Schön wie die Acht

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Als ich nach Hause komme, merke ich sofort, dass dicke Luft ist. Wie Mama die Tür aufreißt. Und ihr Gesicht – mit dieser steilen Falte zwischen den Augenbrauen. Papa ist um diese Zeit noch nicht von der Arbeit zurück, also muss irgendwas zwischen ihr und Josefine vorgefallen sein.

»Ich bin noch am übersetzen«, sagt sie, kaum dass ich einen Fuß im Haus hab. »Also sei bitte leise, okay?!« Ihre Stimme klingt scharf, und erst, als sie schon wieder halb in ihrem Arbeitszimmer verschwunden ist, kommt versöhnlich hinterher: »Hattest du einen guten Schultag?«

»Joah«, antworte ich unbestimmt, und es ist wohl auch schnuppe, was ich sage, weil Mama wahrscheinlich sowieso nicht zuhört.

»Schön«, sagt sie auch nur, »erzähl mir nachher davon«, und zieht die Zimmertür hinter sich zu.

Alles in allem ist das nicht gerade das, was ich gewöhnt bin. Wenn ich wegen des Matheclubs lange Schule hatte, hört sie normalerweise auf mit ihrer Arbeit oder macht zumindest eine Pause, und meistens setzen wir uns dann zusammen, trinken Kakao und unterhalten uns. Über den Matheclub und darüber, was ich sonst noch alles erlebt hab. Doch im Moment ist ja alles ungewöhnlich, und ich möchte nun wirklich wissen, was hier heute Nachmittag los war. Also stelle ich meinen Rucksack ab und gehe in den Keller runter. Hinter der Tür zu Josefines Zimmer ist es still, aber ich weiß genau, dass sie da ist.

»Josefine?«

Sie antwortet nicht. Trotzdem drücke ich die Klinke runter.

»Was willst du?«, blafft sie mir entgegen. Wieder sitzt sie auf der Schlafcouch und wieder hat sie ihren Laptop auf dem Schoß. Und nicht nur Mamas, sondern auch ihr Gesicht ist zerknautscht, die müssen echt aneinandergeraten sein.

»Hast du meine Mutter bei der Arbeit gestört?«, frage ich einfach zurück. Weil, dazu hab ich keine Lust. Dass andere sich streiten und mich dann anmotzen.

»Die stellt sich vielleicht an!« Josefine knallt den Laptopdeckel runter.

»Wenn sie übersetzt, kann sie laute Musik nicht leiden«, erkläre ich. »Oder den Fernseher oder so. Da muss sie sich konzentrieren können.«

»Hab ich Musik gehört?«, faucht Josefine. »Hab ich ferngesehen? Ich hab trainiert!« Sie deutet auf Papas Langhantel, auf die die großen Scheiben gesteckt sind – die ganz großen. »Kreuzheben. Und nur weil die Hantel beim Absetzen nun mal scheppert, kommt die an und heult rum. Das ist leider ungünstig um diese Zeit, mimimi …«

»Oh«, sage ich, denn das ist vielleicht wirklich etwas pingelig von Mama. So ein bisschen Geklirr, ganz ohne Worte, die sie von ihrem Text ablenken könnten. Da hat sie bestimmt noch was anderes gestört als bloß das Geräusch. Ich muss an das Mädchen und seine Mutter denken, mit denen Mama nichts am Hut hat, wenn sie nicht gerade so tut als ob, so wie gestern, beim Abendessen, und da tut mir Josefine fast leid. Es ist bestimmt nicht lustig, bei jemandem zu wohnen, der gar nichts mit einem zu tun haben will. Selbst, wenn der Jemand offiziell was anderes sagt.

»Find ich auch übertrieben, dass sie wegen so was Stress macht«, füge ich hinzu.

Aber da sagt Josefine: »Diese Bitch!«, und ich bin wieder ganz auf Mamas Seite.

