Saphirherz

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Kapitel drei

»Wie lange dauert das noch?« Lilly beugte sich mit dem Oberkörper über den Tresen der Durchreiche zwischen Küche und Gastraum.

»Bin sofort fertig.« Jerome, der Koch des Moonbeam, hetzte von einer Seite der Küche zur anderen, klapperte mit dem Geschirr, rührte mal hier in einer Pfanne, mal dort in einem Topf. Er schien einem Konzept zu folgen, obwohl seine Handlungen für einen Außenstehenden unkoordiniert wirkten. Lilly bewunderte ihn für sein Organisationstalent, sie hätte bereits nach einem Tag das Handtuch beziehungsweise die Kochschürze geworfen, wenn sie seinen Job hätte machen müssen. Man musste kein großer Künstler sein, wenn man im Moonbeam als Koch arbeiten wollte. Es gab nur die üblichen Snacks, die keine große Kreativität erforderten. Dennoch schaffte Jerome es, seinen Job nach mehr aussehen zu lassen als er war. Man hätte meinen können, er sei der gestresste Chefkoch einer noblen Hotelküche. Er war keineswegs arrogant, neigte jedoch zur Dramatik. Lilly mochte seine affektierte Art, sie schmunzelte zumeist darüber.

Jerome schnappte sich einen Teller, arrangierte Pommes und Burger in einer schwungvollen Bewegung und stellte die Mahlzeit vor Lilly auf den Tresen. Er wischte sich mit der Schürze über das verschwitzte Gesicht. »Wann ist nur endlich Feierabend?« Er grinste und offenbarte eine Reihe großer gerader Zähne, die zwischen seinen dunklen Lippen strahlend weiß erschienen.

»Ein paar Stündchen musst du noch durchhalten. Mir tun auch die Füße weh.«

Jerome zwinkerte ihr zu. »Ich dachte, die Sklaverei sei endlich abgeschafft worden.« Er war ein netter Mann, leider immer viel zu beschäftigt, um sich mit ihm lange zu unterhalten. Zumindest tat er so, als sei er schrecklich beschäftigt. Nicht immer saßen viele Gäste im Moonbeam, um ehrlich zu sein nur abends um am Wochenende.

Die anderen Angestellten waren zumeist seltsam, allem voran Mason, der Lilly gerade aus dem Augenwinkel beobachtete, während er einen Cocktail mixte. Er war kühl und irgendwie arrogant, sprach nicht viel und gab Lilly stets das Gefühl, seiner nicht wert zu sein. Einzig Stacey, die Tochter von Gabriel Black, war ihr noch unsympathischer. Zum Glück arbeitete sie nur dann im Lokal, wenn die verwöhnte Göre sich dazu herabließ. Ihr Vater ließ sie gewähren und rief sie selten zur Ordnung. Stacey wusste dies auszunutzen und ließ keine Gelegenheit verstreichen, die Angestellten zu drangsalieren.

Neben Lilly und Stacey gab es noch weitere Servicekräfte im Moonbeam, aber Lilly kannte nur noch eine von ihnen persönlich, da sie meistens auf derselben Schicht arbeiteten. Violet war eine flippige junge Frau in Lillys Alter. Sie war nett, aber für Lillys Geschmack ein wenig zu aufgedreht. Dass sie ständig im Minirock herumlief und Kaugummi kaute, trug nicht dazu bei, dass Lilly mehr als ein paar Sätze mit ihr wechseln wollte.

Lilly arbeitete seit vier Tagen im Diner, doch heute musste sie zum ersten Mal den Spätdienst übernehmen. Draußen war es bereits dunkel, auf den Straßen tummelten sich überwiegend Touristen und feierwütige Studenten. Das Lokal war gut besucht, jeder Platz besetzt. Es erschien ihr noch immer surreal, dass sie bis vor wenigen Tagen noch auf Alexis' Couch geschlafen hatte und heute einer geregelten Arbeit nachging. Mr. Black hatte nicht gezögert, sie einzustellen. Anscheinend war er wirklich verzweifelt gewesen, oder aber seine Tochter hatte ihn dazu gedrängt, damit diese selbst öfter frei machen durfte. Wie konnte man von einem Gör im Jahr nach der High School auch verlangen, jemals wieder einen Finger krumm zu machen. Tse!

Lilly nahm den Teller, auf dem sich appetitlich dampfende Pommes und ein Cheeseburger drängten, vom Tresen auf.

