Nachtgeschwister

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Erschöpft und unrasiert kam Paul durch die Sperre auf dem Flughafen. Er war viel zu leicht gekleidet für die deutsche Jahreszeit, mit seinem großen Überseerucksack, verbrannt von der afrikanischen Sonne, mit seinem ausgebleichten Haar sah er aus wie ein heimkehrender Seefahrer, der genau wusste, wie sehnsüchtig er zu Hause erwartet worden war.

Die Zeit bis Ende November verbrachten wir gemeinsam in der Fränkischen Schweiz. Zu diesem Termin hatten wir das fadenscheinige, in schneereicher Höhe stehende Häuschen gekündigt, weil wir es nicht noch einmal durch den Winter bringen wollten. Als wir es verließen, war es der endgültige Abschied von Jakob Stumm für mich. Ich ließ ihn für immer zurück in dem Haus in den Kirschbäumen, die jetzt kahl und tropfend im Nebel standen.

Über Weihnachten und Neujahr fuhren wir zu Pauls Eltern, die in einer kleinen Hafenstadt an der Nordsee wohnten. Pauls Vater war Hafenarbeiter, der »min Deern« zu mir sagte, die Mutter eine immer etwas verwirrte, verdutzte Frau, die in einem epischen plattdeutschen Singsang sprach. Paul lebte seit Langem in einer anderen Welt, die seine Eltern nicht verstanden, auch von mir wussten sie fast nichts, aber ich galt ihnen seit Langem als Schwiegertochter. In der Küche, wo der weihnachtliche Gänsebraten im Rohr brutzelte, stand auf der Fensterbank ein Käfig mit einem Kanarienvogel, der, auf einer Schaukel sitzend, sich selbst in einem Spiegel anpickte und unermüdlich Pauls und meinen Namen krächzte, wie Pauls Mutter es ihm beigebracht hatte. Wir gingen im schneidenden Nordseewind auf dem Deich oder im Watt spazieren, die ganze Nacht hörte ich im Schlaf das entfernte Tuten der Nebelhörner. Auf der Rückfahrt machten wir Station bei Freunden und verbrachten Silvester und noch ein paar weitere Tage mit ihnen in dem eingeschneiten Dorf, in dem sie mit ihren zwei Kindern, einem Hund, zwei Schafen, einem Pferd und einem Pfau wohnten, der, Räder schlagend, draußen im Schnee herumstolzierte. Am fünften Januar kamen wir spätabends wieder zu Hause an, erschöpft von der langen, staureichen Fahrt bei starkem Schneefall. In der Post, die unsere Nachbarn für uns gesammelt hatten, fand ich einen Brief mit einer mir unbekannten Briefmarke. Auf der Rückseite des dünnen, blaugrauen Kuverts stand in Maschinenschrift die mir bekannte Leipziger Adresse von Jakob Stumm.

Den Anfang meiner Straße markiert eine rote Backsteinkirche, die stumm an der Ecke steht. Seit ich hier wohne, ist sie geschlossen. Ein anmutiger, verrußter Engel auf dem Portal kehrt der schmalen, baumlosen Straße den geflügelten Rücken.

Ich kaufe schnell noch etwas in dem kleinen Laden ein, der auf dem Weg liegt und das frische Obst und Gemüse, das in Kisten draußen vor der Tür steht, mit einer Kunststoffplane vor der undefinierbaren, dichten Feuchtigkeit schützt, die der Himmel ständig absondert wie ein mit Schmutzwasser getränkter Schwamm. Wohnzimmerlädchen wie dieses schießen wie Pilze aus dem Boden und verschwinden genauso schnell wieder, Eintagsfliegen, Kehricht auf dem Weg der von allen Seiten anrückenden Baumaschinen, die Platz schaffen für die neuen Feinkostläden und Boutiquen, für die Supermärkte und Einkaufszentren.