»Meine Mutter ist keine Bitch!«

»So?« Josefine verzieht den Mund. »Weißt du überhaupt, was das ist, ’ne Bitch?«

Ich spüre, wie mein Kopf heiß wird. »Ja, aber was hat das mit meiner Mutter zu tun?«

»Kannst ja mal drüber nachdenken«, sagt Josefine. »Vielleicht fällt’s dir dann ein!« Dann klappt sie ihren Laptop wieder auf, guckt auf den Monitor, tippt irgendwas auf der Tastatur.

Mein Herz pocht, durch meinen Kopf schießen tausend Gedanken, aber ich kann keinen von ihnen festhalten.

»Is’ noch was?«, fragt Josefine. »Wenn nicht, hätte ich nämlich gern ’n bisschen Ruhe.«

Ich hab keine Ahnung, was sie da macht, Hausaufgaben (wohl eher nicht) oder Surfen oder ein Game, aber so wichtig, dass sie mich Knall auf Fall rausschmeißt, kann es jedenfalls nicht sein. Und gehen mag ich so nicht. Nicht, ohne die Sache aus der Welt geschafft zu haben. Das hasse ich nämlich, wenn etwas ungeklärt ist.

»Meine Mutter hat niemandem was getan«, sage ich darum. »Die kann auch nichts dafür, dass deine Mutter krank geworden ist und in Reha musste und du jetzt hier bist. Die hat mit euch überhaupt nichts zu tun. Das hatte sie noch nie!«

Josefine tippt.

»Ich find’s außerdem doof, wenn ihr euch streitet und ich alles abkriege.«

Jetzt schielt sie hoch.

»Ich muss mich auch auf meinen Kram konzentrieren können«, sage ich und ziehe die Nase hoch. »Auf Mathe und so.«

Josefine verzieht mitleidig das Gesicht. »Mimimi«, macht sie und da gehe ich doch. Auch wenn nichts aus der Welt geschafft ist. Und zwischen all den Gedanken, die durch meinen Kopf wimmeln, hallt es: Kannst ja mal drüber nachdenken.

Beim Abendessen haben sich alle wieder eingekriegt. Kann sein, dass es an Papas Vortrag über die Windenergieproduktion seiner Firma liegt, durch den sonst niemand zu Wort kommt, oder daran, dass ich mich erfolgreich beschwert hab. Jedenfalls schiebt Josefine einigermaßen friedlich den Kartoffelauflauf in sich hinein, und Mama lächelt schuldbewusst und fragt mich, als Papa endlich mal Luft holt und ein paar Happen isst, nach dem Matheclub.

»War ganz gut«, sage ich. »Der Zerhusen hat Lale und mir den Tangens und Kotangens erklärt.«

»Ach ja!«, ruft Mama. »Da war ja heute das neue Mädchen. Und?«

»Was, und?«

»Ist sie gut?«

»Ja, ziemlich«, gebe ich zu. »Sie ist ganz schön schnell bei den Aufgaben.«

Josefine blickt von ihrem Teller auf und betrachtet mich prüfend. »Und sonst so?«

Ich hab keine Ahnung, was sie von mir hören will.

»Sieht sie gut aus?«, fragt sie nach.

Um ein Haar verschlucke ich mich, nuschele: »Keine Ahnung«, weil, das spielt ja wohl echt keine Rolle, wie Lale aussieht. Obwohl ich sie jetzt natürlich haargenau vor mir sehe mit ihren langen schwarzen Haaren und diesen blitzenden Augen. »Wir bereiten uns zusammen auf die Landesrunde vor«, sage ich ärgerlich.

»Deswegen kann sie ja trotzdem gut aussehen.« Josefine grinst mich an, als hätte sie mich bei etwas ertappt. »Gib’s zu, sie gefällt dir!«

Ich weiß nicht, wo ich hingucken soll.

»Josefine!«, sagt Papa da. »Malte ist zwölf.«

»In zwei Monaten dreizehn.« Meine Halbschwester grinst noch doller.

