Saphirherz

Текст
Автор:
0
Отзывы
Читать фрагмент
Отметить прочитанной
Как читать книгу после покупки
Шрифт:Меньше АаБольше Аа

Ich fuhr herum, weil die Tür hinter mir knarrte. Augenblicklich stieg Wut in mir auf, als ich in ein altbekanntes Gesicht sah.

»Was willst du hier? Verpiss dich!« Ich räusperte mich, weil meine Stimme vom langen Schweigen belegt war.

»Ich wollte mich nur kurz verabschieden. Ist doch mein Recht, oder?«

In einer automatisierten Bewegung sprang ich vom Stuhl auf, verkrampfte die Muskeln und ballte die Hände neben dem Körper zu Fäusten. »Bist du wieder betrunken? Du hast von allen Menschen das wenigste Recht, Carol noch einmal zu sehen. Hau ab!« Ich konnte nichts dagegen tun, dass ich laut wurde und ihn anschrie. Er widerte mich an. Er trug einen fleckigen Pullover und eine speckige Baseballcap, unter seinen Augen leuchteten tiefe dunkle Ringe.

»Sie war meine Tochter! Von dir lasse ich mir doch nichts vorschreiben, Bürschchen!« Er tat einen Schritt auf mich zu und hob drohend die Hand, nahm sie jedoch wieder herunter. Ich war nicht mehr der schwache kleine Junge, den man ungestraft schlagen konnte. Ich überragte meinen Vater um eine halbe Kopflänge.

»Wenn sie dir je irgendetwas bedeutet hat«, ich senkte bedrohlich die Stimme, »gehst du jetzt und lässt ihr ihren Frieden. Sie hätte dich nicht sehen wollen. Wo warst du, als es ihr schlecht ging? Wer hat ihre Hand gehalten, wenn sie Schmerzen hatte? Du etwa? Spiel bloß nicht den liebenden Vater, sondern zieh Leine und misch dich nie wieder in mein Leben ein.«

»Natürlich, weil du auch ein Heiliger bist, der nie etwas falsch gemacht hat!« Er stand so nah vor mir, dass ich den Alkohol in seinem Atem riechen konnte. »Du machst mit Minderjährigen rum, findest du das gut?«

»Was hat Laurie damit zu tun? Lass sie aus dem Spiel!« Jetzt wurde ich doch wieder laut, obwohl ich es mir verkneifen wollte.

Die Tür knarrte erneut. Eine zierliche blonde Krankenschwester streckte den Kopf durch den Türspalt. »Was ist hier los? Meine Herren, ich muss sie bitten zu gehen, wenn sie sich respektlos verhalten. Es ist ohnehin schon spät.« Sie warf mir einen mitleidigen Blick zu. »Sie sind seit Stunden hier ohne etwas gegessen oder getrunken zu haben.«

Ich knurrte und presste den Mund zu einem schmalen Strich zusammen, erwiderte aber nichts. Mit einem Mal überkam mich ein Fluchtinstinkt. Ohne meinen Vater noch eines Blickes zu würdigen, drehte ich mich noch einmal zu Carol um. Ich kämpfte mit den Tränen. Dann wandte ich mich ab und stapfte aus dem Krankenzimmer, wobei ich meinen Vater, der die Bezeichnung nicht verdiente, anrempelte. Die Krankenschwester sprang vorsorglich aus dem Weg. In mir brodelte ein Vulkan aus Wut und Verzweiflung. In diesem Zustand würde ich heute nicht mehr zu Laurie fahren. Die Gefahr war zu groß, dass ich mich daneben benahm. Ich war völlig neben der Spur. Der Tod meiner Schwester riss mir den Boden unter den Füßen weg. Weshalb starben Menschen? Weshalb ausgerechnet sie? Weshalb so qualvoll? Es schauderte mich bei dem Gedanken, so zu enden wie sie. Ich habe für sie stark sein müssen, habe mir nicht anmerken lassen dürfen, dass mich ihr Anblick entsetzte. Jetzt brachen die Emotionen aus mir heraus, allem voran nackte Angst. Sie war meine Zwillingsschwester gewesen, trug auch ich die Krankheit wie eine tickende Zeitbombe in mir? Verdammt, ich hatte Angst!