In dem Haus, in dem ich wohne, hat vor Kurzem ein Café eröffnet, das »Briefe an Felice« heißt. Gemeint ist Felice Bauer, der Franz Kafka in den Jahren von 1913 bis 1917 über fünfhundert Briefe an diese Adresse geschrieben hat, eine Adresse, die jetzt meine ist. Ich weiß nicht, ob es zwischen den Schriftstellern Jakob Stumm und Franz Kafka eine Parallele gibt, wie Kritiker oft behaupten, offenbar deshalb, weil auch Jakob in seinen Büchern viel über anonyme Mächte schreibt, über eine namenlose, mystische Schuld, aber ich sehe eine deutliche Parallele zwischen Felice Bauer und mir. Auch ich bin eine Frau, die in den Augen eines Mannes am Eingang zur Welt steht und ein Eintrittsgeld verlangt, das er nicht bezahlen kann. Auch ich bin das Unmögliche für einen Mann, Gottes Idee von der Frau, die zu seiner Verhinderung als Schriftsteller erschaffen wurde, als Widersacherin seiner Literatur. Und auf meiner Flucht vor dieser Rolle bin ich ausgerechnet hier gelandet, im einstigen Haus von Felice Bauer, so, als sei es völlig gleichgültig, wohin ich laufe, weil es für mich kein Entrinnen gibt, weil ich mich am Ende doch wieder in meiner Geschichte mit Jakob verfange.

Ich stemme die schwere Haustür neben dem Café auf und bin in dem engen dunklen Innenhof, in den sich nie ein Sonnenstrahl verirrt. Wie überall, so renovieren die Leute auch hier ihre Wohnungen, neben den Mülltonnen türmen sich ausgerissene Teppichbeläge, alte Sanitärteile, zerbrochene Möbelstücke, eine Ratte schnuppert vorsichtig an einer verschimmelten Matratze. Der Putz an den schmucklosen Rückseiten der Häuser sieht aus wie schorfige, zerplatzte Haut, die in weißgrauen, kalkigen Schuppen abblättert und zu Boden fällt. Vor mir eines der Bilder, die für meine westdeutschen Augen immer noch erstaunlich sind. Im Rahmen eines geöffneten Fensters hat sich eine junge Frau niedergelassen, eingehüllt in einen großen, unförmigen Mantel sitzt sie mit angezogenen Beinen auf der Fensterbank, mit einem Buch auf den Knien, und liest. Mitten im Winter sitzt sie in diesem geöffneten Fenster und liest, das kalte Nieseln der Luft scheint sie gar nicht zu bemerken. Sie sitzt dort mit ihrem Buch und liest völlig unverdrossen, ihr Anblick zaubert das Bild eines fernen südlichen Strands in diesen tristen, winterkalten Hof.

Ich öffne die schmale, niedrige Holztür zum Hinterhaus, durch die man in das Haus einsteigt wie in einen Schrank. Aus dem verrosteten, ramponierten Briefkasten, an dem neben dem Namen der Studentin völlig sinnlos auch mein Name steht, ergießt sich auch heute eine Flut von Werbesendungen. Wochenendreisen nach Paris, Einkaufsfahrten zum sogenannten Polenmarkt, moderne Gasetagenheizungen, Baumarktartikel, Jeans und Lederjacken, Sofortkredite zu horrenden Zinsen für die neuen, leichtgläubigen Mitglieder der Marktwirtschaft. Deren Interesse an der westlichen Kaufmichwelt scheint aber bereits deutlich abgekühlt zu sein, denn die zur Entsorgung bereitgestellte Obstkiste unter den Briefkästen quillt über von den bunt bedruckten Hochglanzblättern. »Und immer wieder wächst das Gras, hoch und wild und grün«, hat jemand mit grüner Farbe an die Wand neben den Briefkästen geschrieben, auf die verblichenen Reste eines nur noch ahnbaren Musters, das vielleicht einmal hellblau war und irgendwann wahrscheinlich mit einer Gummiwalze aufgerollt wurde. Jetzt sieht dieses Muster aus wie eine schon fast verschwundene urzeitliche Höhlenmalerei, auf die jemand sein Credo gesetzt, der sichtbar bewegten Geschichte der Wand eine neue Schicht aus grünen Pinselstrichen hinzugefügt hat.