Im selben Moment klingelt im Flur das Telefon. »Ich gehe«, stoße ich im Aufspringen hervor. Und als ich den Apparat von der Ladestation nehme, sehe ich schon auf dem Display, dass es Kolja ist.

»Na?« Ich laufe die Treppe hoch und verdrücke mich in mein Zimmer. »Was gibt’s?«

Besonders oft telefonieren Kolja und ich nämlich nicht miteinander. Normalerweise schreiben wir uns über WhatsApp, aber auch nur, wenn was los ist. Da ist es schon was Besonderes, dass er einfach so anruft. Und dann auch noch übers Festnetz.

»Ich wollte nur mal hören«, sagt er. »Wir haben nach Mathe ja gar nicht mehr geredet.«

Auch das überrascht mich, aber gut ist es natürlich trotzdem, und ich lasse mich auf mein Bett fallen, erzähle ihm vom Tangens und Kotangens und dass der Zerhusen für Lale und mich in den nächsten Wochen eine Art Crashprogramm durch alle wichtigen Themenfelder durchführen möchte. Damit wir sofort einordnen können, in welche Richtung eine Aufgabe geht.

Kolja fragt ein bisschen nach, aber nicht so, dass man den Eindruck bekommt, das wollte er so dringend wissen, dass er extra noch angerufen hat, und auf einmal haut er raus: »Und deine Schwester? Hat die irgendwas erzählt? Wie sie’s in unserer Schule fand und so?«

Noch während er es sagt, fällt es mir wie Schuppen von den Augen, und ich kralle die Finger der freien Hand ins Kissen. Josefine. Schon wieder. Da ist es auch kein Wunder, dass Kolja mich nicht auf dem Handy angerufen hat, sondern auf dem Festnetz. Womöglich hat er sogar gehofft, sie würde drangehen.

»Soll ich sie dir vielleicht geben?«, kontere ich ziemlich patzig. »Dann kannst du sie selbst fragen.«

»Ey, nee!« Er klingt erschrocken. »Ich kenn sie doch gar nicht.«

»Dafür redest du aber ganz schön viel von ihr.«

Einen Moment schweigen wir, und in demselben Moment wird mir klar, dass Josefine nichts von der Schule erzählt hat. Was natürlich auch daran liegen kann, dass sich keiner danach erkundigt hat, jedenfalls nicht in meiner Anwesenheit.

»Ich weiß auch nix«, murmle ich. »Aber ich glaub, die geht nicht so gern in die Schule.«

»Kannst sie ja mal von mir grüßen«, sagt Kolja. Und setzt nach: »Wenn du magst.«

»Mhm«, mache ich vage.

»Gut, dann … sehen wir uns.«

»Ja«, sage ich, »bis dann«, und warte, dass Kolja als Erster auflegt. Danach kneife ich noch mal fest ins Kissen, drücke die Beenden-Taste und stehe vom Bett auf, um zurück zum Abendessen zu gehen.

Vielleicht sitzt Josefine ja noch am Tisch und ich kann sie nach der Schule fragen. Vorausgesetzt, Papa hat nicht wieder mit seiner Firma angefangen. Aber das mit Koljas Grüßen weiß ich noch nicht. Das muss ich mir erst überlegen.

Wenn man nicht schlafen kann, soll man nicht rumliegen und sich verrückt machen, sondern lieber was tun, bis man richtig müde wird. Darum stehe ich einfach aus dem Bett auf und ziehe die große Legoschublade auf.

Normalerweise baue ich ja nicht mehr Lego, nur ganz selten mal Lego Technic, aber was anderes fällt mir gerade nicht ein, denn zu anspruchsvoll soll das, was man statt des Rumliegens macht, natürlich nicht sein. Wie Matheaufgaben zum Beispiel. Sonst wird man nur noch wacher.

 

Also nehme ich eine Grundplatte und Steine und fang einfach an, ohne Anleitung und ohne zu wissen, was ich überhaupt bauen will. Ist auch egal, schließlich geht es bloß darum, müde zu werden. Und endlich diese Gedanken aus dem Kopf zu kriegen.