Als ich in die kühle Nachtluft und den peitschenden Regen vor dem Krankenhaus hinaus trat, fasste ich einen Entschluss: Ich würde eine Möglichkeit finden, den Tod zu überlisten. Mich würde er nicht holen, koste es, was es wolle ...

***

Seit über einer halben Stunde ratterte der Zug schon Richtung Süden. Lilly war an der New Jersey Transit Middletown Train Station eingestiegen und hatte sich mit ihrem riesigen Koffer in eine freie Viererbank gesetzt. Mit pochendem Herzen hatte sie die ganze Zeit über aus dem Fenster geschaut. Die Fahrt bis zur Pennsylvania Station in Manhattan sollte nur vierzig Minuten dauern. Lilly hatte kurz darüber gestaunt, wie schnell man diesen Sündenpfuhl erreichen konnte. Damals, als sie zur Identifizierung der Leiche ihrer Mutter nach NYC gefahren war, hatte ihre Tante Joy sie mit dem Auto gebracht. Lilly hatte keine Erinnerungen mehr daran, es war wie ein Filmriss in ihrem Gedächtnis. Davor und danach war sie nie in New York City gewesen.

Für die Zugfahrt hatte sie einundzwanzig Dollar bezahlt, eine Summe, die zwar ein Loch in ihr mageres Budget riss, aber als Investition in die Zukunft geopfert werden musste. Das Telefongespräch mit Gabriel Black, dem Besitzer des Moonbeam Bar & Restaurant, war kühl und nüchtern verlaufen, er hatte ihr jedoch angeboten, sich das Lokal anzusehen, zur Probe zu arbeiten und bei beiderseitigem Gefallen dauerhaft zu bleiben. Lilly hatte es überrascht, dass es so schnell ging und fragte sich, wo der Haken war. Immerhin hatte er sie noch nie gesehen. Mr. Black war jedoch sehr angetan gewesen, als sie erzählte, dass sie bereits Erfahrungen im Hotelbetrieb gesammelt hatte. Vermutlich hatten sich sonst nur verwahrloste drogenabhängige Penner um die Stelle beworben, die in ihrem ganzen Leben noch keinem festen Tagesrhythmus nachgegangen waren. In Lillys Vorstellung bestand fast ganz New York City aus dieser Spezies Mensch, es hätte sie eigentlich nicht verwundern sollen. Die Tatsache, dass Mr. Black sie sofort zum Probearbeiten eingeladen hatte, milderte diesen Eindruck nicht gerade ab. Wer Lilly mit Kusshand nahm, musste wirklich schlechte Erfahrungen gemacht haben.

Ihrer Cousine hatte sie natürlich nicht die Wahrheit erzählt. Sie konnte sich ihr Gesicht mit den skeptisch nach oben gezogenen Augenbrauen bildlich vorstellen. Eine Miene, die nach 'Hast-du-den-Verstand-verloren?!' schrie. Nun ja, vielleicht hatte sie das tatsächlich. Anders konnte sie sich selbst nicht erklären, weshalb sie im Zug nach NYC saß. Eine Kurzschlussreaktion, die, wenn sie Glück hatte, endlich eine positive Wendung in ihr Leben brachte, wobei die Begriffe 'positiv' und 'New York City' eigentlich nicht zusammenpassten. Selbstverständlich hatte Lilly sich eine Hintertür offen gelassen, indem sie Alexis erzählt hatte, sie würde lediglich mit alten Schulfreunden ein paar Tage verreisen, weshalb sie nur mit einem großen Koffer aufgebrochen war. Sollte die Sache ein Reinfall werden, könnte sie nach ein paar Nächten in einem billigen Hotel noch immer zu Alexis zurückkehren, und niemand würde je Fragen stellen. Sollte es wider Erwarten mit dem Job und einer Unterkunft klappen, würde sie ihre restlichen Habseligkeiten abholen und Alexis mit einem breiten Grinsen im Gesicht verkünden, dass sie nun ihr eigenes Leben führen würde. Natürlich tat es ihr weh, ihre Heimatstadt und das Grab ihrer Mutter zurückzulassen, aber Middletown war nicht aus der Welt. Vierzig Minuten Zugfahrt lagen absolut im grünen Bereich.