Seit der alte Mann aus der Parterrewohnung gestorben ist, steht diese Wohnung leer. In der Tür klafft ein Loch, das offenbar mit einer Axt hineingeschlagen wurde. Als ich eines Tages von der M- in die I-Straße kam, sah ich schon von Weitem das gleißende blaue Licht von Rettungs- und Feuerwehrwagen vor meinem Haus. Im engen Hausflur wimmelte es von Feuerwehrmännern, Sanitätern und Polizisten, die Tür zur Parterrewohnung stand weit geöffnet, und auf dem Teppich vor einem Bett, das auf einer Couch aufgeschlagen war, lag der alte Mann. Er war nur mit einem Unterhemd bekleidet, das sich nach oben, über seine Rippen verschoben hatte, und das gesamte Blut seines schneeweißen Körpers schien sich in seinem aufgerichteten Glied gestaut zu haben, das violettfarben und zum Bersten gespannt von dem bleichen Körper abstand und obszön ins Leere deutete. Allem Anschein nach war der alte Mann gestorben, vielleicht hatte er sich gerade ausgezogen und war umgefallen vor seinem Bett, aber konnte ein Toter eine Erektion haben? Mir schien, dass der unerklärliche Auflauf von Rettungs- und Ordnungskräften etwas mit dieser Erektion zu tun hatte, mit irgendeiner besonderen, Aufsehen erregenden Todesart des alten Mannes. Oder, so fragte ich mich, starben Männer vielleicht immer so, bäumte ihr Körper sich auf diese Weise noch einmal auf gegen den Tod? War es dem wüstenartigen Zustand meiner Bildung geschuldet, dass ich das nicht wusste? Neben dem Toten stand ein Polizist und schrieb etwas in einen Notizblock. Seine Uniform unterstrich die Nacktheit der Leiche mit dem aufgerichteten, wie im Augenblick vor einer Zeugung für immer erstarrten Glied; meine Augen stießen mit denen des Polizisten zusammen, ich wurde rot und ging schnell weiter.

Offenbar hatte der alte Mann keine Verwandten, durch das Loch in der Tür beobachte ich seit seinem Tod den Verfall seiner Hinterlassenschaft, die niemand abgeholt hat. In der kalten, feuchten Erdgeschosswohnung mit den vergitterten Fenstern frisst der Schimmel allmählich alles auf, was von dem alten Mann in der Welt zurückgeblieben ist. Die Tapeten, die Sessel, die Vorhänge, den Schirm der Stehlampe neben dem Fernseher, der unter der allmählich herabrieselnden Zimmerdecke aussieht wie gepudert. Das aufgeschlagene Bett liegt immer noch auf dem Sofa, das faulige Loch in der Bettdecke ist wie ein Nest, aus dem endlos Bettfedern ausschlüpfen und sich allmählich im ganzen Zimmer ausbreiten, sie kriechen an den rußgeschwärzten Vorhängen hinauf, an den Sesseln, an den Kleidern des Mannes, die immer noch über einem Stuhl hängen, überall sitzen sie und scheinen leise, kaum merklich zu atmen wie kleine haarige Tiere.

Dass die Wohnung in dem neuen, völlig überlaufenen Modestadtteil so lange leersteht, verheißt nichts Gutes. Wahrscheinlich lohnt sich die Neuvermietung nicht mehr, weil bereits die Sanierung des Hauses geplant ist. Man ist froh, wenigstens einen Mieter auf so praktische Weise losgeworden zu sein. Ständig rasen Feuerwehrwagen durch die Straßen, weil in den aufgewühlten Stromnetzen der alten Häuser Kabelbrände ausbrechen, aber gelegentlich soll es sich auch um Brandstiftung handeln. Die neuen Investoren entmieten auf diese Weise Häuser, aus denen die alteingesessenen Mieter nicht freiwillig weichen wollen. Andere Häuser stehen seit langer Zeit leer und verfallen, weil die sogenannten Eigentumsverhältnisse ungeklärt sind. Niemandshäuser, schön anzusehende, halb in Wildwuchs versunkene Ruinen, durch deren eingeschlagene Fenster Elstern hin- und herfliegen. Mein und der Studentin Schicksal in diesem Haus ist jedenfalls ungewiss. Gewiss ist nur, dass wir früher oder später das Feld räumen müssen, samt dem Franz Kafkas Briefen an Felice gewidmeten Café.

 

Ich steige die alte, ächzende Holztreppe hinauf, die mit Einkäufen gefüllte Hinundhertasche zieht an meiner Schulter. Das Treppenhaus, in das ein scharfer, salmiakartiger Geruch aus den Außentoiletten strömt, wird von den Mietern ganz selbstverständlich als Erweiterung des Wohnraumes benutzt. Vor den Türen stehen Schuhe, Kohleneimer, Kisten, Besen, undefinierbares Kleinmobiliar. Die Türen selbst sind Schreibflächen, auf denen Besucher, die niemanden zu Hause antreffen, ihre Nachrichten hinterlassen, entweder mit einem Stift geschrieben oder mit einem scharfen Gegenstand für immer eingeritzt ins Holz, wie die Herzen und Initialen, die Verliebte in Baumrinden schneiden. Jakobs ostdeutsche Lebenswelt, nach der meine Fantasie einst so fieberhaft gefahndet hat. Es ist immer noch unwirklich für mich, dass ich jetzt hier bin, dass ich das alles sehe; auch jetzt, wie einst bei meinen Anrufen in Leipzig, komme ich mir vor wie eine Lauscherin, eine Spionin in einer fremden, in sich geschlossenen Welt, die sich vor mir verbergen will. Ich habe keine Ahnung, was die Leute in diesem Haus über mich denken, was sie denken würden, wenn sie wüssten, dass ich nicht nur eine Westdeutsche, sondern außerdem noch eine Russin bin. Wahrscheinlich verkörpere ich hier alles existierende Übel, die alte und die neue Besatzungsmacht in einer Person.

