Nachtgeschwister

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Als vor einigen Jahren mein erstes Buch erschienen war, hatten sich mir plötzlich Türen geöffnet, die von da aus, wo ich herkam, gar nicht als Türen vorstellbar waren. In meiner Kindheit hatte man mir den Eintritt ins deutsche Schwimmbad verweigert, weil man fürchtete, ich würde es verseuchen mit meinem russischen Schmutz, jetzt wurde ich ins Allerheiligste der deutschen Literatur gerufen. Rezensionen in allen großen Zeitungen, Interviews, Einladungen zu Lesungen, Literaturpreise. Alles das kam mir vor wie die Vorbereitung meiner endgültigen Hinrichtung. Wenn es noch eine Steigerung meiner Außenweltphobie gab, dann hatte sie jetzt ihren Höhepunkt erreicht. Hätte eine gute Fee mir einen Wunsch freigestellt, hätte ich mir gewünscht, mich mit einem Knopfdruck unsichtbar machen zu können, zu verschwinden aus all den Blicken, die jetzt auf mich gerichtet waren und die im nächsten Augenblick entdecken mussten, dass ich ein Fehler im System war, ein Kuckucksei, die Braut mit Blut im Schuh.

Ich wartete auf Antwort von Jakob Stumm. Um nicht ganz allein zu sein, hatte ich nach Pauls Abreise meinen Nachbarn, ebenfalls Städtern, die sich hier ein altes Bauernhaus gekauft hatten, eines der kleinen Kätzchen abgenommen, das in einer ausrangierten Scheune im Ort geboren war. Es hatte Angst vor mir, es ließ sich nicht anfassen, verkroch sich stundenlang in dem engen dunklen Spalt hinter dem Badeofen oder schoss in Anfällen haltloser Tollheit durch die Zimmer. Es stieß Blumentöpfe von der Fensterbank, kratzte die Tapeten von der Wand und dachte nicht daran, die Katzentoilette zu benutzen. Täglich fügte es meinen von seinen Krallen und Zähnen gemusterten Armen und Beinen neue blutige Spuren hinzu. Das Einzige, was das kleine Monstrum zu besänftigen vermochte, war ausgerechnet meine Schreibmaschine. Sobald ich zu tippen anfing, sprang es auf den Schreibtisch, ließ sich vertrauensvoll neben der Maschine nieder und folgte fasziniert, mit fast hypnotischer Aufmerksamkeit der Bewegung des Wagens; ab und zu tippte die grau melierte Pfote prüfend auf das eingespannte Blatt Papier.

Ich schrieb im wahrsten Sinn des Wortes für die Katz. Das, was mich früher vor dem endgültigen Ertrinken in meiner Angst gerettet hatte, war jetzt nur noch Qual, nur noch Selbstverhinderung. Die Worte hatten ihre Magie verloren, im Licht der Öffentlichkeit war ihr Glanz für mich sofort erloschen; ich sah in der Beschäftigung des Schreibens nur noch mein Scheitern am Leben, nur noch einen Käfig aus Buchstaben, in den ich mich ständig selbst einschloss.

Immer wieder trug ich in Gedanken das Wenige zusammen, was ich von Jakob Stumms Welt kannte. Zu den Schätzen meiner Transitstrecken- und Raststätten-DDR gehörten das Wort Autofahrerbier, das ich einmal auf einer Fahrt nach Westberlin aufgeschnappt hatte, der dünne Bohnenkaffee, bei dessen Bestellung man für Milch und Zucker extra bezahlen musste, ein junges Paar mit nagelneuen Eheringen an den Fingern, das in einer Raststätte saß wie in einem Nobelrestaurant und mit schweigender Andacht Schwarzwälder Kirschtorte verzehrte, ein kleiner Junge, der an einer Imbissbude »Kaugummi, der klebt« verlangt hatte, woraus ich schloss, dass es in der DDR mindestens zwei Sorten Kaugummi gab, einen, der klebte, und einen, der nicht klebte. Einmal hatten wir gesehen, wie ein Betrunkener im besseren Teil einer Raststätte, wo wir und andere Westdeutsche Wildgulasch mit Nudeln für zwei Mark achtzig aßen, von zwei Kellnern dezent, aber mit unmissverständlicher Bestimmtheit aufgefordert wurde, das Lokal zu verlassen, worauf der Mann sofort gehorsam aufstand und wankend davonging. Ich erinnerte mich an Devisenläden mit dichten Vorhängen an den Schaufensterscheiben, an verwitterte, nie besetzte Zeitungskioske, hinter deren schmutzblinden Scheiben verblichene Zeitschriften ausgestellt waren. Ich erinnerte mich genau, dass eine davon »Der Funkamateur« hieß.