Lilly hatte gehofft, auf der Fahrt einen ersten Eindruck von der Stadt zu erhaschen, aber der Zug war bereits viele Meilen vor New York in einen unterirdischen Tunnel eingetaucht. War vielleicht auch besser so, dachte Lilly. Sonst hätte ich womöglich direkt einen Schock bekommen. Bei ihrem letzten und einzigen Besuch in der Stadt war es bereits dunkel gewesen und es hatte in Strömen geregnet. Lilly hatte damals keine Augen für ihre Umgebung gehabt. Jetzt war es drei Uhr nachmittags. Unruhe und Nervosität machten sich in ihr breit. Ihre verschwitzten Finger krampften sich um den Griff ihres Koffers, als eine blechern klingende Computerstimme die Endhaltestelle ankündigte. Der Zug bremste ab und führ quietschend aus dem dunklen Tunnel in ein hell erleuchtetes Gleis ein. Lilly atmete durch und ließ sich mit der Menschenmenge aus der Tür drängen. Auf dem Bahnsteig herrschte Betriebsamkeit wie in einem Ameisenstaat. Es ging auf die Rush Hour zu, kein guter Zeitpunkt, um in einen Bahnhof einzufahren, der täglich über sechshunderttausend Passagiere aufnahm.

Sie schleppte ihren schweren Koffer die Treppe hinauf ins erste Untergeschoss des Bahnhofs. Die Leute um sie herum rempelten sie an und hetzten an ihr vorbei, ohne sie auch nur anzusehen. Jeder schien es eilig zu haben. Einige Jugendliche trugen knallbunte Jacken und ebenso grelle Schuhe, ihre Haare waren nicht weniger farbenfroh. Der Geräuschpegel war enorm.

Lilly suchte vergebens nach einem Ticketautomat für die New Yorker U-Bahn, schleifte ihren Koffer planlos hin und her durch die Bahnhofshalle und musste schließlich doch jemanden um Rat fragen, eine dralle dunkelhäutige Dame am Infoschalter, die auffällig Kaugummi kaute.

Der Automat befand sich in einer finsteren Ecke im hintersten Winkel der fensterlosen Halle. Davor hatte sich eine lange Schlange gebildet. Als Lilly es nach weiteren zwanzig Minuten endlich geschafft hatte, dem Automaten das Ticket zu entlocken, wischte sie sich den Schweiß von der Stirn und ließ sich erst einmal auf ihrem Koffer nieder, um durchzuatmen. Wobei 'durchtatmen' relativ war, denn es war stickig und stank nach einer Mischung aus Parfüm, Schweiß und anderen Dingen, die sie nicht benennen wollte. Wo war sie denn hier bloß gelandet? Wenn der Rest der Stadt genauso aussah, dann wünschte sie sich schon jetzt auf Alexis' Couch zurück.

Als Lilly wieder zu Kräften gekommen war, stieß sie ein Seufzen aus, griff in ihre Jackentasche und faltete den U-Bahnplan aus, den sie am Infoschalter bekommen hatte. Ihre Tante Rose, zu der sie zu gelangen gedachte, wohnte in der einundfünfzigsten Straße. Zwei Stationen mit der U-Bahn, die blaue Linie, uptown. Das schien eine machbare Aufgabe zu sein. Lilly hatte kein gutes Gefühl bei der Sache, zudem hatte sie die Schwester ihrer Mom telefonisch nicht erreichen können. Sie hatte lediglich eine Adresse aus einem alten Notizbuch ihrer Mutter. Joy und Rebecca hatten mit der dritten Schwester, die es schon in jungen Jahren in die Großstadt gezogen hatte, zuletzt nicht mehr viel Kontakt gehabt. Lilly hoffte jedoch, dass Rose sich noch an sie erinnern würde. Sie würde nicht von ihr verlangen, Lilly bei sich aufzunehmen (obwohl das natürlich grandios wäre), aber vielleicht konnte sie ihrer Nichte wenigstens ein paar Tipps geben oder günstige Unterkünfte empfehlen. Es konnte nicht schaden, eine Kontaktperson, der man vertraute, an seiner Seite zu wissen. Hier konnte man vermutlich sonst niemandem trauen.