Mit einem kunstlos fröhlichen Hallo überholt mich die junge Frau, die unter mir wohnt und Roswitha heißt, genannt Rossi, wie mir die an ihre Wohnungstür gekritzelten Nachrichten verraten. »Alle Kinder sind Wessis, nur nicht die Rossi, die is ne Ossi«, lautet eine davon. Ich weiß nicht, was der Schreiber damit sagen wollte, aber offenbar sieht er die Adressatin als letzte, standhafte Mohikanerin der aussterbenden ostdeutschen Spezies, was ebenfalls nicht gerade besagt, dass ich hier willkommen bin. Rossis schwere Schnürstiefel poltern auf der Treppe, der Fahrradrucksack mit den roten Rücklichtern hüpft auf ihren Schultern. Sie strahlt eine mir von westdeutschen Frauen ganz unbekannte Ungebrochenheit aus, eine natürliche Frische, die ich an ostdeutschen Frauen oft beobachte. Sie haben lockere, kunstlose Frisuren, sie bewegen sich weder manierlich noch betont lässig, sondern irgendwie federnd, dynamisch, mit einer selbstbewussten, weder herausfordernden noch sich verhüllenden Erotik. Etwas an ihnen erinnert mich an alte deutsche Volkslieder, an »Abendstille«, »Ännchen von Tharau« und »Im Frühtau zu Berge«.

Hinter der zweiten, gegenüberliegenden Tür auf meiner Etage höre ich Frau Juttka herumscharren, mit ihrem Kanarienvogel sprechen. Außer Jakobs Mutter ist sie meine einzige Bekannte aus dem einstigen DDR-Proletariat und der einzige Mensch im Haus, mit dem ich ab und zu spreche, ein Homunkulus, eine winzige, verwachsene alte Frau mit einem Buckel, der wie eine parasitäre botanische Wucherung auf ihrem rechten Schulterblatt sitzt. Mit der kleinen grünen Tüllschleife, die wie festgewachsen ist auf ihrem Kopf, könnte sie Irma la Douce im Alter sein. Ihr Leben lang hat sie als Wäscherin gearbeitet, nach der Wende hat man sie in Rente geschickt. Ein paar Straßen weiter sieht man hinter verschmierten Scheiben die leeren, verwüsteten Räume der ehemaligen Rewatex-Wäscherei, in der sie zuletzt gearbeitet hat. Früher, sagt sie, hat man zusammengehalten, jetzt geht jeder seiner eigenen Wege. Früher war sie beliebt bei den Männern, sie gingen bei ihr ein und aus, erzählt sie. Der Hitler hat ma sterilisiert wegen mein Buckel, erklärt sie immer wieder mit einem gewissen Stolz, als hätte Hitler den Eingriff an ihr höchstpersönlich vorgenommen und als sei das eine besondere Ehre für sie gewesen, für die der Buckel sich fast gelohnt hat. Die Männer haben Spaß jehabt mit mir, fügt sie sachlich hinzu, bei mir konnte ja nüscht mehr passieren, det wusste jeder. Zweimal, so erzählt sie, war sie verheiratet, der erste Mann ist im Krieg geblieben, der zweite hat sich totgesoffen. Den Eingriff in ihren Unterleib hat man offenbar nicht besonders sorgfältig durchgeführt, denn seither leidet sie an einem schweren Gebärmuttervorfall, der jetzt, im Alter, so drastisch geworden ist, dass sie ständig Schmerzen hat und einen Teil des Tages im Liegen verbringen muss. Neben Hansi, dem stummen Kanarienvogel, ist der Gefährte ihres Nachwendelebens der Fernseher, der Tag und Nacht läuft, sie schwärmt für den Talkmaster Hans Meiser und leistet sich von ihrer Wäscherinnenrente eine Schachtel Mon Cherie pro Woche. Die Westdeutschen, die in ihre Welt eingedrungen sind, kann sie nicht leiden, sie schimpft sie Ausländer und Jesindel. Ich weiß nicht, ob sie mit mir eine Ausnahme macht oder ob sie mich für eine Inländerin hält, aber mich nennt sie liebevoll »meine Kleene«.