Oft gingen meine Gedanken zu einem Traum, den ich einmal geträumt hatte. Ich fuhr in der Abendsonne mit dem Auto auf einer kleinen, hügeligen Asphaltstraße durch Wiesen und Felder, ich wusste, dass ich im anderen Deutschland war, aber zugleich war es auch Russland. Das Deutsche und das Russische, das in mir selbst immer ein antipodischer Gegensatz geblieben war, waren ineinander übergegangen, waren eine Einheit geworden. Kein Auto kam mir entgegen, während ich fuhr, mein eigenes war das einzige weit und breit, ich war allein, zum ersten Mal in meinem Leben eins mit mir selbst und glücklich in einer Stille, die es im rasenden Tempo der westlichen Konsumwelt nicht mehr gab.

Ein einziges Mal, vor sehr langer Zeit, war ich in Ostberlin gewesen. Es musste etwa 1966 gewesen sein, ich hatte vor kurzem den deutschen Mann geheiratet und war von einem passlosen, staatenlosen Wesen zu einer deutschen Staatsbürgerin geworden. Nun überschritt ich, ausgestattet mit einer Tagesaufenthaltsgenehmigung, ängstlich festgeklammert am Arm meines deutschen Ehemannes, zum ersten Mal in meinem Leben die Grenze zu dem Teil der Welt, aus dem meine Eltern kamen. Mein Mann hatte mir das Wochenende in Berlin zum Geburtstag geschenkt, und zum Sightseeingprogramm gehörte natürlich auch ein Besuch im Ostteil der Stadt. Wir gingen durch die dunkle, eisige Schlucht des fast menschenleeren Alexanderplatzes, über den nur ab und zu ein Auto fuhr, mit schwachen Scheinwerfern hineinleuchtend in die Welt des Kommunismus, wo man seit jeher auf mich wartete, um an mir Rache zu nehmen für den Verrat meiner Eltern, die, anstatt den Heldentod fürs Vaterland zu sterben, für die Rüstungsindustrie des deutschen Kriegsfeindes gearbeitet hatten. Der eisige Wind, der sich hier zwischen den dunklen Gebäudekolossen herumtrieb, schien mir bereits aus Russland zu kommen, aus dem Totenreich der sibirischen Lager, wo die Schwester meiner Mutter einst für immer verschollen war. Ich war sicher, dass ich in die Falle gegangen war, dass man mich im nächsten Augenblick ergreifen und auch dorthin bringen würde, wo nachts die Wölfe heulten und wo einem das Haar im Schlaf an der Pritsche festfror.

Was ich schließlich sah, verwirrte alle meine Vorstellungen vom Ordnungsgefüge der Welt. Ich wusste genau, dass Menschen, die an Gott glaubten, im Kommunismus verfolgt und umgebracht wurden, dass der Gottesglaube im Kommunismus verboten war, aber wir waren um eine Ecke gebogen und standen plötzlich auf einem Weihnachtsmarkt. Viele weihnachtlich geschmückte Buden waren zu sehen, es wurden Lebkuchen, Glühwein und Rauschgoldengel verkauft, eine elektrische Orgel, die aussah wie eine antike, bunt blinkende Lokomotive, spielte »Oh du fröhliche«. Vor einem Karussell, dessen erleuchtete Gondeln sich in der dunklen Nacht drehten, hatte sich eine lange Warteschlange aufgereiht. Die Menschen standen stumm und starr in der Kälte und warteten, in einer soldatisch korrekten Zweierreihe, niemand sprach, niemand lachte, selbst die eingemummten Kinder an den Händen ihrer Eltern mucksten sich nicht. Einerseits musste das Leben im Kommunismus noch viel schrecklicher sein, als ich es mir immer vorgestellt hatte, wenn die Menschen schier zu erfrieren bereit waren, nur um einmal Karussell fahren zu dürfen, andererseits konnte es sich gar nicht um den Kommunismus handeln, weil hier »Oh du fröhliche« und »Ihr Kinderlein kommet« gespielt wurde. Die sogenannte Ostzone war ein völlig undeutbarer, unbegreiflicher Ort für mich geworden.