»Pass auf, da hinten habe ich Cola verschüttet. Es könnte noch feucht sein oder kleben. Hatte noch keine Zeit, das wegzuwischen«, sagte Mason, ohne von seiner Arbeit aufzusehen.

Lilly nickte und stieg etwas unelegant über die Pfütze hinweg. An Tisch vier saßen zwei junge Typen mit Baseballcaps, die Lilly abschätzend von oben bis unten begafften, als sie den Teller vor ihnen abstellte. Sie hasste es, angeglotzt zu werden, lächelte jedoch freundlich. Sie fiel ganz sicher nicht in ihr Beuteschema, und das widerliche Grinsen im Gesicht des einen Kerls untermauerte den Verdacht. Lilly hatte ihre Haare zu einem unordentlichen Zopf geflochten. Wenn sie kellnerte, verzichtete sie auf Makeup, das würde ohnehin nur verlaufen. Sie war sich darüber bewusst, dass die wenigsten Männer ihre roten Haare und die vielen Sommersprossen als attraktiv bezeichnen würden.

»Das habe ich nicht bestellt«, sagte der Kerl, ohne das Grinsen aus dem Gesicht zu nehmen. Demonstrativ schob er den Teller ein Stück von sich.

»Das ist ein Cheeseburger mit Pommes, ich bin mir sehr sicher, dass Sie den bestellt haben.« Lilly musste sich auf die Zunge beißen, um nicht frech zu werden. Der Typ wollte sie anscheinend nur provozieren.

»Da sind Tomaten drauf, ich hatte ihn ohne Tomaten bestellt.«

»Dann nehmen Sie die Tomaten doch einfach herunter.«

»Du hast den Fehler gemacht, also bügelst du ihn wieder aus. Nimm den Mist wieder mit und bring mir einen neuen Burger. Und bitte nimm die Tomaten nicht einfach herunter, das schmecke ich! Der ganze Burger ist jetzt tomatenverseucht.«

Lilly hatte auch früher im Hotel schon mit nörgelnden Gästen zu tun gehabt und ließ sich ihren Ärger nicht anmerken. Solche Menschen gab es anscheinend überall. Kommentarlos nahm sie den Teller und ging zurück hinter den Tresen zur Durchreiche. Sie war sich absolut sicher, dass der Typ keinen Burger ohne Tomaten bestellt hatte, aber weshalb sollte sie sich daran die Nerven aufreiben? Sie würde ihn vermutlich nie wieder sehen. In New York schien man keinem Menschen zwei Mal zu begegnen, dafür gab es hier einfach zu viele davon, ha ha.

Während Lilly noch immer ihren negativen Gedanken bezüglich des schlechten Benehmens der Städter nachhing, kam es, wie es kommen musste. Sie trat in die Colapfütze und rutschte aus. Die folgende Sekunde zog wie in Zeitlupe an ihr vorüber. Sie sah, wie der Burger und die Pommes wie ein Geschoss vom Teller flutschten, geradewegs in Masons Richtung, der das Unheil zwar kommen sah, es aber nicht verhindern konnte. Er schaffe es gerade noch, das Cocktailglas vor sich abzustellen, ehe ihn eine Ladung Pommes mit Ketchup und ein Stück Rindfleisch mit Burgersoße streiften.

»Sag mal, bist du irre oder vergesslich? Ich habe dir vor gerade einmal einer Minute gesagt, dass da eine Pfütze ist und du gefälligst aufpassen sollst!«

Lilly wich einen Zoll weit zurück angesichts der Schärfe in seiner Stimme. Sie spürte, wie sie rot anlief. Jeromes dunkler Kopf erschien in der Durchreiche. Er gab ein Geräusch von sich, das irgendetwas zwischen 'Oh je' und 'Mach dich auf Ärger gefasst' bedeuten könnte und zog den Kopf wieder zurück.

»Hättest du das Zeug sofort weggewischt, wäre das nicht passiert«, presste Lilly hervor, aber ihre Stimme klang seltsam dünn.

»Was ist hier los?« Violet, die gerade in einer anderen Ecke des Lokals Gäste bedient hatte, kam heran. Ihr Blick glitt von Lilly zu Mason herüber und blieb schließlich am Boden haften, wo sich ein hübscher Haufen matschiger Pommes und die Reste eines Burgers verteilten. Ihre Mundwinkel zuckten, als müsse sie ein Lachen unterdrücken.