Kannst ja mal drüber nachdenken. Na spitze! Es dreht sich dabei alles im Kreis statt dass irgendwas rauskommt, und bescheuerte Gedanken sind es außerdem. Richtige Nachtgedanken.

Ich betrachte die Grundmauer, die ich hochziehe, mit einer Öffnung auf der einen Seite und einer rechteckigen Ausbuchtung auf der anderen, versuche mich ganz aufs Bauen zu konzentrieren, aber irgendwie bringt das nichts. Aus dem Kopf kriege ich gar nichts.

Mama, diese Bitch. Das hat Josefine nicht nur so gesagt, ich meine, wie man eben ein Schimpfwort sagt, wenn man sauer auf jemanden ist. Sie hat das ernst gemeint, im Wortsinn. Aber Mama ist keine Bitch. Mama ist eine verheiratete Frau – im Gegensatz zu Josefines Mutter, mit der auch Papa einfach nur so zusammen war, ohne Hochzeit. Und nur dass das klar ist, diese Melanie war vor Mamas Zeit, das hab ich oft genug zu hören gekriegt. Papa und sie haben sich getrennt, als Josefine klein war, und später hatte Papa dann eben Mama. Das war sein gutes Recht und Mamas sowieso, weil sie nämlich vorher niemanden hatte, sondern allein gelebt hat. Da muss Josefine gar nicht so tun, als wäre sie eine … also so eine.

Ärgerlich drücke ich Stein auf Stein, Stein auf Stein und schiebe den Gedanken mit aller Macht zur Seite. Aber dahin, wo sein Platz frei wird, rückt sofort der nächste.

Die Sache mit Lale. Gibs zu, sie gefällt dir! Haha. Daran erkennt man ja, dass Josefine einfach irgendwelche Dinge daherredet. Als würde ich eine sofort toll finden, nur weil ich mit ihr zusammen Mathe mache. Natürlich sieht sie gut aus, also Lale, aber das heißt ja wohl gar nichts. Viele Leute sehen gut aus und sind nett und schlau und was weiß ich, aber deswegen müssen sie einem noch lange nicht gefallen. Also, auf diese Weise gefallen, die Josefine meint oder Papa, wenn er sagt, dass ich erst zwölf bin, oder vielleicht auch Kolja, wenn er komische Anrufe macht und Josefine grüßen lässt. Außerdem wär ich ja schön blöd, wenn ich ausgerechnet Lale gut fände. Lale, die bei der Landesrunde gegen mich antritt! Das wär genauso bescheuert, wie wenn Kolja meine Halbschwester gefallen würde. Mindestens.

Ich krame in der Schublade und suche nach mehr Steinen, den stinknormalen Achtern und Vierern und Sechzehnern, die noch aus Mamas Kindheit stammen und die sie mir vererbt hat, als ich ein Kleinkind war. Weil das Teil, das ich da baue, nämlich ein Haus wird, ein langweiliges, babyhaftes Haus, genauso eins wie die Häuser, die ich ganz früher gebaut hab, noch bevor ich angefangen hab, mir Star Wars-Modelle und Ninjago zu wünschen und später dann Lego Technic. Und es ist ganz okay, so was Einfaches zu bauen, weil sich meine Finger genau erinnern und ich mich dadurch wieder ein bisschen fühle wie damals, als ich klein war. Aber gleichzeitig ist es auch ganz anders, weil der Rest nicht zu dem Kleinkindgefühl in den Fingern passt. Vor allem diese blöden Nachtgedanken, gegen die auch kein Aufstehen, kein Was-Machen und Auf-die-Müdigkeit-Warten helfen.

Kannst ja mal drüber nachdenken.

Mimimi.

Lale.

Kolja.

Bitch.