Oft fiel mir jetzt Jan ein, der einzige DDR-Bürger, den ich einmal etwas näher kennengelernt hatte. Er hatte als Anhalter auf einer leeren, staubigen Straße am Rand der Hortobágy-Puszta in Ungarn gestanden, und wir hatten ihn mitgenommen. Ein paar Tage lang hatten wir die Puszta gemeinsam durchstreift und uns angefreundet. Nach dem Urlaub hatten wir uns noch eine Weile Briefe geschrieben, dann hatte Jan uns mitgeteilt, dass er sein Studium abgeschlossen und eine Stelle bei den Zeisswerken bekommen hatte. Es beschäme ihn, es uns sagen zu müssen, aber Kontakte mit dem westlichen Ausland seien ihm nun nicht mehr erlaubt.

Wenn ich an diese erste und einzige Erfahrung mit einem DDR-Bürger dachte, überfiel mich jähes Entsetzen. Was hatte ich getan? Wenn einem Mitarbeiter der Zeisswerke Kontakte mit dem westlichen Ausland untersagt waren, konnten sie dann einem Dichter erlaubt sein, der seine Gedichte im Lager des Klassenfeindes veröffentlicht hatte, wahrscheinlich von der Stasi beobachtet wurde? Mit meinen Freunden in Moskau korrespondierte ich nie per Post, das war viel zu gefährlich für sie, wir bedienten uns stets einer »okasija«, einer uns mehr oder weniger bekannten Person, die aus Moskau nach Deutschland reiste oder umgekehrt. Jedes Mal waren es langwierige und manchmal abenteuerliche Aktionen, die schließlich zu einer persönlichen Briefübergabe führten. Und den Brief an Jakob Stumm hatte ich einfach in den Briefkasten eingeworfen, ohne einen einzigen Gedanken daran zu verschwenden, was das für ihn bedeuten könnte. Es war schon Ende August, ich hatte immer noch keine Antwort bekommen, nicht einmal ein paar höfliche Dankesworte an eine westdeutsche Kollegin und Bewunderin, und immer wieder überfielen mich horrible Vorstellungen. Hatte ich Jakob Stumm ans Messer geliefert, hatte ich ihn politischen Repressalien ausgesetzt, hatte man in meinem Brief irgendeine schlecht getarnte staatsfeindliche Aktivität erblickt, in die Jakob Stumm verwickelt war? Antwortete er mir nicht, weil er das gar nicht konnte, da man ihn verhaftet hatte, da er im Gefängnis saß? Unentwegt kreiste ich im Rad meiner qualvollen Fragen nach dem Grund seines Schweigens, ich malte mir immer neue Horrorbilder aus, vielleicht, so sagte ich mir, hatte ich eine falsche Adresse bekommen, vielleicht war er inzwischen umgezogen, vielleicht war er für längere Zeit verreist, vielleicht war er krank, vielleicht war er tot, aber in der letzten Drehung des Rads kam ich immer wieder auf dieselbe Erklärung. Jakob Stumm schrieb mir nicht, weil er kein Interesse daran hatte, weil er ein ganz anderer war, als ich vermutet hatte. Nicht der Unterirdische und Verschollene, als der er mir in seinen Gedichten erschienen war, im Gegenteil, er war ein in der DDR bekannter und verehrter Untergrunddichter, dem die Verwerfung durch den Staat eine besondere Popularität verlieh, genau jenen Heiligenschein, mit dem ihn der Fotograf auf seinem Autorenfoto umgeben hatte. Nicht ich allein hatte erkannt, dass er ein großer, ein bedeutender Dichter war, mein Brief an ihn war nur einer von vielen. Ich hatte an das Ich seiner Gedichte geschrieben, nun sah ich die Augen eines Fremden auf meine Zeilen gerichtet, und mich versengte die Scham. Jakob Stumms Augen hatten sofort gelesen, was ich verschwiegen hatte, was zwischen den Zeilen stand, denn Augen wie die seinen konnten zweifellos zwischen den Zeilen lesen, und zwischen den Zeilen, die sich weitgehend um das Schreiben, um literarische Dinge drehten, hatte ich ihm viel mehr als meine Bewunderung angeboten, viel mehr als nur jede erdenkliche Unterstützung für ihn, falls er dieser bedürfen sollte, ich hatte ihm alles von mir angeboten, obwohl ich nichts besaß. Ich besaß nur ihn. Und diese meine Armut hatte er beim Lesen meines Briefes sofort erkannt. Ich hatte versucht, die Abgründe zwischen meinen Zeilen so gut wie möglich zu kaschieren, aber so etwas entging einem Sprachmeister wie Jakob Stumm natürlich nicht. Immer wieder fühlte ich den Blick seiner wissenden Augen auf mir, ich sah seine belustigt hochgezogene Augenbraue, bevor er meinen Brief zusammenknüllte und in den Papierkorb warf. Den ersten und dann noch einmal den zweiten.