Ich nestle den Schlüsselbund aus meiner Hinundhertasche und schließe die Tür zur Wohnung der Studentin auf. Ich habe kein Glück mit dieser Wohnung. Ein paar Tage nach der Abreise der Studentin, nachdem ich mit meinem Stehpult, meinem Computer und einer Kiste mit russischen Wörterbüchern eingezogen war, wurde ich morgens von durchdringenden metallischen Schlägen geweckt. Ich war gerade erst eingeschlafen, sprang wieder aus dem Bett, lief ans Fenster und erstarrte. Am Nachbarhaus wurde ein Baugerüst aufgestellt. Damit hätte ich rechnen müssen, die ganze Gegend ist eine einzige Baustelle, aber diesmal hatte mich mein schon lebenslanges Baustellenschicksal so prompt und mit einer so hanebüchenen Konsequenz ereilt, wie ich es noch nie erlebt hatte.

Nachts arbeitete ich, am Tag war es unmöglich, gegen Morgen schlief ich ein paar Stunden, dann, wenn der Donner der Presslufthämmer einsetzte, floh ich aus der Wohnung und trieb mich stundenlang in den kalten, windigen Straßen herum, ich setzte mich in Cafés und trank drei Espressi hintereinander, um nicht im Sitzen einzuschlafen, oder ich ging in der Wohnung der Studentin auf und ab und hatte das Gefühl, verrückt zu werden. Ich wurde hinausgetrieben aus der letzten Ritze, die ich noch für mich hatte finden können, ich wurde, so schien mir, endgültig hinausgetrieben aus der Welt. Irgendwo hatte ich einmal gelesen, dass im alten China Kriminelle, die sich eines besonders schweren Verbrechens schuldig gemacht hatten, durch Lärm hingerichtet wurden. Der Verurteilte musste sich unter eine große Glocke legen, die anschließend von einem Henker geschlagen wurde. Es soll der qualvollste Tod sein, den ein Mensch erleiden kann. So fühlte ich mich in dieser Wohnung, wie unter der chinesischen Hinrichtungsglocke. Die Wände vibrierten, in der Küche fielen die Tassen aus dem Regal, die Lampen schaukelten unter der Decke. Es hätte mich nicht gewundert, wenn die Presslufthämmer plötzlich durch die Wand gekommen wären. Mein individuelles Bauschicksal war an diesem Ort in ein kollektives eingeflossen, endlich fühlte ich mich als Teil der ganzen normalen Welt, aber das war in diesem Fall ein schwacher Trost. Meine Verzweiflung ging so weit, dass ich an die langen spitzen Rouladenspieße dachte, die mir in einer Küchenschublade der Studentin aufgefallen waren; ich stellte mir vor, dass ein ganz kurzer, winziger Stich ins Trommelfell genügt hätte, und die chinesische Glocke wäre schlagartig und für immer verstummt. Immer war ich der Meinung, dass die Welt ohne Musik unerträglich wäre, jetzt fragte ich mich zum ersten Mal, ob es nicht erträglicher gewesen wäre, auf die Musik zu verzichten, als ständig den ganzen akustischen Rest der heutigen Welt mithören zu müssen.

Eines Morgens, ich hatte seit zwei Wochen kaum noch geschlafen, gab ich auf. Ich floh vor den Presslufthämmern in mein Bett in die M-Straße, und so ist es seither geblieben. Nachts, wenn es ruhig ist, arbeite ich in der I-Straße, gegen Morgen, bevor der Lärm einsetzt, gehe ich zum Schlafen hinüber in die M-Straße. So ist es gekommen, dass ich zwei Wohnungen habe und überhaupt keine mehr. Aus der einen fliehe ich vor Jakob, aus der anderen vor dem Lärm.