Und plötzlich komme ich mir total doof vor mit diesem Babyhaus. Wie peinlich wär das denn, wenn es jemand sehen würde, womöglich Josefine. Und dann in der Schule rumerzählen würde, was ich so mache, wenn ich abends in meinem Zimmer hocke. Eilig reiße ich die Mauern ein und schiebe die Platte in die Schublade zurück. Legobauen ist einfach nichts mehr für mich. Lieber leg ich mich wieder hin und schlaf einfach irgendwann ein, Gedanken hin oder her. Und morgen, da ist es vielleicht anders als in den letzten Tagen. Nicht so wie ganz früher, klar, aber ein kleines bisschen mehr, wie ich es gewöhnt bin. Das wär echt gut. Denn Gewohnheiten mag ich. Gewohnheiten sind wie Mathematik. Beide funktionieren immer, immer gleich.

Eine Doppelstunde Deutsch zu haben, ist schon mal die eine Sache. Eine Doppelstunde Deutsch zu haben, wenn man zu wenig geschlafen hat, noch eine andere. Vor allem, wenn es draußen gar nicht richtig hell werden will, weil die ganze Welt in einen fiesen Nieselregen gehüllt ist. Und wenn die Ullrich dann auch noch über Gedichte redet, genauer gesagt über eins mit dem Titel »Zirkuskind«, von einer Frau, die Rose Ausländer heißt und schon tot ist, und wenn das Gedicht dann gar nicht von einem echten Zirkuskind handelt, sondern irgendwie von der Frau selbst und ihrer Fantasie.

Gedichte. Damit kann ich einfach nichts anfangen. Geschichten sind ja okay, da gibt es echt ganz spannende. Früher, als Mama mir noch welche vorgelesen hat, fand ich das immer gut, besonders, wenn darin spezielle Technologien eine Rolle spielten oder Schiffsreisen oder das Weltall. Manchmal lese ich noch immer Bücher, wenn auch nicht unbedingt dieselben wie im Deutschunterricht. Nur, worauf ich gerade Lust hab. Aber Gedichte, die mag ich nicht. Die sind irgendwie so schwurbelig, vor allem, wenn sie keine feste Form haben, sondern einfach nur aus merkwürdigen Sätzen bestehen. Im schlimmsten Fall sind es nicht mal richtige Sätze, jedenfalls keine logischen, sondern Bilder, wie die Ullrich es nennt. Dann weiß man erst recht nicht, was die sollen. Wenn ich Gedichte schreiben würde, würden sie sich wenigstens reimen, und die Zeilen müssten jeweils eine bestimmte Anzahl von Silben haben, damit alles aufgeht, aber natürlich schreibe ich keine, und ich hab auch keine Lust, über welche zu reden.

»Malte, du siehst skeptisch aus«, spricht die Ullrich mich jetzt auch noch an, und sofort guckt die ganze Klasse zu meinem Platz rüber. »Welche Einwände hast du gegen das ›Zirkuskind‹?«

»Ach, gar keine«, murmle ich, aber jetzt beißt die Ullrich sich fest.

»Na, sag schon!«

Ich zucke die Achseln. »Weiß nicht. Ich kapier das einfach nicht so richtig.«

»Dann lies das Gedicht doch bitte noch mal laut.«

Auch das mag ich nicht. Laut vorlesen. Aber jetzt muss ich wohl oder übel ran. Also nehme ich das Blatt, auf dem in der Mitte der Text winzig klein fotokopiert ist, und überfliege sicherheitshalber vorab die Zeilen.

»Ich bin ein Zirkuskind«, fange ich dann an.

Die Ullrich lächelt mir zu.

»spiele mit Einfällen

Bälle auf – ab

Ich geh auf dem Seil

über die Arena

der Erde

reite auf einem Flügelpferd

über ein Mohnfeld

wo der Traum wächst

Werfe dir Traumbälle zu

Fang sie auf«

»Gut«, sagt die Ullrich. »Traumbälle. Was ist denn damit wohl gemeint?« Sie guckt immer noch mich an.