 

Lilly betrat den gesicherten Bereich der U-Bahn, indem sie ihr Ticket durch das Lesegerät zog und ein Drehkreuz passierte. Sie schleifte ihren Koffer durch eine ganze Anzahl dreckiger schmaler Gänge, immer den Schildern hinterher, die sie letztlich eine Treppe hinunter und auf einen Bahnsteig lotsten, der zumindest so aussah, als sei sie hier richtig. Viele Menschen warteten bereits auf die nächste Bahn, die meisten von ihnen hoben nicht einmal den Blick, als Lilly an ihnen vorüber ging. Sie waren mit ihren Smartphones beschäftigt, manche lasen in einem Buch. Besonders gefährlich sahen die Leute zumindest nicht aus, was Lilly vorerst ein Gefühl der Sicherheit gab. Von irgendwoher drang Musik an ihre Ohren. Es hörte sich an, als würde jemand Gitarre spielen und dazu singen.

Die Bahn fuhr ein, Lilly quetschte sich mit hunderten Mitreisenden in den Mittelgang und bekam ein winziges Stück von der Haltestange zu fassen, ehe sich der Zug ratternd und polternd in Bewegung setzte.

An der zweiten Station, die genauso aussah wie jene, an der sie eingestiegen war, ließ Lilly sich mit dem Menschenstrom aus der Bahn und die Treppe hinauf mitreißen. Sie verließ die U-Bahnstation durch ein Drehkreuz und stieg eine weitere Treppe hinauf, endlich dem Tageslicht entgegen. Oben angekommen, blieb sie stehen, setzte den Koffer ab und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Es war ein sonniger Tag. Zumindest glaubte sie, dass er sonnig war, denn die Sonne erreichte zwischen den Häuserschluchten kaum den Asphalt, dazwischen sah man nur einen schmalen Streifen blaugrauen Himmels. Lilly legte den Kopf in den Nacken und betrachtete die Gebäuderiesen, die die Straße säumten. Hinter ihr drängten bereits die Menschen, die mit der nächsten U-Bahn gekommen waren, die Treppe hinauf und vermischten sich rasch mit der Menge, die sich auf den Bürgersteigen wie ein gewaltiger Schwarm Insekten vorwärts schob. Auf einer mehrspurigen Straße rollte eine Blechlawine durch das Tal aus Wolkenkratzern, überwiegend waren es gelbe Taxis, Firmentransporter oder Busse. Die Fahrer hupten unablässig, als hätten sie sich zu einem Konzert verabredet. Von weiter her vernahm Lilly auf- und abschwellende Polizeisirenen. Sie konnte den Schock kaum unterdrücken.

Was habe ich geglaubt? Dass man sich hier mit Pferdekutschen fortbewegte und sich gegenseitig 'guten Tag' sagte?

Nein, dies war anders als Middletown, das beschauliche Örtchen, wo jeder jeden kannte und man keinen Schritt vor die Tür trat, ohne von mindestens fünf neugierigen Nachbarn beäugt zu werden. Dies hier schien der Vorhof der Hölle zu sein, aber unbestreitbar faszinierend, auf seine ganz eigene Art. Lilly konnte sich noch nicht vorstellen, hier ein neues Leben zu beginnen, aber sie biss auf die Zähne und kramte den Stadtplan aus ihrer Umhängetasche hervor.

Laut der Adresse im Notizbuch ihrer Mutter hatte Rose zuletzt in der westlichen einundfünfzigsten Straße gewohnt, Nummer 420. Das bedeutete, dass Lilly von der U-Bahnstation nur einen Häuserblock westwärts gehen musste. Wie praktisch. Aber wo war Westen? Die Sonne konnte sie nicht sehen, auch gab es keine Beschriftungen an den Häusern, die darauf hingewiesen hätten, wo Westen und wo Osten war. Lilly packte den Griff ihres Koffers (der zum Glück über Rollen verfügte) und reihte sich kurzerhand in den Strom der Menschen ein. Sie passierte mehrere kleine Läden mit niedrigen Eingangstüren, die sich aneinander quetschen und um den Raum in den Erdgeschossen der Wolkenkratzer konkurrierten. In den winzigen Schaufenstern blinkte es ihr von zahlreichen Neonreklamen entgegen. An der nächsten Straßenecke wies ein Schild auf die neunte Avenue hin, die den Distrikt laut Karte von Norden nach Süden durchzog. Lilly war also in die richtige Richtung gegangen. Nur noch über die nächste Kreuzung, dann wäre sie ihrem Ziel schon ganz nahe.