Ich stelle meine Hinundhertasche mit den Einkäufen ab, hänge meine Jacke an die Garderobe und gehe ins Bad. Es liegt hinter dem Schlafzimmer der Studentin, einem Kämmerchen mit einem alten Kleiderschrank und einer Liege, über der, wie oft auch in russischen Wohnungen, ein Wandteppich hängt. Auf der Liege steht ein blaues Tastentelefon, das für mich genauso überflüssig ist wie der Briefkasten, weil mich hier niemand anruft. Drei oder vier Mal hat das Telefon geläutet und jemand wollte die Studentin sprechen; einmal war es ein Mann, der mich hoffnungsvoll mit Birgit ansprach und völlig niedergeschmettert zu sein schien, als er von mir erfuhr, dass die Studentin für ein Jahr nach Australien gegangen ist. Ich unterhielt mich eine Weile mit ihm, ich stellte mir vor, er würde sein Interesse für die Studentin auf mich übertragen, ein schöner junger Mann, wenigstens ein einziger, für den ich das bedeuten würde, was Jakob für so viele Frauen bedeutet. Aber natürlich wurde nichts daraus, das Einzige, was den Anrufer an mir interessierte, war mein potenzielles Wissen über die Studentin, die ihn offenbar ohne jede Nachricht über ihren Verbleib zurückgelassen hatte.

Ich ziehe die Kleider, die ich vor einer halben Stunde angezogen habe, wieder aus, stelle mich in die neue Acrylwanne und drehe die Dusche auf. Das Bad ist mit einer Rigipswand von der Küche abgeteilt, eine der typischen Nachwendelösungen in den alten badlosen Wohnungen. Ich lasse mich von dem warmen, leicht faulig riechenden Wasser aus dem Duschkopf berieseln, bei dem ich zwischen fünf Strahlenarten wählen kann, von tropischem Wolkenbruch bis zu englischem Nieselregen. Alles entspricht in diesem Bad modernstem Standard, nur das alte Abflussrohr widersetzt sich hartnäckig der neuen westlichen Technik, die man dem morschen Organismus des Hauses gewaltsam eingepflanzt hat. Ich scheue kaum noch ökologische Todsünden bei der Dosierung von Rohrreinigern, die ich in dem neuen Drogeriemarkt an der Ecke kaufe und in den Abfluss kippe, aber sie sind völlig wirkungslos, gemacht für westdeutsche, nicht für ostdeutsche Verstopfungen. Genauso gut könnte man versuchen, einen Darmverschluss mit einem Lutschbonbon zu bekämpfen.

Ich trockne mich ab, putze mir die Zähne, kämme mein nasses Haar aus, creme mich ein und ziehe mich wieder an. Dann gehe ich hinüber in die Küche, die über die Hälfte ihres Raumes samt Fenster ans Bad abtreten musste und jetzt nur noch ein kleines dunkles Kämmerchen ist. Für einen Tisch und Stühle hat der Platz nicht mehr gereicht, es gibt nur eine schmale Esstheke und zwei Barhocker mit schwarzen Lederpolstern. Der junge Nachwendehaushalt ist mit einer Vielzahl von Küchengerät ausgestattet, das ich selbst nie besessen habe. Neben einem Eiscrusher, einem Eierkocher, einem elektrischen Dosenöffner stoße ich immer wieder auf Gegenstände, die ich noch nie gesehen habe und deren Bestimmung mir im Dunkeln bleibt. Die Studentin hat sich in ein paar Jahren mehr Westen angeeignet als ich mir in meinem ganzen Leben.

Während der Wasserkessel auf der unregelmäßigen, laut fauchenden Gasflamme steht, esse ich im Stehen ein Käsebrot und einen Apfel. Das Teetrinken hat mir Jakob beigebracht. Er ist alles andere als ein Feinschmecker; wenn er allein ist, ernährt er sich nur von Dosenfisch und Leberwurst, wenn er sich überhaupt ernährt, aber auf Tee verzichtet er nie. Seine Begeisterung dafür hat er schon aus der DDR mitgebracht, der Westen ist ein Teeparadies für ihn. Er probiert alle Sorten aus, die man bekommen kann, die Zubereitung ist eine heilige Handlung für ihn. Er weiß genau, welcher Tee mit Milch getrunken wird und welcher ohne, welche Art Zucker zu welcher Sorte passt. Die Kanne Tee steht immer auf einem Stövchen neben ihm auf dem Schreibtisch, das Schreiben scheint für ihn untrennbar mit dem Teetrinken verbunden zu sein.

