto zu fahren, um ehrlich zu sein. Die ganzen Schilder und Verbote, die ganzen Dinge, die passieren können. Die Welt um mich und diese Blechkarosse herum. Hilfe!

Was ich will, ist entweder zu nah dran oder zu weit weg, als dass ein Auto mir dabei helfen würde, es zu erreichen. Manchmal fahre ich so ruckelig, als ob selbst der Wagen nicht wüsste, ob er lieber vor- oder zurückfahren soll. Oder stehen bleiben. Das hasst mein Fahrlehrer am meisten, wenn wir dann so bescheuert durch die Gegend hoppeln und die anderen Autofahrer schon grinsend zu uns rübergucken.

Muss ich hier etwa abbiegen? Meine Gedanken schweifen schon wieder ab, ich kann mich nicht entscheiden – hinter uns hupt es. Herr Seibel runzelt die Stirn. Aber zum Glück ist die Stunde jetzt auch vorbei. Ich bin jedes Mal erleichtert, wenn wir lebend wieder auf den Parkplatz einbiegen. Er auch, glaub ich.

Zu Hause flackert das Lämpchen von unserem Anrufbeantworter so auffordernd, dass es mir sofort ins Auge springt. Es ist eine halbe Ewigkeit her, dass überhaupt einer die Möglichkeit genutzt hat, seine Stimme hier für uns aufzuzeichnen. Kein Mensch außer uns hat überhaupt noch einen AB, oder? Ich hatte jedenfalls schon fast vergessen, dass es dieses Gerät überhaupt gibt. Eine junge Frau, die meinen Namen spricht, ist auf dem Band (Weltpremiere!).

Sarah. Sie wollte noch mal anrufen, weil sie vorhin so hektisch verschwunden sei. Und wegen der Berufsberatung. Sie wisse, dass sich das seltsam anhöre, aber sie hätte ein gutes Gefühl mit diesem Vorschlag, »Bestattungsfachkraft«. Sie könnte sich vorstellen, dass das genau das Richtige für mich sei. Ob ich mich nicht wenigstens mal dort melden könnte, es mir mal ansehen, vor allem, wenn ich mir hier ohnehin schon so verloren vorkäme (hatte ich etwa verloren gesagt?). Ich könnte ihr ja dann auch erzählen, wie es war. Sie nennt ihre Nummer.

Ich höre mir die Ansage mindestens noch fünf Mal an, als handele es sich um ein ganz kompliziert verschlüsseltes Liebesgedicht, das nur wir beide verstehen.

Die wunderschöne Referendarin mit dem zarten Pfirsichduft und dem blonden Flaum an den Wangen, der dunklen Stimme und den spitzen Dracula-Eckzähnen, dem Busen, der – aber von dem schreib ich ja nichts mehr – fragt persönlich an, was ich von ihrer Idee halte. Sie hat bemerkt, dass ich auf diesem Planeten lebe, und kennt meinen Namen. Einen Teil ihrer Lebenszeit hat sie investiert, um mich anzurufen. O.k. Das allein ist ein Triumph. So ziemlich der Größte in den letzten Wochen und Monaten.

Ich krame die Zettel hervor und greife zum Hörer, wie ferngesteuert. Ich seh das jetzt erst mal als Recherche. Nur für dich, Sarah, denk ich. Nur für dich. Und damit ich nicht noch mal zum Arbeitsamt muss. Ich geb’s zu.

Bei Discount-Bestattungen ist ein Anrufbeantworter dran. »Wenn Sie einen Todesfall melden möchten, wählen Sie bitte die Eins. Wenn sie Fragen zur Bestattungsvorsorge haben, wählen Sie bitte die Zwei. Und wenn Sie einen Sachbearbeiter sprechen möchten, dann sind unsere Sprechzeiten ...«

Alles klar. Ich lege auf und wähle dann die andere Nummer.

»Bestattungsinstitut Heimkehr, Petrowa. Challo?«

Ein Dorf weiter und die Leute sprechen mit deutlich russischem Akzent. Na so was.

»Ich – guten Tag. Hallo. Tom Rasmus. Ich rufe wegen der Ausbildungsstelle an. Nur mal so. Kann ich ihnen die Daten auch mailen? Na, meine Bewerbungsunterlagen. Nein. Gut. Brauchen Sie gar nicht. Direkt vorbeikommen? Sofort? Nein. Das geht nicht. Morgen? Geht auch morgen? Morgen schon. Ja. Zehn Uhr, alles klar. Und meine Zeugnisse – O.k. Gut. Danke.«

Ich bin eingeladen. Mein Gott, ging das schnell. Die brauchen aber ziemlich dringend jemanden, oder? Das ist eigentlich kein gutes Zeichen. Ich weiß noch nicht mal, ob ich das überhaupt werden will, und bin schon eingeladen. Was mach ich jetzt bloß? Bei Sarah will ich mich noch nicht melden. Die muss ja nicht wissen, dass ich da sofort angerufen habe. Ich bin ja schließlich nicht ihr Roboter. Soll ich Mike anrufen? Eigentlich sind wir schon lange keine richtigen Freunde mehr. Also schon, irgendwie – aber irgendwie ist das auch schon zu lange her. Ich geh nachher ins Feld, die sind bestimmt wieder alle da. Die sind immer da. Ich kauf einen Sixpack.

Oder ich geh gar nicht hin, morgen. Ich bewerbe mich einfach wo anders. Das ist doch wirklich total absurd. Was weiß diese Sarah schon von mir? Warum sollte sie über mein Leben bestimmen? Ich rauche erst mal eine. Das ist total verboten bei uns Sportskanonen zu Hause. Auch wegen dem Krebs.

Früher hab ich mir den wirklich vorgestellt wie so ein Tier, was in Deinen Körper gekrabbelt ist und da dann alles kaputt gemacht hat. Dieser Krebs.

Liege auf dem Bett rum und stell mir mein Leben als Bestattungsfachkraft vor. Spinne rum. Rauchen passt irgendwie zu diesem Berufsbild. Totengräber, wie in alten Western. Leichen pflasterten seinen Weg. Ich habe noch nie eine Leiche gesehen.

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