Wieder zucke ich die Achseln. »Dass sich jemand was vorstellen soll?«

»Aha!«, sagt sie, als hätte ich ihr wer weiß was offenbart. »Wer soll sich denn was vorstellen?«

Ich blicke wieder auf die mikroskopischen Zeilen. »Die Person, der die Traumbälle zugespielt werden.«


»Genau. Und wer ist das?«

Mein Mund wird trocken. Ich versuche vergeblich zu schlucken. Halte mich mit den Augen am Zettel fest.

Werfe dir Traumbälle zu.

Weiterlesen.

Fang sie auf.

»Wer soll sich was vorstellen und von Einfällen berühren lassen?«, hakt die Ullrich nach.

Ich sammle Spucke im Mund zusammen. Viel ist es nicht. »Der Leser?«, frage ich leise. »Den Rose Ausländer anspricht? In ihren Gedichten?«

»Genau«, sagt sie glücklich. »Ein Gedicht ist immer eine Art Zwiegespräch.« Und nun lässt sie mich endlich in Ruhe.

Neben mir stößt Mats mich mit dem Ellbogen an. Grinst und flüstert: »Voll der Deutschprofi heute.«

Statt zu antworten, gucke ich mit schweren Augen raus in das Februargrau. Kurz versuche ich, mir ein Flügelpferd vorzustellen, das über ein Feld galoppiert, auf dem ein Traum wächst. Aber es funktioniert nicht. Da sind nur der Schulhof mit den Tischtennisplatten, der verhangene Himmel und ein Stück vom Seitentrakt mit den Fachräumen, wo wir Physik und Bio und Matheclub haben.

Ich bin eben keiner, der Traumbälle auffängt. Beziehungsweise was mit Gedichten anfangen kann.

Als die Pause beginnt, nieselt es noch immer, und so gut wie die ganze Schule quetscht sich in die Cafeteria. Normalerweise kann man in so einem Gedränge direkt neben jemandem stehen und sieht ihn trotzdem nicht, weil sich immer ein anderer an einem vorbei zur Essensschlange drängelt oder einen wegschiebt oder mit seinem breiten Rücken anschubst, aber Josefine entdecke ich sofort. Durch alle Leute hindurch.

Sie sitzt an einem der Tische und hat den Kopf gelangweilt in die Hände gestützt, als ginge sie der ganze Trubel nichts an. Und das Unheimliche ist: Sie sieht mich auch. Als gäbe es da einen Blicktunnel zwischen uns. Und weil ich gleich merke, das geht jetzt nicht, dass ich einfach weggucke und mich mit Mats und Philipp unterhalte, nicht, wenn sie mich so anschaut, es scheint sie überhaupt nicht zu interessieren, ob es mir peinlich ist oder nicht, sie hier zu treffen. Also nicke ich ihr ergeben zu, sage zu Mats und Philipp: »Komme gleich wieder« und kämpfe mich zu ihr durch.

»Hey!«, begrüßt sie mich. »Was geht?«

»Nichts Besonderes, und bei dir?«

Statt zu antworten, nimmt sie den Kopf aus den Händen, setzt sich ein bisschen auf, mustert mich. »Müde?«

»Ich konnte gestern nicht einschlafen. Und wir hatten gerade Deutsch … Gedichte!«

»Cool«, sagt sie, und es dauert einen Moment, bis mir klar wird, dass sie damit nicht meinen schlechten Schlaf meint.

»Was? Gedichte?«

»Findeste nicht?«

Ich beiße von meinem Käsebrot ab, überlege, ob sie es vielleicht ironisch meint.

»Jedenfalls besser als Sport«, fügt sie hinzu. »Das hab ich jetzt gleich, und es dürfte unter Umständen noch bescheuerter werden als Bio mit dieser scheiß Genetik.«

Nun bin ich einigermaßen verwundert. »Ich dachte, du machst gerne Sport.«

»Ja, aber doch nicht in der Schule!« Es klingt, als hätte ich das eigentlich wissen müssen.

»Ich find Schulsport auch nicht so toll«, beeile ich mich zu sagen, und dabei muss ich plötzlich an Lale und ihren Volleyball denken und frage mich, ob sie im Verein spielt oder AG-mäßig in der IGS.