Ich gehe mit der Kanne und einer großen Tasse hinüber in das Zimmer, in dem ich arbeite. Es ist das Wohn- und Arbeitszimmer der Studentin, das mit Ikeamöbeln und einer alten Kredenz ihrer Großmutter eingerichtet ist. Neben einem der zwei Fenster steht ein desolates Ficusbäumchen auf dem Boden, das in diesem lichtlosen Verlies schon die Hälfte seiner Blätter verloren hat. Draußen ist es inzwischen endgültig dunkel geworden, ich mache kein Licht, sondern stelle mich ans Fenster, nippe am heißen Tee und rauche meine Morgenzigarette. Das Nachbarhaus auf der anderen Seite des Hofs ist so nah, dass man den Bewohnern buchstäblich in die Teller sehen kann. Fast niemand hat hier Vorhänge an den Fenstern, jeder kann jeden bei allen alltäglichen Verrichtungen des Lebens beobachten, beim Kochen, beim Essen, beim Duschen und beim Sex. Niemand kümmert sich darum.

 

Ich beobachte, wie ein Mann ein blondes Kind füttert, das in der Küche in einem Kinderstuhl sitzt und gehorsam den Brei schluckt, der ihm in den Mund geschoben wird. In einem anderen Fenster hat eine junge Frau ihren rechten Fuß in die Küchenspüle gestellt und wäscht ihn mit einer anmutigen Verrenkung unter einem Strahl aus dem Wasserhahn. In einem Zimmer mit einem Hochbett im Hintergrund sitzen junge Leute auf dem Fußboden, rauchen und unterhalten sich. Eine der Frauen hat langes neonblaues Haar. Direkt gegenüber ein unwirkliches Bild, wie ein Gemälde: der nackte Körper einer Frau, die bäuchlings auf dem Boden liegt, die Hände verschränkt unter dem Kinn; nur zwei Kerzen brennen im Zimmer, beleuchten die reglose, bronzefarbene Gestalt mit dem dunklen gelockten Haar, das auf dem Boden ausgebreitet ist wie ein riesiger Fächer. Sie liegt einfach so da, reglos, als würde sie für einen Fotografen posieren, der aus einem unsichtbaren Winkel des Zimmers sein Objektiv auf sie richtet. Zwei Fenster weiter die mir schon gut bekannte Leserin. Eine füllige Frau mittleren Alters, die jeden Abend mit Lockenwicklern und Lesebrille in einem Sessel neben einer Schrankwand sitzt und unter einer Stehlampe liest. Ich weiß nicht, was sie liest, die Dicke der Bücher deutet auf irgendwelche alt- oder neumodischen Schmöker hin; aber sie sieht nicht fern, sie liest, regelmäßig und unbeirrbar, jeden Abend mehrere Stunden. Auch sie ist ein Teil der Lesewelt, in der ich mich hier befinde. Nur in Moskau habe ich bisher so viele lesende Menschen gesehen. Die Straßen, durch die ich gehe, sind von Privatbibliotheken gesäumt, überall hinter den Fenstern stehen mit Büchern gefüllte Regale, die Menschen lesen in den Cafés, in Warteschlangen, an den U-Bahn- und Straßenbahnhaltestellen, einmal habe ich sogar einen Mann gesehen, der im Gehen las. Er ging auf der Straße, nicht mit dem Schritt eines Spaziergängers, sondern dem eines Menschen, der zielsicher auf einen bestimmten Ort zustrebt, und dabei hielt er ein aufgeschlagenes Buch in der Hand und las. Er hob die Augen nicht beim Gehen, er schien völlig vertieft zu sein in seine Lektüre, und trotzdem stieß er nirgends an auf seinem Weg, er ging völlig sicher, als sei er mit dem Ortungssystem einer Fledermaus ausgestattet und als sei das Gehen auf der Straße und das gleichzeitige Lesen eine für den Menschen ganz normale Kombination zweier Tätigkeiten. In einer auf Dauerentertainment geschalteten Welt aus Shopaholics und Zwangskonsumenten fühle ich mich hier wie unter Dissidenten, fast wie unter den lebenden Büchern aus Ray Bradburys Roman »Fahrenheit 451«.

Ich drücke die Zigarette im Aschenbecher aus und knipse das Licht an. Über mir das gewohnte Schaben. Frau Juttka, die über alle Vorgänge im Haus Bescheid weiß, sagt, dass der ehemalige Förster, der in der Wohnung über mir wohnt, mit einem Küchenmesser die Ölfarbe von seinen Fußböden abkratzt. Nach der Wende hat man seine Revierförsterei in der Lausitz aufgelöst und ihn nach Berlin geschickt, zu einer »Anpassnahme«, wie Frau Juttka sagt. Sobald er von dieser Anpassnahme, die ihn zum Baumarktverkäufer ausbilden soll, nach Hause kommt, beginnt er zu schaben, Tag für Tag schabt er sich durch die Farbschicht auf seinen Dielen hindurch zum Holz, zu seinem Wald.