 

Als ich schließlich bei der Telefonauskunft anrief, tat ich es nicht, weil ich hoffte, die Nummern der DDR könnten der westdeutschen Auskunft bekannt sein und jemand wie Jakob Stumm könnte dort überhaupt ein Telefon besitzen. Ich spielte nur ein Spiel. Ich wollte so tun, als wäre es eine Kleinigkeit, Jakob Stumms Telefonnummer zu erfahren und mit ihm in Verbindung zu treten, und ich wollte einmal hören, wie sein Name klang, wenn ich ihn ins Ohr der Außenwelt sprach. Ohne nachzudenken hatte ich die Nummer der Auslandsauskunft gewählt und wurde zu meiner Überraschung darüber belehrt, dass die Nummern der DDR bei der Inlandsauskunft zu erfragen waren. Der Alleinvertretungsanspruch der BRD für alle Deutschen hatte mich kurzerhand zur Bewohnerin eines Landes mit Jakob Stumm gemacht, und zwei Minuten später war ich im Besitz einer Telefonnummer, die man mir so prompt und selbstverständlich angesagt hatte, als hätte ich nach einem Anschluss irgendwo im Nachbardorf gefragt.

Ich war drauf und dran, in irres Gelächter auszubrechen. Ich hatte Jakob Stumm am anderen, für mich unerreichbaren Ende der Welt gewähnt, seit Monaten beschäftigte mich nur noch die Frage, wie ich mit ihm in Kontakt kommen könnte; ich hatte mir bereits ausgemalt, nach Ostberlin zu fahren und von dort aus auf die Suche nach ihm zu gehen, ich hatte daran gedacht, trotz des Schreibverbots an Jan zu schreiben und ihn zu bitten, Jakob Stumm für mich ausfindig zu machen, ich hatte sogar mit dem Gedanken gespielt, einfach loszufahren und die Transitautobahn bei Nacht und Nebel zu verlassen. Und dabei hatte mich von Jakob Stumm nie mehr getrennt als eine Nummer aus zwölf Zahlen, die jetzt vor mir auf einem Zettel standen.

Mehrere Tage und Nächte schrieb ich fieberhaft Sprechentwürfe, die alle im Papierkorb landeten. Immer wieder setzte ich neu an, aber entweder klangen die Worte zu banal oder zu pathetisch, und je realer die Vorstellung wurde, Jakob Stumm anzurufen, desto deutlicher spürte ich, dass ich dazu nie den Mut aufbringen würde. Erst einmal wollte ich die Nummer wählen, um herauszufinden, ob sie auch wirklich existierte. Immer noch erschien es mir unglaubwürdig, dass die DDR die privaten Telefonnummern ihrer Bürger dem Klassenfeind auslieferte, vor dem sie sie sonst mit Mauer, Elektrozäunen und Selbstschussanlagen schützte.

Obwohl ich gar nicht mehr vorhatte, mich zu melden, sondern nur noch mit der feigen Hoffnung spekulierte, für einen Moment Jakob Stumms Stimme zu hören, klopfte mein Herz zum Zerspringen, während ich die Nummer wählte. Es stellte sich heraus, dass das Anrufen in der DDR genau dieselbe Geduldsprobe war wie das Anrufen meiner Freunde in Moskau. Ständig brach die Verbindung zusammen, immer wieder musste ich mit dem Wählen von vorn anfangen, es dauerte über eine halbe Stunde, bis sich aus dem ozeanischen Krachen und Brodeln in der Leitung endlich ein winziges, zitterndes Rufzeichen löste. Es wiederholte sich, drei Mal, fünf Mal, zehn Mal, niemand meldete sich. Es war, als lauschte ich langen, flachen Meereswellen nach, die an einem leeren Strand versandeten, und auf einmal begriff ich, dass ich in diesem Augenblick mehr von Jakob Stumm wusste als je zuvor. Ich wusste, dass er in diesem Augenblick nicht zu Hause war. Es war der erste Sonntag im September, draußen regnete es schon wieder, und soeben hatte in seiner leeren Wohnung das Telefon geläutet.