Sie erschrak, als ein Taxi direkt neben ihr hupte. Der Fahrer kurbelte das Fenster herunter. »Sind Sie irre?! Es ist rot!« Dann brauste er davon. Lilly tat einen Schritt zurück auf den Bürgersteig. Ihr Herz klopfte wie wild und sie spürte, wie sie rot anlief. Aber niemand glotzte sie an oder schüttelte seinen Kopf auf eine Art, die unmissverständlich darauf hinweisen würde, dass man sie für dumm hielt. Es interessierte schlichtweg niemanden, dass man sie beinahe überfahren hätte.

Auf der anderen Straßenseite prangte eine mit roten LEDs beleuchtete Hand an einem Schild. Die Ampel. Natürlich. Lilly hatte in ihrem Eifer nicht darauf geachtet. In Middletown gab es fast ausschließlich Zebrastreifen, und die meisten Autofahrer hielten sich an die Gesetze.

Als sich die aus roten Lichtpunkten bestehende Hand in ein grünes Strichmännchen verwandelte, setzte die Masse sich in Bewegung und schob Lilly mit sich über die Straße.

Unweit hinter der Kreuzung erreichte Lilly ihr vorläufiges Ziel, jedoch versperrte ein Bauzaun den Zugang zu den Hausnummern 418 bis 425. Die Häuser hinter dem Zaun waren achtstöckig, sahen jedoch nicht so aus, als würde in irgendeiner Etage noch jemand wohnen. Lillys Hoffnung sank, ein kurzer Anflug von Panik durchflutete sie. Die Fenster des beigen Sandsteingebäudes mit der Stuckfassade von Hausnummer 420 starrten sie aus leeren Höhlen an, es gab keine Fensterscheiben. Aus dem Gebäudeinneren drang das Geräusch einer Kreissäge und lautes Gehämmer bis zu ihr hinab. Oh je. Unmöglich, dass ihre Tante dort wohnte. Sie sah noch einmal auf den Zettel in ihrer Hand, die Adresse stimmte.

»Miss, kann ich Ihnen helfen?« Lilly fuhr herum. Hinter ihr stand ein Mann, vermutlich einer der Bauarbeiter, wie sich aus seiner Arbeitshose und dem gelben Plastikhelm ableiten ließ. Er war schon jenseits der vierzig und trug einen Oberlippenbart, der schon im vorletzten Jahrzehnt aus der Mode gekommen war.

»Ich suche Rose Lenwood. Angeblich soll sie hier wohnen, in Hausnummer 420.« Sah sie wirklich so verloren und verlassen aus, dass sie sogar schon von einem dreckigen Bauarbeiter angesprochen wurde, der sicherlich Besseres zu tun hatte, als sich um die Probleme seiner Mitmenschen zu kümmern?

»Der letzte Mieter ist schon vor Monaten ausgezogen. Der Eigentümer hat gewechselt und lässt hier Luxusapartments entstehen. Die Dame wohnt ganz sicher nicht mehr hier, dafür kann ich garantieren.«

Lilly nickte dem Arbeiter höflich zu. »Danke für die Auskunft. Dann muss ich mir wohl etwas anderes überlegen.«

»Hundert Yards die Straße hinunter ist ein Postamt, dort gibt es Telefonbücher. Vielleicht werden Sie dort fündig.«

Lilly bedankte sich abermals, bevor der Arbeiter durch eine Tür im Bauzaun verschwand.

Das Postamt war leicht zu finden, es befand sich tatsächlich in unmittelbarer Nähe. Was Lilly zunächst wie ein vielversprechender Ansatz erschien, ließ sie letztlich jedoch enttäuscht zurück. In den Telefonbüchern (von denen es unzählige gab, für jeden Stadtteil mehrere) gab es zig Lenwoods, alle abzutelefonieren war unmöglich. Lilly ärgerte sich über sich selbst. Weshalb hatte sie im Vorfeld nicht besser recherchiert? Sie hatte sich blind auf die Adresse im Notizbuch verlassen, jetzt bekam sie die Konsequenzen dieser Dummheit zu spüren.

Frustriert und demotiviert trat sie auf die Straße zurück, der schwere Koffer zog an ihrem Schultergelenk. Kurz spielte sie mit dem Gedanken, sich sofort ein Ticket zurück nach Middletown zu kaufen, doch dann fiel ihr wieder ihre Cousine ein. Alexis würde wissen wollen, weshalb aus dem Kurzurlaub mit Lillys Freunden nichts geworden war. Außerdem hatte sie morgen einen Vorstellungstermin im Moonbeam, zumindest den wollte sie noch wahrnehmen, ehe sie das Projekt New York ad acta legte. Sie rechnete ohnehin mit einer Ernüchterung.