Ich zögere den Beginn der auf mich wartenden Arbeit hinaus und stelle den Fernseher an. Es läuft eine Talkshow, eine der vielen, die regelmäßig zu Verhören ausarten, sobald ehemalige DDR-Bürger unter den Gästen sind. Jeder Westdeutsche darf seinem ostdeutschen Landsmann öffentlich die Gesinnungsfrage stellen, das gehört zur politischen Korrektheit; jeder Exbewohner der DDR, der nicht damit aufwarten kann, dass er von der Stasi beschattet wurde, ist verdächtig, ein potenzieller Angeklagter, der dem westdeutschen Rechtsstaat in Gestalt eines x-beliebigen Wichtigtuers und Medienschwätzers seine Unschuld beweisen muss. Niemand stellt den westdeutschen Inquisitoren die Gegenfrage nach deren Moral, nach deren Lebensläufen. Eine völlig verschüchterte ostdeutsche Lehrerin wird ins Kreuzverhör genommen, man unterstellt ihr allein aufgrund ihres Berufs Zusammenarbeit mit der Stasi. Man spricht so mit den Leuten, als hätte die einzige Dauerfrage ihres Lebens darin bestanden, ob sie für oder gegen den Staat waren, darüber hinaus will niemand etwas von ihrem Leben in der DDR wissen.

Ich stelle den Fernseher wieder ab und drücke auf den Knopf des Computers. Mein Stehpult ist das einzige Möbelstück in dieser Wohnung, das mir gehört. Der Mann einer Freundin hat es mir vor einigen Jahren wegen meiner Rückenschmerzen gebaut. Zu dieser Zeit war ich bereits so aufgeschmissen in meinem Leben mit Jakob, dass ich, überwältigt von so viel Aufmerksamkeit und ungewohnter Fürsorge, fast in Tränen ausgebrochen wäre. Seither ist das Stehpult mein ständiger Begleiter. Es passt in den Kofferraum des Autos, und immer, wenn ich für längere Zeit den Ort wechsle, nehme ich es mit, es ist schon fast ein Teil meines Körpers. Früher habe ich meine Schreibmaschine auf das Pult gestellt, aber während Jakob bis heute mit der Hand schreibt und den handschriftlichen Text dann unter lautem Fluchen mit zwei Fingern in seine alte, tonnenschwere DDR-Maschine hackt, habe ich mich irgendwann dem Druck der Norm ergeben und einen Computer angeschafft. Die Kombination zwischen dieser neuen Technik und dem altmodischen Stehpult ist ein wenig unpraktisch. Das Pult ist nicht stabil genug für den schweren Monitor, dieser steht links neben mir auf dem kleinen Schreibtisch der Studentin, getragen von einer Bücherkiste, die ihn auf meine Augenhöhe hebt. Das Pult selbst muss nur die Tastatur tragen und jenes kleine, gewichtslose Utensil, das ein humorvoller Erfinder Maus genannt hat.

Seit ich das Schreiben aufgegeben habe, mache ich Brotarbeit, ich übersetze russische Krimis ins Deutsche. Der Verlag hat mir gleich sechs Bücher in Auftrag gegeben, sodass ich bei meinen geringfügigen Ausgaben vorübergehend genug verdiene, um leben zu können. Meine Ernährerin ist eine äußerst produktive russische Autorin, die ich noch nie getroffen, nur einmal im Fernsehen gesehen habe, auf einem großen, aus Plüsch und Seide bestehenden Bett, auf dem sie mit ihrem rosa gefärbten Pudel im Arm saß und über Schuld und Sühne philosophierte. Auf den mit Goldlettern bedruckten Bucheinbänden sind mondäne Frauenleichen in leichter Bekleidung zu sehen, chromblinkende Luxusautos, sympathisch wirkende Mafiabosse und Auftragskiller mit Sonnenbrillen. Meine Arbeit besteht weitgehend darin, mir den Kopf über das Newspeak der postsozialistischen russischen Gesellschaft zu zerbrechen und es im Deutschen zu reproduzieren, Übersetzungen für Wörter zu finden, die in keinem Wörterbuch stehen, da sie einer flüchtigen, absurden Übergangssprache angehören.

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