Noch nie hatte ich Jakob Stumm in irgendwelchen sozialen Zusammenhängen gesehen, nie war er für mich herausgetreten aus dem unbewohnten Raum einer Gedichte, immer war ich mit ihm allein auf der Welt gewesen, jetzt dachte ich zum ersten Mal daran, dass Männer in seinem Alter meistens verheiratet waren und Kinder hatten. Plötzlich bestand Jakob Stumms Unerreichbarkeit für mich nicht mehr darin, dass er in der DDR lebte, sondern dass er ein Ehemann und Familienvater war. Ich sah einen Fabrikarbeiter vor mir, dem seine Frau, wenn er abends erschöpft und schmutzig von der Arbeit nach Hause kam, eine Flasche Bier auf den Tisch stellte, während die Kinder lärmten und auf seinen Schoß wollten. Und jetzt, an diesem Sonntagnachmittag im September, war Jakob Stumm mit seiner Familie irgendwo unterwegs, vielleicht gingen sie an den Sonntagen zum Kaffeetrinken bei Eltern oder Verwandten.

Der zweite Jakob Stumm war in diesem Augenblick mit seinen Freunden zusammen, die, wie er selbst, alle der Subkultur angehörten, inoffizielle Literaten und Künstler. Ich lieh mir das Bild einer Moskauer Hinterhausküche, ich blickte in eine Versammlung von Menschen, vor deren Worten ein ganzer Staat zitterte, deren Worten so viel Bedeutung und Sprengkraft beigemessen wurde, dass man sie verbot. Dieser Jakob Stumm war ein Mensch, vor dem ich mich fürchtete. Ich fühlte mich klein und bedeutungslos, ich war das Produkt einer bürgerlichen Waren gesellschaft, in der das, was ich schrieb, nur an seinem Marktwert gemessen wurde, an Moden und Trends; mein Schreiben war in einem luftleeren Raum angesiedelt und interessierte nur gescheiterte, versprengte Einzelwesen meiner eigenen Art. Vor dem Jakob Stumm, der in diesem Moment mit seinen Freunden in verschworener Gemeinschaft in einer konspirativen Hinterhofküche saß, war ich nicht durch das Einzelnsein verbunden, von ihm war ich gerade dadurch getrennt.

Der dritte Jakob Stumm ging an diesem Sonntag im September irgendwo hinter Leipzig mit seiner Freundin im Regen spazieren. Aus irgendeinem Grund konnte ich mir die Frau, die er liebte, nicht anders vorstellen als mit langem schwarzen Haar. Sie gingen über aufgeweichte Wege zwischen Wiesen und Feldern, es machte ihnen nichts aus, nass zu werden, im Gegenteil, sie gingen gern durch den Regen, es war ein Ritual zwischen ihnen, ein geheimes Liebesritual. Sie hielten sich an den Händen, sprachen und lachten, rutschten aus auf der glitschigen Erde, manchmal strich sich die Frau die tropfenden schwarzen Haarsträhnen aus dem Gesicht, manchmal blieben sie stehen und küssten sich mit regennassen Lippen. Später, als sie wieder zu Hause waren, in der Wohnung, in der vor kurzen das Telefon geläutet hatte, stand die Frau im Zimmer und frottierte mit einem Handtuch ihr langes schwarzes Haar, das im Regen nass geworden war. Und Jakob Stumm saß etwas abseits auf dem Stuhl vor seinem Schreibtisch und sah ihr dabei schweigend und bewegungslos zu.

Auch am nächsten und übernächsten Tag antwortete die Nummer in Leipzig nicht, und zwei Wochen später immer noch nicht. Das Rauschen und Gurgeln in der leeren Leitung war identisch geworden mit dem Geräusch des Dauerregens vor dem Fenster. Ich wählte, aber ich erwartete keine Antwort mehr, ich spielte nur noch ein Spiel. Mit jeder Zahl, die ich wählte, näherte ich mich Jakob Stumms Wohnung in Leipzig. Mit der ersten Null verließ ich mein eigenes Ortsnetz, die zweite Null führte mich vor alle potenziellen Auslandsnummern der Welt, die folgenden Zahlen kreisten die Länder ein, dann setzte jene Meeresakustik ein, die mir sagte, dass ich im Telefonnetz der DDR angekommen sein musste. Nun begann der Kampf mit den Widerständen, die dieses Telefonnetz mir entgegensetzte; immer wieder wurde ich aus der Leitung geworfen und musste von vorn beginnen, was mein Spiel nicht verdarb, sondern, im Gegenteil, die Spannung steigerte. War ich, gegen die aufsässigen Widerstände hindurch, endlich bis zu der Zahl gekommen, hinter der in meiner Vorstellung Leipzig begann, hielt ich zum ersten Mal mit dem Wählen inne und lauschte. Ich sah die Hallenschiffe des Leipziger Kopfbahnhofs vor mir, ein mir vage bekanntes Bild, von dem ich mit Sicherheit annehmen konnte, dass Jakob Stumm es kannte. Das Rauschen in der Leitung erschien mir jetzt wie das Geräusch unter dem schwingenden Flügelpaar eines riesigen Vogels, darunter die Nacht der fremden, unsichtbaren Stadt, die die seine und einst auch meine war.