»Ist doch halb so schlimm. Wisch das auf und mach einfach weiter.«

»Und was ist mit mir?« Masons kühle Augen hatten sich zu Schlitzen verengt. »Mein Shirt ist versaut. Soll ich so den ganzen Abend rumlaufen?«

»Zieh es doch aus«, sagte Violet und zog in einer Weise die Augenbraue hoch, als gefiele ihr die Vorstellung, ihn mit freiem Oberkörper zu sehen.

Mason antwortete nur mit einem Knurren und einem bitterbösen Blick.

»Hinten im Büro sind noch Shirts von der letzten Veranstaltung im Washington Square Park. Zieh davon eins an.« Violet ließ sich nicht aus der Ruhe bringen.

»Die hässlichen Dinger mit dem Logo des Lokals drauf? Ich renn doch nicht den ganzen Abend mit einem grinsenden Mond auf der Brust herum!«

»Dann bleib dreckig oder arbeite nackt. Mir ist es wurscht. Komm, Lilly, wir holen einen Lappen und Küchentücher.«

Irgendwo im Lokal schrie der Typ mit dem Baseballcap nach seinem Burger und beschwerte sich, dass es so lange dauerte. Lilly war froh, dass Mr. Black erst später vorbeischauen wollte ...

Als Violet und Lilly wenig später die Sauerei beseitigt und die Überreste des Malheurs in einen Abfallbeutel überführt hatten, ging Lilly ins Büro, um das Corpus Delicti über die Hintertür zum Müllcontainer zu bringen. Die beiden jungen Typen hatten das Lokal indes verlassen, Lilly sollte es recht sein, wenn sie nie wieder kamen.

Sie schloss die Tür des Büros hinter sich und hätte beinahe einen Herzanfall erlitten, weil Mason mit nacktem Oberkörper vor ihr stand und in einem Karton wühlte, der zwischen leeren Getränkekisten und einer Palette Obst stand.

Als er sie bemerkte, huschte für die Dauer eines Augenblicks Unsicherheit über sein Gesicht, ehe es sich wieder verdüsterte. »Was ist? Noch nie einen leicht bekleideten Mann gesehen?«

Doch, aber noch nie so einen. Masons Haut war ebenmäßig und sehr hell, Muskeln zeichneten sich an seinen Oberarmen und dem Bauch deutlich ab. Lilly fiel zum ersten Mal ein Ring an seinem Finger auf, aber er sah nicht aus wie ein Ehering oder ein Verlobungsring. Ein blauer Edelstein funkelte in der Fassung. Ihr kam es seltsam vor, dass ein Typ wie Mason so etwas trug.

Ihr Herz machte einen Hüpfer, für den sie sich hasste. Sie wollte ihm eine patzige Antwort geben, öffnete und schloss den Mund jedoch nur wie ein Karpfen auf dem Trockenen. Er sah sie indes nur mit undeutbarer Miene an. Lilly konnte sich nicht erklären, weshalb sie so heftig auf ihn reagierte. Ja, er sah gut aus. Aber nicht so gut, dass es einem die Sprache verschlagen müsste. Irgendetwas an ihm zog sie an, und es war nicht nur sein Äußeres. Lilly musste den Drang unterdrücken, ihm um den Hals zu fallen. War sie jetzt total bescheuert?! Sie kannte ihn doch überhaupt nicht!

 

Sie riss mühsam ihren Blick von ihm los. »Ich wollte nur den Müll rausbringen.« Sie wandte beschämt den Kopf ab, krampfte die Hände um den Müllsack und wollte sich zwischen ihm und der Obstpalette zur Tür drängen, wobei ihr Unterarm leicht seine Hüfte streifte.

Und dann passierte es.

Lilly spürte, wie der Boden unter ihren Füßen zu wanken begann. Ihre Knie wurden weich. Blitzschnell griff Mason ihr unter die Arme, um einen schlimmen Sturz zu verhindern, doch Lilly bekam schon gar nicht mehr mit, ob ihre Beine einknickten oder nicht. Die Welt um sie herum versank in einem farbigen Strudel, wurde dann schwarz und schien sich an anderer Stelle wieder aus dem Nichts zu schälen.

Sie stand mitten auf einem belebten Bürgersteig. Hunderte Menschen strömten an ihr vorüber. Lillys erster Impuls war es, ihnen auszuweichen, doch ihre Beine wollten sich nicht bewegen. Überhaupt schien sie seltsam körperlos zu sein. Sie hätte schwören können, dass die Passanten sogar mitten durch sie hindurch gingen, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken oder sich anmerken zu lassen, dass etwas anders war als sonst.