Lilly strich sich eine störrische Strähne aus der Stirn, atmete einmal tief ein (schlechte Idee, sie saugte Abgase in ihre Lunge und bekam einen Hustenanfall), ehe sie sich in östlicher Richtung zurück zur U-Bahnstation in Bewegung setzte. Irgendwo in dieser gottverdammten Stadt würde sie schon ein billiges Hotel finden - davon gab es hier angeblich tausende.

***

Dort hinten war es also. Aus einer Distanz von fünfzig Yards sah es gar nicht mal so schlecht aus, auch die Gegend schien längst nicht die schlimmste zu sein, die New York zu bieten hatte. Lilly klemmte sich zum wiederholten Mal eine Strähne zurück in den Knoten, den sie sich am Hinterkopf gebunden hatte. Eine Festtagsfrisur sah anders aus, aber für einen Vorstellungstermin musste es reichen. Sie hatte nicht das Geld, um zuvor noch einmal einen Friseur sein Glück bei ihrer wilden Haarpracht versuchen zu lassen. Und außerdem bewarb sie sich schließlich nicht um einen Job in der Wallstreet. Nein, dies war das Moonbeam, ein durchschnittliches amerikanisches Diner, nicht nur geografisch ziemlich weit entfernt vom Zentrum von Macht und Geld.

Lilly sah in ihren Taschenspiegel. Gegen die Augenringe ließ sich leider nichts unternehmen, auch nicht gegen ihre tausend Sommersprossen. Sie sah aus, als hätte sie die ganze Nacht nicht geschlafen - und das entsprach sogar der Wahrheit. Nach einem Hotel hatte sie nicht lange suchen müssen, nur drei Häuserblocks vom ehemaligen Wohnsitz ihrer Tante entfernt war ihr das beleuchtete Schild an der Hauswand eines nicht allzu imposanten Gebäudes aufgefallen (es hatte nur sechs Stockwerke, für Middletowner Verhältnisse ein riesiger Klotz, in New York eher eine Hundehütte). Es wurde als 'Bright Stars Hotel' beworben, wobei das 'a' bedenklich schief an der Wand hing. Lilly bezweifelte zwar, dass irgendein New Yorker unter der Glocke aus Dunst und künstlichem Licht jemals hell erleuchtete Sterne gesehen hatte, aber vielleicht war der Betreiber nicht von hier. Oder ein Träumer. Oder ein hoffnungsloser Optimist. Wie auch immer. Von außen hatte das Hotel zumindest nicht den Eindruck vermittelt, als sei es ein Tummelplatz für Ratten, die Fenster schienen einigermaßen sauber zu sein. Alexis hatte immer gesagt, dass man anhand des Zustandes der Fenster eine Menge über die allgemeine Sauberkeit erfuhr. Tatsächlich hatte sich das winzige Hotel mit den gerade einmal zwanzig Zimmern als eine würdige Unterkunft erwiesen. Es gab frische Handtücher und saubere Bettwäsche. Das Mobiliar war jedoch alt und ziemlich abgenutzt und auch das Badezimmer hatte schon bessere Zeiten erlebt. Alexis hätte vermutlich die Hände über dem Kopf zusammen geschlagen, aber Lilly war weder verwöhnt noch wählerisch. Ihr Geldbeutel teilte ihre Meinung.

In der Nacht hatte sie kaum eine Stunde am Stück geschlafen. Obwohl sie das Fenster geschlossen hatte, war der Lärm der Straße einfach nicht zu ignorieren gewesen. Ständiges Sirenengeheul, Autohupen und knatternde Motoren. Ob man sich jemals daran gewöhnte?

Lilly seufzte, strich ihre Bluse glatt, die im Koffer ein wenig gelitten hatte, und ging auf das Lokal zu. Sie rechnete ohnehin damit, in drei Tagen wieder im Zug zurück nach Middletown zu sitzen und ihren Ausflug in die Großstadt als Erfahrung zu verbuchen. Aber zuvor würde sie diesen Termin hinter sich bringen, das gebot ihr Anstand und ihr Pflichtgefühl.