Die nächsten Zahlen, die ich wählte, kreisten seinen Stadtteil ein, seine Straße, sein Haus. Jetzt war ich da, ich stand im Treppenhaus. Wieder hielt ich inne und lauschte, in eine anonyme Stille, in der ich eine Spionin war. Ein Armeleutehaus, ein Haus für Arbeiter, abgewohnt und verlottert. Verbotenes Terrain für Westdeutsche, das gut gehütete Geheimnis schäbigster DDRWirklichkeit. Ich stand da und lauschte, angstvoll darauf gefasst, dass im nächsten Augenblick eine Tür klappen, dass man mich entdecken würde. Das Rauschen an meinem Ohr war jetzt das Rauschen in der Tiefe des Treppenhauses, im Innersten des DDR-Alltags. Es roch nach Keller, nach verbranntem Fett, die Wände genauso abgewetzt wie in Moskauer Treppenhäusern, ein defektes Minutenlicht. Die alten, abgetretenen Holzstufen kannten seine Füße, das ranzige Geländer trug die Abdrücke seiner Hände. An der Wand rechts neben der Haustür die verbeulten Metallbriefkästen; an einem von ihnen stand sein Name. Jakob Stumm. Oder J. Stumm. Oder einfach Stumm. An den Wohnungstüren keine Namen, nur Nummern, wie in Moskau. Türen, die nichts preisgaben vom Geheimnis derer, die hinter ihnen wohnten. Ich wählte die letzte Zahl und stand vor Jakob Stumms Tür. Er wohnte im obersten Stockwerk, wie ich selbst die meiste Zeit meines Lebens. Der oberste, billigste Rang des Theaters. Im Innern der Wohnung schrillte das Telefon, niemand nahm ab. Auf irgendeinem verstaubten Möbel stand ein einsamer altmodischer Apparat und vibrierte, gequält von elektromagnetischen Wellen, die ihm irgendein unbelehrbarer Anrufer mit unerklärlicher Ausdauer sandte. Manchmal sah ich ein Telefon, das in irgendeiner seit langem unbesetzten, toten Amtsstube schrillte. Manchmal erschien mir das Bild eines Telefons, das auf einer Felsklippe hoch über dem Meer stand und im Nichts zwischen Himmel und Erde läutete.

Seit meinem ersten Brief an Jakob Stumm war schon fast ein halbes Jahr vergangen, es schien keinen Weg zu ihm zu geben, und allmählich begann er, in seine Gedichte zurückzukehren, ins Stofflose, ins Körperlose. Ich sah ihn in einer schemenhaften, fliehenden Bewegung, entlang an Schienen, im Nebel, im Rauch, auf der glasigen Erde aus seinen Gedichten, auf der das Licht unter seinen Füßen zersprang.