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zogen zwei Menschen Lillys Aufmerksamkeit auf sich. Sie standen vor dem Eingang eines Cafés oder Restaurants. Über der Tür hing ein unscheinbares Schild, das ein rundes Logo zeigte, das von einem Palmwedel und einem Kakadu auf gelbem Grund gebildet wurde, daneben in schwungvoller Schrift das Wort 'Sweetwaters'. Dieses Lokal hatte sie schon einmal gesehen!

Die beiden Personen vor der Tür küssten sich, ein Mann und eine Frau. Lilly konnte sie kaum erkennen, das Bild war verschwommen, als blickte sie durch Milchglas auf die beiden. Die Frau trug ein sommerliches Kleid, der Mann ein Baseballcap, dessen Schirm er nach hinten gedreht hatte. Zwischen Lilly und den beiden rollte der Verkehr auf einer vierspurigen Straße. Gelbe Taxis, Busse und allerhand andere Wagen, die ihr auf eine verstörende Weise seltsam vorkamen. Es dauerte ein paar Sekunden, ehe sie wusste, weshalb. Das waren die kantigen und wenig ästhetischen Modelle der achtziger Jahre, ein alter Chevrolet und ein alter Ford waren darunter. Lilly war noch zu jung, um sich bewusst an diese Zeit zu erinnern. Sie sah nach rechts und links. Die Menschen auf dem Bürgersteig hatten ebenfalls keine Gesichter, sie verschwammen in einer einzigen Farbmasse. Doch ihre Kleidung war grellbunt und alles andere als modisch.

»Lilly? Alles Okay?«

Irgendjemand tätschelte ihre Wange. Sie schüttelte den Kopf, woraufhin sich erneut heftiger Schwindel ausbreitete. Nur langsam beendete die Welt um sie herum die Karussellfahrt. Jemand beugte sich zu ihr hinab, sie sah ein Gesicht nah vor ihrem eigenen.

»Was ist los mit dir? Du bist total weggetreten.«

Lilly strich sich die Haare aus der Stirn. Sie war nasskalt. Sie saß auf dem Boden, die Beine ausgestreckt. Über ihr stand Violet, die die Augenbrauen skeptisch anhob.

»Hast du öfter solche Aussetzer? Ich war drauf und dran, einen Krankenwagen zu rufen.«

Was sollte sie antworten? 'Ja, ich kippe andauernd um, weil mich seltsame Visionen plagen?' Stattdessen schüttelte sie den Kopf.

»Ich glaube, ich hab's einfach mit dem Kreislauf. Es ist schon spät und ich bin Nachtarbeit nicht gewohnt.«

Mühsam rappelte Lilly sich auf, obwohl ihre Knie zitterten und ihr Verstand ihr sagte, dass sie besser sitzen bleiben sollte. Aber sie wollte sich vor Violet nicht die Blöße geben. Erst jetzt bemerkte sie, dass Mason in der Tür zum Gastraum stand, immer wieder schweifte sein Blick ab, weil er die Kunden hinter sich im Auge behalten musste. Er war kreidebleich, aber zumindest trug er inzwischen wieder ein T-Shirt, wenn auch ein hässliches mit dem Logo des Lokals auf der Brust.

Prima, jetzt habe ich mich vor ihm lächerlich gemacht. Sicherlich ist mir ein appetitlicher Speichelfaden aus dem Mundwinkel getropft und meine Augen haben sich nach oben verdreht. Er hat mich auch vorher schon verabscheut. Jetzt wird er vermutlich nie wieder mit mir reden.

»Wenn ich hier nicht mehr gebraucht werde, kümmere ich mich lieber wieder um die Gäste«, sagte er kühl und verschwand aus der Tür.

»Bist du sicher, dass du heute Abend noch weiter arbeiten willst? Ich habe Mason selten unruhig erlebt, aber als er nach mir gerufen hat, habe ich sofort gemerkt, dass etwas nicht stimmt. Das war mega gruselig mit dir! Geh morgen mal zum Arzt.«

»Nein, ist schon okay. Aber Mason hält mich jetzt für einen Freak und wird einen großen Bogen um mich machen.«

Violets volle Lippen kräuselten sich zu einem spitzbübischen Lächeln. »Gefällt er dir etwa?«

»Was? Mir? Nein!« Lilly war sich darüber bewusst, dass ihr übertrieben abwehrendes Verhalten genau vom Gegenteil zeugte, konnte aber nichts dagegen unternehmen, dass sie rot anlief.

»Lass lieber die Finger von ihm, ehrlich. Er konsumiert Frauen wie andere Menschen Zigaretten. Und anschließend entsorgt er sie ebenso liebevoll.«

»Das dachte ich mir beinahe.« Herrje, Lilly! Sag einfach nichts mehr, du reitest dich immer weiter hinein.