Von außen war das Moonbeam ein unscheinbares Lokal. 'Bar & Restaurant' klebte als rote schwungvolle Schrift über die komplette Breite der Glasfront. In der Mitte das Logo: ein Halbmond mit Sonnenbrille. Neben der Tür prangte eine Speisekarte. Lilly hatte sie sich natürlich zuvor schon im Internet angesehen. Der übliche Standard, Drinks und ein paar warme Snacks. Nichts, das sie nicht aus ihrer Zeit im Middletown Hotel kannte. Lediglich die Preise waren gesalzen, aber das schien in New York nicht ungewöhnlich zu sein, ungeachtet der Qualität.

Über der Tür bimmelten kleine Glöckchen, als Lilly das Lokal betrat. Es war leer, niemand saß in den Sitzbänken oder auf den Barhockern. Es war elf Uhr am Vormittag, das Moonbeam hatte gerade erst geöffnet. Einige Details erkannte Lilly von der Webseite wieder: Der große Flachbildfernseher oder die riesige amerikanische Flagge, die sich an der Decke spannte. Das Interieur bestand aus dunklem glänzenden Holz, neben den Tischen und den gepolsterten Bänken gab es einen Billardtisch und eine Dartanlage. Ansonsten nichts, das es in jedem anderen Lokal nicht auch gegeben hätte. Jede Menge Flaschen und Gläser türmten sich in den Regalen hinter dem Tresen, daneben eine Tür und eine Durchreiche, vermutlich zur Küche. Hinter dem Billardtisch war eine weitere Tür, auf der ein Blatt Papier handschriftlich darauf hinwies, das der dahinter liegende Raum nur vom Personal betreten werden durfte.

 

Die Tür öffnete sich und ein großer schlanker Mann trat heraus. Er lächelte freundlich, aber aufgesetzt. Eben so, wie man lächelt, wenn man Kunden bedienen muss, auf die man eigentlich keine Lust hat.

»Möchten Sie etwas trinken? Unsere Küche hat noch nicht geöffnet, warme Speisen gibt es erst in etwa einer Stunde.«

»Ich... ähm ...komme wegen des Vorstellungstermins.«

Für die Dauer eines Augenblicks arbeitete es im Hirn des Mannes, das sah man ihm deutlich an. Er hatte ein schmales Gesicht, durch das sich einige Falten zogen, die Schläfen seines ansonsten dunklen Haars waren bereits ergraut. Lilly schätzte ihn in den Vierzigern.

»Miss Bates? Das hatte ich ja beinahe vergessen.« Er sah auf die Uhr und stieß einen kleinen Seufzer aus, als passte es ihm überhaupt nicht, sich mit Lilly beschäftigen zu müssen. Er war ihr schon jetzt unsympathisch. Das konnte ja heiter werden.

Er trat auf sie zu und streckte ihr die Hand entgegen, Lilly griff danach. Sein Händedruck war ziemlich fest, beinahe schon schmerzhaft. »Kommen Sie mit in mein Büro. Mason müsste jeden Augenblick hier sein, er kann sich um die Bar kümmern. Ist ohnehin selten, dass so früh schon Gäste hier sind. Ich bin übrigens Gabriel Black, mir gehört der Schuppen.« Natürlich wusste Lilly das, immerhin hatten sie miteinander telefoniert. Dass er es extra erwähnte, machte ihn nicht sympathischer.

Lilly nickte freundlich und lächelte verkniffen. »Lillian Bates, sehr erfreut.«

»Und Sie sind von Middletown hergekommen, um sich bei uns um einen Job zu bewerben?« Mr. Black zog skeptisch die Augenbrauen hoch, als könne er nicht fassen, dass jemand freiwillig bei ihm arbeiten wollte.

Nein, ich bin hergekommen, weil ich gerne zu Dekorationszwecken in ihrem Lokal herumstehe, dachte Lilly.

»Ist das so ungewöhnlich?«, fragte sie stattdessen.