Es kam vor, dass mir der Exbauer, von dem wir das Haus gemietet hatten, einen Besuch abstattete. Er hatte ein blaurotes, gedunsenes Gesicht und roch stark nach Alkohol. Immer kam er scheinbar deshalb, um mir etwas zuzustecken, ein Stück selbst geräucherten Speck oder ein paar Eier aus seinem Hühnerstall. Er wusste von meiner russischen Herkunft und nannte mich im Dialekt der Region vertraulich »Russla«. Die verborgene Absicht seiner Besuche schien darin zu bestehen, mich so oft wie möglich mit seinem wankenden Körper zu streifen, mich mit dem Ellenbogen an der Brust zu stoßen oder wie aus Versehen mit der Hand über meinen Bauch zu fahren. Ich hatte Angst vor ihm und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Er war mein Vermieter, er brachte mir Geschenke mit, und seine als zufällig kaschierten Berührungen erinnerten mich an bestimmte Situationen aus meiner Kindheit. Immer hatte ich mich in meiner Angst vor bestimmten »Onkeln« schuldig gefühlt, wegen genau dieser Angst, weil ich den Blicken und Berührungen eines Erwachsenen etwas unterstellte, das nur meine eigene Schlechtigkeit bewies. Diese Schuld- und Schamgefühle wirkten bis heute nach, sodass ich immer nur versuchte, so zu tun, als würde ich die unmissverständlichen Annäherungsversuche des betrunkenen Exbauern gar nicht bemerken; ich wich seinen Zudringlichkeiten so gut wie möglich aus, während ich, besonders wenn er spätabends kam, schon bei Dunkelheit, fast panische Angst vor ihm hatte. Eines Tages begriff ich plötzlich, woher das Wort »Russla« stammen musste. Wahrscheinlich hatte auf dem Hof des Bauern während des Krieges eine junge russische Zwangsarbeiterin gearbeitet. Die Verschleppten mussten nicht nur in der Industrie schuften, zahllose Handwerksbetriebe, Privathaushalte und Bauernhöfe hatten damals ihr »Russla« gehabt, rechtlose junge Mädchen wie meine Mutter, mit denen betrunkene, lüsterne Bauern wahrscheinlich nicht so zartfühlend umgehen mussten wie dieser heute mit mir.

 

Die Landschaft begann schon, sich mit den ersten Leuchtfarben des Herbstes zu schmücken, es hatte endlich zu regnen aufgehört; das Pferd auf dem Nachbargrundstück war aufgewacht, es schwang seinen blonden Schweif und nahm sich mit seinen samtigen Lippen die Wildäpfel, die ich aus dem Gras aufhob und ihm vorsichtig, auf der flachen Hand, über den Zaun reichte. Als ich wieder einmal die Nummer in Leipzig wählte, riss das ewig leere, zirpende Rufzeichen in der Leitung plötzlich ab, und irgendein schriller, bellender Laut fuhr mir ins Ohr. Erst der Schmerz in meinem blau angelaufenen Finger sagte mir, dass dieser Finger wahrscheinlich schon seit Minuten auf die Telefongabel drückte.

Von nun an wurde jeder meiner Anrufe beantwortet. Immer mit diesem keuchenden, bellenden Laut, der mir jedes Mal wieder das Bild eines Mannes suggerierte, der von einer langen Reise nach Hause zurückkehrt; er betritt sein Haus und hört schon auf der Treppe das Läuten des Telefons aus seiner Wohnung. Mit dem schweren Gepäck in beiden Händen läuft er die letzten Stufen zu seiner Wohnung so schnell wie möglich hinauf, stellt Koffer und Tasche ab, nestelt hastig den Schlüssel aus seiner Jackentasche und öffnet die Tür. Abgestandene, stickige Luft schlägt ihm entgegen, er läuft keuchend über den Flur, in das Zimmer, in dem das Telefon auf seinem verstaubten Schreibtisch schrillt, und reißt atemlos, wenig erfreut über den Anruf in einem so unpassenden Augenblick, den Hörer von der Gabel. Als er sich melden will, stößt seine trockene Kehle nur einen Misston aus, einen abgehetzten, bellenden Laut, der dennoch die eine Silbe seines Nachnamens erkennen lässt. Jemand hatte ihn genau im Augenblick seiner Rückkehr abgepasst, hatte ihm nicht einmal Zeit zum Durchatmen gelassen.