»Mach dir keine Gedanken darüber, was er von dir denken könnte. Mason ist ein verschrobener Kerl, der ohnehin nie jemanden an seinen Gedanken teilhaben lässt. Schone deine Nerven und ignoriere ihn. Zum Glück arbeitet er nicht im Service, die Gastfreundlichkeit in Person ist er ja nicht gerade. Wenn er nicht schon lange mit Gabriel befreundet wäre, hätte der ihn sicher schon längst rausgeworfen.«

Violet schnürte sich ihre schwarze Kellnerinnenschürze hinter dem Rücken neu.

»Apropos Mr. Black ... Weißt du, ob er heute noch vorbeikommt? Ich muss ihn dringend sprechen.« Lilly versuchte, sich durch einen geschickten Themenwechsel aus der Situation zu manövrieren.

Violet zuckte die Achseln. »Keine Ahnung, Süße. Manchmal kommt er, manchmal nicht.« Sie verließ das Büro durch die Tür zum Gastraum, Lilly folgte ihr. Mason stand hinter dem Tresen und zapfte Getränke, warf ihr jedoch einen verstörten Seitenblick zu. Er war noch immer bleich. Lilly hatte den Eindruck, dass er einen Schritt zur Seite trat, um möglichst großen Abstand zwischen sich und dem sabbernden Freak zu bringen, der sie bis gerade noch war.

»Was möchtest du denn von Gabriel?« Violet schnappte sich ihren Notizzettel und die Geldbörse, die sie sich umschnallte. Lilly tat es ihr gleich, aber mit wesentlich ungeschickteren Bewegungen.

»Ich brauche einen Vorschuss, bis Ende der Woche kann ich nicht mehr auf mein Geld warten. Ich muss ein Hotelzimmer bezahlen.«

Violet bedachte sie mit einem Blick, als hätte sie ihr soeben eröffnet, sie sei eine Elfe aus dem Märchenland. »Du wohnst im Hotel? Bist du ohne Rücklagen und Unterkunft nach New York City gekommen?«

Lilly hatte den Eindruck, sie müsste sich für irgendetwas schämen, weshalb sie erneut heißes Blut in ihre Wangen steigen spürte. »Ja, es kam alles ein wenig plötzlich.«

»Du kannst doch nicht ewig im Hotel wohnen, das frisst dich finanziell auf. Oder zahlt Gabriel dir etwa mehr als uns? Kann ich mir nicht vorstellen. Sorry, Süße, wenn ich das sage, aber du bekommst nicht besonders viel Trinkgeld. Die Leute hier kennen dich noch nicht und du machst noch ziemlich viele Fehler, was Gabriel nicht besonders gefällt. Er wird dir niemals einen Vorschuss bezahlen.«

Eine Schweißperle rann Lillys Rücken hinab, und das war nicht allein auf die Außentemperatur zurückzuführen. Ach herrje, sie hatte sich darauf verlassen, dass sie ihr Gehalt ein paar Tage im Voraus bekommen könnte!

Violet stellte einige der Gläser, die Mason gefüllt hatte, auf ihr Tablett. »Sprich Gabriel am besten gar nicht erst darauf an. Er wird ausflippen. Er ist sowas von cholerisch!«

»Ich muss aber das Hotel bezahlen.« Sie klang wie ein verzweifeltes Kind und schämte sich sogleich dafür.

»In welchem wohnst du?«

»Bright Stars Hotel.«

Violet verdrehte die Augen. »Du kennst dich nicht besonders gut in New York aus, oder?«

Lilly schüttelte den Kopf.

»Ach, weißt du was? Du kommst heute Abend einfach mit zu mir. Pack deine Sachen, check aus dem Hotel aus und dann sehen wir weiter.«

Hatte sie sich gerade eben verhört? Hatte Violet ihr angeboten, übergangsweise bei ihr zu wohnen?

Mason, der die Unterhaltung die ganze Zeit über verfolgt hatte, stieß ein Knurren aus, piekste Violet leicht in die Rippen und schüttelte den Kopf, als wollte er fragen: 'Was soll das?'. Lilly verstand die Welt nicht mehr. Weshalb mischte Mason sich da ein?

