Saphirherz

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Lilly entging der Vorwurf in ihrer Stimme nicht. »Musst du eigentlich dauernd darauf herumreiten? Glaubst du, mir gefällt es, dass ich das Haus verkaufen musste?«

Alexis baute sich mit verschränkten Armen vor ihr auf, aber Lilly reagierte nicht auf die Provokation. Sie ließ sich auf ihr Nachtlager fallen und gähnte erneut.

»Wovon bist du eigentlich müde? Du tust doch den ganzen Tag nichts!«

Jetzt überschritt Alexis eindeutig eine Grenze. »Ich habe den ganzen Abend für Mr. Bennett geschuftet, ist das nichts? Glaubst du, du hättest einen anstrengenden Job? Du sitzt mit deinem Hintern den ganzen Tag hinter der Kasse! Super, Alexis, da hast du es aber weit gebracht!« Lilly biss sich auf die Unterlippe. Sie hatte sich vorgenommen, sich nicht mehr provozieren zu lassen, aber ihre Nerven lagen seit Monaten blank. Sie kämpfte die Tränen der Wut nieder und wandte sich ab, damit Alexis nicht sehen konnte, wie verletzt sie war. In Wahrheit hätte Lilly alles dafür gegeben, den Job ihrer Cousine im Walmart machen zu dürfen. Sie hätte jeden Tag zu Fuß zur Arbeit gehen können, denn das Kaufhaus war nur knapp eine Meile entfernt.

»Du befindest dich nicht in der Position, so mit mir zu reden!« Wenn Alexis' Stimme dunkel uns leise wurde, war Vorsicht geboten. »Immerhin finanziert mein Job unser Leben. Was man von deinem nicht gerade behaupten kann. Setz dich endlich auf den Hosenboden, Lillian Bates! Du vergräbst dich in Selbstmitleid und gibst allem und jedem die Schuld an deiner Situation. Rebecca ist seit fast einem Jahr tot, aber bei dir herrscht noch immer Stillstand. Das Leben geht weiter, und je eher du das kapierst, desto besser für uns beide.«

Lilly vergrub ihr Gesicht in ihre Hände, um Alexis nicht in die Augen sehen zu müssen. Eine heiße Träne quoll zwischen ihren Fingern hervor. Dann hörte sie, wie die Schlafzimmertür donnernd ins Schloss fiel. Wut und Hass kochten in ihr hoch. Ihre Aggressionen richteten sich für den Moment gegen ihre Cousine, aber tief in ihrem Inneren wusste Lilly, dass Alexis recht hatte. Die Erkenntnis schmerzte entsetzlich. Lilly lebte nur von Tag zu Tag, weil sie eine Veränderung nicht ertragen konnte. Sie glaubte, jede Änderung wäre ein Verrat an ihrer Mutter. Das Haus zu verkaufen hatte ihr bereits das Herz gebrochen, wie sollte sie dann je die Stadt verlassen? Hier lag Rebecca begraben, hier waren ihre Wurzeln. Aber hier gab es leider keine Arbeit. Middletown war eine winzige Stadt, ein Symbol ungezügelter Spießigkeit. Es gab einen Walmart, eine Bank, eine Schule und früher einmal ein Hotel, in dem Lilly gejobbt hatte. Die meisten Einwohner arbeiteten außerhalb, aber die besaßen für gewöhnlich auch ein Auto ...

Eine Stimme in ihrem Inneren sagte Lilly, dass sie endlich loslassen musste. Es konnte nicht ewig so weiter gehen. Wollte sie auf Alexis' Couch alt werden? Sicherlich nicht.

Lilly erhob sich schwerfällig, ging ins Bad, putzte sich die Zähne, löschte das Licht und ließ sich zurück aufs Sofa fallen. Was für ein beschissener Tag!