Jakob Stumm meldete sich jetzt mit derselben Beharrlichkeit, mit der er sich vorher nicht gemeldet hatte. Er schien jetzt immer zu Hause zu sein und seinen Platz direkt neben dem Telefon zu haben, weil er immer prompt nach dem ersten Läuten abnahm, und jedes Mal stieß er die eine Silbe seines Namens mit diesem höchst unmelodischen, atemlosen, bellenden Laut hervor. Bei jedem Anruf war ich darauf gefasst, dass eine Frau das Telefon abnehmen würde, aber das geschah nie. Immer schien er allein in der Wohnung zu sein, nie hörte ich irgendwelche Geräusche aus dem Hintergrund, bei ihm war es genauso still wie bei mir. Ich konnte nicht glauben, dass diese im wahrsten Sinn des Wortes abstoßende Stimme Jakob Stumm gehörte, manchmal erinnerte mich der Laut, den er von sich gab, an den eines Soldaten beim Zählappell, aber das Unbegreiflichste war, dass er, nachdem er sich gemeldet hatte, nie etwas sagte oder fragte, er wurde nicht ärgerlich, nicht wütend, er legte nicht auf, sondern antwortete mir jedes Mal wieder mit meinem eigenen Schweigen. Ich hörte ihn atmen, ich hörte ihn rauchen. Ich rauchte ebenfalls und fragte mich, was er hörte. Mir war, als wirkte die Sprechmuschel des Telefons wie ein Stethoskop, das mein wildes Herzklopfen in vielfacher Lautstärke an ihn weiterleitete. Seine Zigarettenzüge waren etwas länger als meine, er schien den Rauch tiefer einzusaugen in seine Lungen und blies ihn geräuschvoller aus als ich. Ab und zu hörte ich das Schnalzen seines Feuerzeugs und den besonders tiefen ersten Zug an der neuen Zigarette. Er sagte nichts, er schien mir mein eigenes Schweigen zurückzugeben, um mich zu beschämen, mir den Spiegel meiner Feigheit vorzuhalten. Hin und wieder erreichte mich ein kleines, dumpfes Geräusch, als stieße er mit seinem Körper irgendwo an, an einem Gegenstand, an der Kante seines Schreibtischs. Mit wem schwieg er so beharrlich und rätselhaft? Vielleicht mit der Frau mit dem langen schwarzen Haar? Hatten sie sich vielleicht gestritten, und nun glaubte Jakob Stumm, dass sie am anderen Ende war, dass sie ihm diese wortlosen Zeichen sandte? Oder vermutete er einen Spitzel in der Leitung, der ihn mit seinen Schweigeanrufen zermürben, provozieren wollte? Setzte er ihm sein eisernes Gegenschweigen, seinen längeren Atem entgegen? Oder erkannte man in der DDR, ebenso wie in Moskau, schon am besonderen Klingelzeichen des Telefons einen Anruf aus dem Ausland? Wusste er, dass ich es war, die Adressatin der zwei Briefe aus Westdeutschland, die er bei seiner Rückkehr zu Hause vorgefunden hatte? Ich lauschte in die Leitung und sah in irgendeiner Amtsstube der Stasi endlose Meter leeres Tonband auflaufen, das nur mit Zigarettenzügen bespielt war. Ich fühlte mich wie bei einem Schweigeduell, das ich jedes Mal verlor, weil nie Jakob Stumm auflegte, sondern schließlich immer ich. Am nächsten Tag rief ich wieder an, meistens spätabends oder nachts, und er nahm sofort ab, als hätte er schon gewartet. Während ich vor dem dunklen Fenster zum Kirschbaumwald saß, das mir mein Spiegelbild zurückwarf, sah ich auch ihn vor einem dunklen Fenster sitzen, unsere Spiegelbilder flossen ineinander, vor das meine schob sich seine Gestalt mit dem angewinkelten, auf dem Tisch abgestützten Arm, in der Hand der Telefonhörer, in den er hineinlauschte, über seinem Kopf, im Licht der Lampe, schwammen die Rauchschwaden seiner Zigaretten, ich erkannte seine wuchtigen Schultern, die scharfe, senkrechte Stirnfalte, sein von hinten durchleuchtetes Haar, das einen flimmernden Lichtkranz um seinen Kopf bildete. Immer wieder nahm ich mir vor, mich beim nächsten Mal zu erkennen zu geben, die einfachen, unverdächtigen Worte zu sagen, die am Anfang meines ersten Telefongesprächs mit ihm hätten stehen müssen; immer wieder suchte ich nach diesen unschuldigen, unbefangenen Worten, aber es gab sie nicht in mir, es hatte sie nie gegeben.

Als ich zum Flughafen fuhr, um Paul abzuholen, kam mir die Geschichte mit Jakob Stumm vor wie eine Fata Morgana, die mir lediglich meine Angst vorgegaukelt hatte. Immer wenn Paul für längere Zeit wegfuhr, vergaß ich ihn. Er wurde bedeutungslos für mich wie für einen Schiffbrüchigen die Planke, die ihm von einer großen Welle entrissen wurde. Und Jakob Stumm hatte ich zu meiner Ersatzplanke gemacht. Seine Gedichte hatten mir einen vorübergehenden Ort angeboten, eine vorübergehende Zuflucht in der Zeit ohne Paul. Ich hatte ein großes, überwältigendes Gefühl gebraucht, ein dramatisches Szenario, um die Angst auszutricksen, ihr etwas wegzunehmen von ihrem Platz in mir.

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