Violet presste verärgert die Lippen zusammen und verbrannte Mason mit einem Blick. »Lass die Kleine mal mit zu mir kommen.« Sie wandte sich wieder an Lilly. »Ich kann doch nicht zulassen, dass dich das Hotel vor die Tür setzt, weil du nicht mehr zahlen kannst! Ich wohne mit meinem Bruder Jordan in einer WG, er ist ein netter Kerl. Wir haben genügend Platz und die Aussicht aus unserem Apartment ist gigantisch.«

Bei der Erwähnung von Jordans Namen knurrte Mason erneut. Irgendetwas passte ihm nicht, aber Lilly verstand nicht, was und weshalb. Aber vielleicht würde sie es bald herausfinden.

***

23.09.1987, New York City

»Ist das denn überhaupt erlaubt?« Laurie warf einen skeptischen Blick über das Geländer, hinter dem es sechs Stockwerke in die Tiefe ging.

»Keine Ahnung, ich denke nicht.«

Ihr Gesichtsausdruck wechselte von skeptisch zu ängstlich. Ich machte eine beschwichtigende Geste. »Ich bin schon tausend Mal hier oben gewesen, es hat nie jemanden interessiert. Die Wohnung im Dachgeschoss steht seit Urzeiten leer und der Typ, der darunter wohnt, ist fast nie zuhause. Aus den unteren Etagen höre ich manchmal lautes Gebrüll und Kindergeschrei. Kann mir nicht vorstellen, dass es die Leute interessiert, wenn ihnen jemand auf das Dach steigt. Immerhin haben wir nichts Böses im Sinn.«

Ich griff nach Lauries Händen und zog sie ein Stück zu mir heran, um ihr auf die Stirn zu küssen. Unmerklich drehte sie den Kopf weg.

»Für jeden normalen Menschen würde es so aussehen, als wollten wir einbrechen. Ich bin nicht erpicht darauf, eine Kugel in die Brust zu bekommen.«

Ich verdrehte die Augen. »Du machst dir einfach viel zu viele Gedanken. Komm jetzt, der Ausblick wird dich entschädigen.« Ich zog Laurie an der Hand hinter mir her den letzten Absatz der gusseisernen Feuertreppe hinauf, die die Fassaden der Altbauten von New York verunstalteten und das Stadtbild maßgeblich prägten. Ich hatte mir dieses Gebäude schon vor Jahren als Ausguck ausersehen. Es steht günstig in der Nähe der Brooklyn Bridge, in Blickrichtung Manhattan gab es keine höheren Gebäude, die einem die Sicht versperrten. Ich wollte diesen Abend zu etwas Besonderem machen und Laurie meinen Lieblingsplatz zeigen, weil es in den letzten Wochen wirklich nicht gut zwischen uns lief. Ich hatte mich oftmals zurückgezogen und mich in düsteren Gedanken vergraben. Heute Abend wollte ich nicht mehr über die Fehler der Vergangenheit nachdenken und wenigstens für ein paar Stunden mit der Frau allein sein, die ich über alles liebte. Leider schien Laurie nicht halb so begeistert zu sein wie ich. Sie war ein durchweg anständiges Mädchen, das niemals etwas Verbotenes im Sinn hatte. Es war doch nun wirklich nichts dabei, sich das Lichtermeer der Stadt anzusehen, oder? Manchmal merkte ich deutlich, dass Laurie und ich doch ziemlich verschieden waren. Sie war fast acht Jahre jünger als ich und hatte gerade erst den Schulabschluss in der Tasche.

Die Feuertreppe an der Ziegelsteinfassade führte nicht bis ganz hinauf auf das Dach, den letzten Yard würden wir uns hinaufziehen müssen, was für einen sportlichen Typen wie mich kein großes Problem darstellte. Zum Glück wohnte ganz oben niemand, sodass ich auf den Fenstersims treten und mich über die Dachkante schwingen konnte. Ich reichte Laurie meine Hand, die sie nur zögerlich griff. Nachdem ich ihr hinauf geholfen hatte, sah sie sich ängstlich um. Das Dach war flach und es gab keinen Grund zu befürchten, dass man hinunter fiel. Dennoch entfernte ich mich ihr zuliebe drei Schritte vom Abgrund und setzte mich mit angezogenen Knien auf das Dach. Wenn ich allein hierher kam, ließ ich meistens die Beine über die Kante baumeln.

 

Laurie tat es mir gleich und ließ sich neben mir nieder, aber ich hatte noch immer nicht den Eindruck, dass sie es besonders genoss.

Obwohl es bereits Ende September war, war es ein angenehm lauer Abend, es wehte kaum Wind. So mochte ich es am liebsten. Im Sommer kam ich oft hierher um nachzudenken und allein zu sein. Dass ich diesen Ort nun mit Laurie teilte, sollte ein Beweis meines Vertrauens sein. Ob sie das auch so sah?