Josefine unterbricht meine Gedanken. »Aber wenn ich’s mir recht überlege, geh ich eh nicht hin«, sagt sie.

Als ich das höre, stolpert mein Herz. »Wohin gehst du nicht?«

»Zu Sport natürlich.« Mit einem entschiedenen Ruck steht sie vom Tisch auf. »Gibt Wichtigeres im Leben.«

»Aber du kannst noch nicht …!«

»Was kann ich nicht?«, fragt sie eine Spur zu laut.

Ein paar Leute drehen sich nach uns um, und na klar, Kolja ist auch dabei. Der taucht jetzt wohl immer haargenau dort auf, wo Josefine ist. Vielleicht hat er uns sogar schon länger zugehört, ohne auf sich aufmerksam zu machen.

»Hallo«, sagt er, als unsere Blicke sich treffen. Er sagt es deutlich genug, dass auch Josefine es hören müsste.

Doch die achtet genauso wenig auf ihn wie auf alle anderen in der Cafeteria. Sie schnappt sich nur ihren Rucksack, zieht die Kapuze ihres Hoodies über und wuschelt mir durch die Haare. »Tschüss, Kleiner«, sagt sie, und ehe ich noch was erwidern kann, schiebt sie sich durch die Massen, die ihr erstaunlich gehorsam Platz machen, davon.

»Was hatte die denn?«, fragt Kolja und guckt ihr verdattert nach, so lange noch was von ihr zu sehen ist.

»Keine Ahnung.« Ich denke daran, wie sie zuerst dasaß, den Kopf schwer in die Hände gestützt. »Schlechte Laune?«

»Phhhh«, macht er. »Scheint mir auch so. Ist irgendwas passiert?«

Eigentlich will ich echt nicht weiter mit ihm über Josefine reden, aber dann kommt mir was in den Sinn, etwas, das schon die ganze Zeit ungehört in meinen Ohren nachhallt. »Was bespricht man in der Zehnten eigentlich in Genetik? DNA und so was?«

 

Er kratzt sich am Hinterkopf. »Also, wir haben da gerade erst mit angefangen … mit dominanter und rezessiver Vererbung. Und wie die sich auswirkt, zum Beispiel bei roten Haaren oder bestimmten Krankheiten.«

»Mhm«, mache ich. »Was denn für Krankheiten?«

»Weiß nicht mehr, verschiedene. Wieso fragst du?«

Ich schiele zu ihm hoch. Er hat es nicht kapiert. Obwohl er sich so für meine Halbschwester interessiert, hat er nicht verstanden, dass ich wegen ihr gefragt hab. Weil es nämlich bestimmt keinen Spaß macht, über Erbkrankheiten zu sprechen, wenn die eigene Mutter gerade Krebs hatte. Auch wenn das natürlich keine Entschuldigung für den Sportunterricht ist.

»Nur so«, antworte ich und Koljas Gesicht sieht noch verdatterter aus als vorher. Dann scheint ihm ein Gedanke zu kommen, aber im selben Moment zupft mich jemand von hinten an der Jacke, und als ich nachsehe, stehen da Mats und Philipp.

»Wir gehen doch mal kurz raus, kommst du mit?«, fragt Philipp.

»Okay«, sage ich. Und diesmal bin ich es, der Kolja einfach stehenlässt. Nicht umgekehrt.

In der fünften und sechsten fällt Geschichte aus und wir dürfen in den PC-Raum. Offiziell sollen wir was recherchieren, zu den Pyramiden in Ägypten, weil wir eigentlich gerade frühe Hochkulturen durchnehmen, aber die Vertretungslehrerin guckt gar nicht, ob wir das auch wirklich machen, sondern blättert in ihren Unterlagen, und jeder googelt irgendwas rum – außer unserem guten Rafael wahrscheinlich, der macht ja immer haargenau das, was ihm die Lehrer sagen.