Er machte eine beschwichtigende Geste und lächelte nun wieder. »Nein, natürlich nicht. Aber gerade in der Gastronomie gibt es doch viele Jobs, erst recht jetzt im Sommer, wenn die Touristen in Scharen kommen. Die meisten, die sich in den Bars und Restaurants der Stadt vorstellen, sind ungelernte Hilfskräfte, die noch nie ein Tablett balanciert haben. Natürlich kommen auch Leute von weiter her, die meisten mit unrealistischen Vorstellungen. Sie kommen, weil es hip ist, in Manhattan zu arbeiten. Sogar Ausländer ohne Arbeitserlaubnis fragen andauernd nach Jobs. Sie glauben nicht, wie schwierig es ist, brauchbares Personal zu finden, und das bei acht Millionen Einwohnern! Sie haben am Telefon gesagt, Sie hätten Berufserfahrung im Hotelgewerbe, da wundere ich mich einfach nur, was sie dann ausgerechnet in mein Lokal treibt. Ich kann mein Glück ja kaum fassen.« Er zwinkerte. »Sie bekommen doch sicherlich überall einen Job.«

Will er mich jetzt etwa überreden, doch nicht bei ihm anzufangen? »Middletown ist keine Touristenstadt, die meisten jungen Leute wandern früher oder später in die Metropolen ab, weil es keine Arbeit gibt.« Lilly kam sich seltsam ertappt vor. Sie hatte im letzten Jahr keine allzu großen Anstrengungen unternommen, um Arbeit zu finden. Vielleicht hatte Mr. Black recht und sie hätte auch in der näheren Umgebung eine Beschäftigung gefunden. Es war schon ein wenig seltsam, dass sie jetzt ausgerechnet in New York in einer Bar stand und sich um diesen Job bewarb.

»Verstehen Sie mich nicht falsch, ich möchte Sie natürlich nicht davon abhalten, in unsere wunderschöne Stadt zu kommen. New York ist etwas ganz Besonderes und übt zweifellos magnetische Anziehungskräfte aus.«

Lilly nickte, obwohl sie seine Meinung nicht teilte. Sie hätte nie freiwillig einen Fuß in eine Großstadt gesetzt, wenn die Not sie nicht dazu gezwungen hätte. Magnetische Anziehungskräfte? Unter all den Eisennägeln war sie vielleicht ein Holzsplitter.

»Dann lassen Sie uns in mein Büro gehen und alles Weitere besprechen.« Mr. Black wandte sich gerade ab, als die Glöckchen über der Eingangstür erneut bimmelten. Er hielt in der Bewegung inne und drehte sich über die Schulter hinweg um. »Ah, Mason. Guten Morgen!«

Ein junger Mann, etwa Mitte zwanzig, betrat das Lokal. Er balancierte einen Karton auf der Schulter, den er mit einem Arm umfasste. Der Ärmel seines weiten grauen T-Shirts war ihm bis auf die Schulter herunter gerutscht und entblößte ein stattliches Muskelpaket, ohne übertrieben zu wirken.

»Guten Morgen, Mr. Black. Ich habe den Zucker besorgt. Es ist unerträglich voll auf den Straßen, und das um diese Uhrzeit! Da sollte man doch meinen, dass die Leute alle auf der Arbeit sind.«

»Hauptsache, du bist jetzt endlich da. Bring den Karton in die Küche und behalte danach bitte den Gastraum im Auge. Ich möchte mich mit Miss Bates im Büro unterhalten.«

Der Mann, den Mr. Black mit Mason angesprochen hatte, drehte sich ein wenig, um am Karton vorbei einen Blick auf Lilly werfen zu können. Seine Miene verzog sich dabei nicht einmal ansatzweise. Unmöglich zu deuten, was in ihm vorging. Er hatte kühle eisblaue Augen, die zwischen dunklen, wuscheligen Haaren hervorblitzten. Ein Bartschatten lag auf seinen Wangen, ohne jedoch ungepflegt zu wirken. Lillys Herz machte einen Hüpfer, für den sie sich sogleich tadelte. Zweifellos war der Kerl ein arroganter Schönling, der vermutlich jedes Wochenende eine andere im Bett hatte.

»Darf ich vorstellen? Das ist Mason Sutherland, Barkeeper und Mädchen für alles«, sagte Mr. Black an Lilly gewandt.

Aha, der optimale Job also, um Weiber abzuschleppen. Dachte ich's mir doch.

Mason nickte knapp, wandte sich wieder ab und verschwand mit dem Karton in der Tür zur Küche. Mr. Black bedeutete Lilly mit einer Geste, ihm ins Büro zu folgen.