Laurie trug ein luftiges hellblaues Kleid, das ihr bis über die Knie reichte. Sie stülpte es über ihre angezogenen Beine und legte die Arme darum, unter dem Saum blitzten schwarze Ballerinas hervor. Ihr blondes Haar lag offen auf ihren Schultern, und gelegentlich wehte mir ihr Duft entgegen. Ich legte meinen Arm um sie. Sie sah zu mir auf und lächelte. Es entschädigte mich für all meine düsteren Gedanken der vergangenen Wochen, es lenkte mich für einen Moment sogar von meiner Trauer ab. Seit Carols Tod hatte ich kaum noch Lachen können. Die gedrückte Stimmung hatte sich wie ein schwerer Mantel über unsere Beziehung gelegt.

»Siehst du, wie schön es hier ist?«, fragte ich, um Laurie auf die Besonderheit dieses Ortes aufmerksam zu machen. Sie drehte den Kopf nach vorn, tausende Lichter der Stadt spiegelten sich in ihren Augen. Sie nickte, sagte aber nichts. Ich hatte das Gefühl, dass ihr etwas auf der Seele lag. Wie mir auch ... Ich wusste, dass ich es ihr irgendwann beichten musste. Sie würde mich für verrückt halten, zurecht. Ich trug ein abscheuliches Geheimnis mit mir herum, das mir die letzten Wochen zur Qual gemacht hatte. Ich hätte mich niemals auf den Deal einlassen dürfen, egal, wie groß meine Angst vor dem Tod sein mochte.

Eine Weile lang saßen wir schweigend nebeneinander, lauschten den auf- und abschwellenden Polizeisirenen und dem entfernten Lärm des New Yorker Stadtverkehrs. Von der Straße unter uns tönten Rufe und Lachen herauf, vermutlich eine Gruppe feiernder Jugendliche.

Laurie lehnte ihren Kopf auf meine Schulter. Der Ausblick war atemberaubend. Hinter dem glitzernden East River erhob sich strahlend die Skyline von Manhattan, an dessen südlichem Ende die beiden Türme des World Trade Centers alles überstrahlten. Das Lichtermeer spiegelte sich auf der Oberfläche des Flusses, der unweit von unserem Standort unter der Brooklyn Bridge, die ebenfalls hell erleuchtet war, hindurch floss. So oft schon habe ich den Zauber eines Sommerabends vom Dach der hässlichen Altbauten in Brooklyn miterlebt, und jedes Mal entzückt mich der Anblick aufs Neue. Wenn die Sonne untergeht und sich in Millionen Fenstern spiegelt, wenn abends in Manhattan die Lichter angehen und man sich ganz klein fühlt, kann ich sie immer und immer wieder spüren: die Magie einer Metropole, die mir oft genug ihr hässlichstes Gesicht gezeigt und mich ein ums andere Mal mit diesem Ausblick um den Finger gewickelt hat. Ich bin hier geboren worden, ich habe Dreck gefressen und schlimme Zeiten erlebt, ich habe falsche Freunde gefunden und New York hassen gelernt, und dennoch würde mich nichts auf der Welt jemals hier weglocken können. Wie kann man etwas so sehr verabscheuen und zugleich vergöttern? Aus der Ferne sah NYC ganz friedlich aus, beinahe majestätisch. Kaum zu glauben, dass hinter der hübschen Fassade in so manch windiger Gegend Korruption, Drogenhandel und Gewaltverbrechen an der Tagesordnung waren. Man musste wirklich aufpassen, dass die Stadt einen nicht verschlang und als etwas anderes wieder ausspuckte, als man sein wollte. Von den Schattenseiten bekamen die Touristen indes wenig mit. Sie kamen für ein paar Tage, sahen sich weltberühmte Postkartenmotive in Natura an und entschwanden dann wieder in ihr spießiges Leben und ihre kleinen weißen Reihenhäuser mit Veranda und Vorgarten und behielten romantische Erinnerungen an Manhattan zurück, dem pulsierenden Herz und dem freundlichen Lächeln einer Metropole, die niemals schlief. In vielerlei Hinsicht.

»Laurie?« Ich räusperte mich, denn meine Stimme klang belegt.

»Hm?« Sie sah mich nicht an, sondern starrte noch immer in eine unbestimmte Ferne.