Philipp am PC rechts neben mir hat sogar eine Spieleseite geöffnet und Valeria links ist auf Instagram unterwegs.

Ich für meinen Teil lese zuerst ein paar Sachen über Brustkrebs nach, Warnzeichen, Risikofaktoren, Behandlungsmöglichkeiten und so weiter. Aber obwohl man mit Artikeln zu dem Thema fast erschlagen wird, ist da vieles nicht so eindeutig, und erst, als ich »Brustkrebs« plus »Vererbung« eingebe, wird es ein bisschen interessanter. Allerdings auch ganz schön kompliziert, und außerdem ist so ein Krankheitszeugs ja ziemlich deprimierend, darum hab ich bald keine Lust mehr.

Sicherheitshalber rufe ich als nächstes die Wikipedia-Seite mit der Liste der ägyptischen Pyramiden auf, irgendwas muss man ja vorweisen können, dann öffne ich einen neuen Tab und gehe auf eine Matheseite, die ich gut finde. Weil es da für fast alles, was man wissen möchte, Tutorials gibt, und dann kann man noch verschiedene Übungen machen und sich Tipps geben lassen, wenn man welche braucht, und die Lösungen kann man sich auch durchlesen. Als ich ins Trigonometriekapitel gehe, entdecke ich auch gleich Aufgaben zum Tangens und Kotangens und rufe eine auf. Aber dann muss ich an Lale denken und mir fällt was Besseres ein.

»Lale Erdem« tippe ich, und davon, verrät mir Google, gibt es leider so einige, sowohl auf deutschen als auch auf türkischen Seiten. Erst als ich auch noch den Namen der IGS dazuschreibe, lande ich bei der richtigen Lale. Mit der Volleyball-AG ihrer Schule nach irgendeinem Spiel. Und als ich mich weiter durch die Fotogalerie auf der Homepage klicke, finde ich sie auch auf einem Foto vom Schulchor. Und dann noch auf einem vom Schulfest, aber nur im Hintergrund. Und jedes Mal, wenn ich sie zwischen den ganzen Unbekannten auf den Bildern erkenne, durchfährt mich so ein kleines Zucken, ein bisschen wie wenn man sich an der Autotür beim Aussteigen einen Stromschlag holt und das halb eklig, halb angenehm ist.

Sehr viel unangenehmer fühlt es sich allerdings an, als plötzlich die Vertretungsfrau dicht hinter mir steht und laut in die Klassenrunde fragt, was unsere Recherche macht. Als ich über die Schulter schiele, landet ihr Blick auch noch auf meinem Gesicht.

Schnell klicke ich den IGS-Tab weg und bin heilfroh, als wieder die Pyramidenseite auf dem Bildschirm sichtbar wird. Aber trotzdem. Wer weiß, ob sie was gesehen hat, auch wenn ihr Blick wahrscheinlich nur kurz an mir vorbeigeschweift ist. Oder Philipp oder Valeria. Auf einmal hab ich das Gefühl, die ganze Klasse weiß, dass ich ein Mädchen gegoogelt hab, und ich merk schon, wie ich sauer werde, auf Lale und mich selbst und alle anderen, doch keiner sagt was oder tuschelt und zu mir gucken tut auch keiner.

Stattdessen gucken sie zu der Vertretungslehrerin, und die verkündet, wir sollen unsere Blöcke auspacken und in Stichpunkten unsere Ergebnisse notieren. Und diesmal mache ich, was sie sagt, genau wie unser guter Rafael, und die anderen machen es auch.

Nur denken muss ich noch ein bisschen an Lale und wie sie auf diesen Fotos aussah, strahlend und einfach nur … da, und die Krebssache geht mir auch wieder durch den Kopf. Immerhin kann ich Josefine bei Gelegenheit sagen, dass sie sich keine Sorgen machen muss. Dass Brustkrebs dominant vererbt wird, ist nämlich die absolute Ausnahme. In den allermeisten Fällen kommt er einfach so, und kein Mensch weiß, warum.

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