»Liegt dir etwas auf dem Herzen? Ich dachte, der Abend würde dir gefallen.« Ich konnte die Enttäuschung darüber, dass dem anscheinend nicht so war, kaum verbergen.

»Ich werde wegziehen aus New York. Du machst es mir mit diesem Anblick nicht gerade einfach.«

Rums, das hatte gesessen. Wie konnte sie das so nüchtern und gerade heraus sagen, ohne dabei eine Miene zu verziehen? Mir rutschte das Herz in die Hose. »Was soll das heißen: Du gehst weg? Wohin? Weshalb?«

Jetzt sah sie mich doch an, und die Träne, die in ihrem Augenwinkel funkelte, versetzte mir einen Stich.

»Mein Vater hat seinen Job bei der Reinigungsfirma verloren und wie du weißt, habe ich nach der High School noch kein Geld verdient. An College ist da gar nicht zu denken.«

»Wenn es nur um Geld geht, kann ich dir helfen.« Ich war mir darüber bewusst, dass ich ziemlich verzweifelt klang, konnte mich aber nicht beherrschen.

Laurie stieß ein abfälliges Seufzen aus. »Du hast doch selbst nichts! Glaubst du, dein Job in der Werkstatt und der Nebenjob im Sweetwaters könnten eine Familie ernähren? Du weißt doch, wie hoch die Mieten hier sind! Du kannst dich doch selbst kaum über Wasser halten, was meinem Vater übrigens auch ein Dorn im Auge ist. Er wollte immer, dass ich es besser habe als er.«

Das hatte zum zweiten Mal gesessen. Musste sie den Abend zerstören, indem sie mir so weh tat? »Dein Vater sucht doch nur nach einem Grund, um uns auseinander zu bekommen.«

»Er macht sich eben Sorgen. Du bist viel älter als ich!«

»Das hat dich doch sonst nie gestört. Weißt du nicht mehr, dass wir uns geschworen hatten, den Rest unseres Lebens miteinander zu verbringen?« Ich sagte dies im Wissen, dieses Versprechen gar nicht halten zu können. Wir hätten nicht alt miteinander werden können, so oder so nicht. Nicht, dass ich sie nicht mehr liebte als mein eigenes Leben, aber mein Geheimnis zerstörte alles, unwiderruflich.

»Nichtsdestotrotz hat mein Vater entschieden, dass wir wegziehen.« Jetzt weinte sie, und es tat mir unendlich weh. Er konnte sie doch nicht dazu zwingen, mitzugehen!

»Zieh zu mir. Ich kann uns beide durchbringen.«

»Ich lasse meinen Dad aber nicht im Stich. Und Thomas auch nicht. Er ist erst zwölf und wir haben keine Mutter mehr.«

Wut kochte in mir hoch. Oder war es Verzweiflung? »Du willst mich zurücklassen? Wohin geht ihr?«

»Das weiß ich nicht, Dad sagt es mir nicht. Er hat den Umzugswagen für nächste Woche bestellt.« Laurie erhob sich vom Dach und strich ihr Kleid glatt. Es machte den Anschein, als wollte sie gehen. Ich hielt sie am Arm zurück.

»Lass uns den Abend nicht zerstören. Bitte.« Ich war ein harter Kerl, aber dieser Moment brach mir das Herz, und das spiegelte sich in meiner brüchigen Stimme wider. Ich spürte schon seit Wochen, dass unsere schönste Zeit vorüber war, doch dass sie schon nächste Woche ein Ende finden würde, kam mir nun doch etwas zu schnell. Seit Carols Tod und meinen darauf folgenden fatalen Fehler, mich auf etwas Unüberlegtes eingelassen zu haben, war mir bewusst, dass Laurie und ich keine Zukunft hatten. Ich würde mich fortan in den Schatten bewegen müssen, konnte keine langfristigen Beziehungen mehr eingehen. Das war mir klar gewesen, dennoch hatte ich mich an Laurie geklammert. Im Grunde war es gut, dass sie mir die Entscheidung, es zu beenden, abgenommen hatte. Ich hätte nicht die Kraft dazu aufgebracht. Zu ihrem eigenen Schutz hätte sie mir nicht mehr nahe sein dürfen, zu schrecklich ist mein Geheimnis. Dennoch übermannten mich nun Trauer und Verzweiflung. Ich zog Laurie zu mir heran, sie legte ihre Arme bereitwillig um mich und küsste mich. Sie schmeckte salzig von den Tränen, die sie vergossen hatte. In diesem Moment zerbrach etwas in mir, weil ich mir sicher war, die Liebe meine Lebens verloren zu haben.

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