***

03.05.1987, New York City

Mit einem Gluckern versickerte das Dreckwasser im Ausguss und hinterließ einen schmierigen schwarzen Film auf der weißen Keramik. Erneut verteilte ich Seife auf meinen Handflächen, verrieb sie zu einem cremigen Schaum und schrubbte mir die Fingernägel mit der Nagelbürste, doch das Ergebnis wurde kaum besser. Entnervt trocknete ich mir die Hände an einem Handtuch, das so schmutzig war, dass man sich neuen Dreck auf den Händen verteilte. Ach, was soll's. Man sah zumindest, dass ich mein Geld mit ehrlicher Arbeit verdiente. Ich stopfte die fleckige Arbeitshose in meinen Rucksack und verließ den Waschraum.

»Hast du an den Ölwechsel von dem Porsche gedacht?«, rief Harry quer durch die Werkstatt. Er tippte mit dem Finger auf seine billige Armbanduhr aus Plastik, die nicht einmal von weitem den Anschein erweckte, teuer gewesen zu sein. Lohnte sich auch nicht in unserem Job.

»Ja, ich weiß, ich mache zehn Minuten zu früh Feierabend. Aber der Porsche ist fertig, du kannst Mr. Belani anrufen und es ihm sagen.«

Wie gerne hätte ich mir selbst so eine Karre gegönnt, anstatt mir nur die Hände daran schmutzig zu machen. Stattdessen schlug ich mich mehr schlecht als recht durchs Leben, an ein Auto war nicht einmal zu denken.

Harry nickte und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. »Okay, dann geh. Bis morgen!« Er wendete sich wieder dem 85er Dodge Lancer mit dem gerissenen Keilriemen zu. Harry arbeitete wie ein Tier, manchmal hatte ich das Gefühl, dass er in seiner Werkstatt schlief.

Ich liebte Autos, aber ganz so weit ging meine Begeisterung nicht. Punkt sechzehn Uhr machte ich Feierabend, basta. Ich hatte schließlich noch ein Leben neben der Arbeit. Bisweilen warfen mir meine beiden Kollegen Dan und Kyle einen bösen Blick zu, wenn ich den Schraubenschlüssel fallen ließ und ging, aber das war mir egal. Harry wusste, dass er keinen besseren Mechaniker finden würde als mich, und das nutzte ich gerne aus.

Ich rief noch ein 'Bye' in die Werkstatt, das sich an niemand Bestimmten richtete, und trat hinaus auf den Bürgersteig, ohne eine Antwort abzuwarten.

Zumindest hatte es aufgehört zu regnen, die Straßen und Bürgersteige waren nass und dampften in der Nachmittagssonne, die sich durch die dichten grauen Wolken gekämpft hatte. Seit ich am Morgen mein winziges Einzimmerapartment in der 72. Straße verlassen hatte, hatte es geschüttet wie aus Eimern. Dementsprechend schwül war es jetzt, für einen Tag im Mai eigentlich viel zu warm. Mir klebte mein Shirt unter dem Rucksack am Rücken, eine Schweißperle rann mir an der Schläfe hinab. Ich ahnte bereits, wie warm und stickig es in der Metrostation unterhalb der Straße sein würde, und beschloss deshalb, fünfzehn Blocks zu Fuß zu gehen. Schließlich wartete zuhause niemand auf mich, außer vielleicht der Haushalt. Ich hoffte noch immer, dass er sich irgendwann von allein erledigen würde, wenn ich ihn nur beharrlich genug anstarrte, aber bislang hatte er mir den Gefallen nicht getan.

An Werktagen waren die Straßen von Manhattan zu dieser Uhrzeit unerträglich voll. Zu den Tausenden von Touristen kamen etliche, die - so wie ich - um sechzehn Uhr ihre Arbeit niederlegten und eilig auf dem Weg nach Hause waren. Wohl dem, der sich ein Heim leisten konnte. Viele Pendler reisten jeden Tag von weit her nach NYC, um zu arbeiten. Immerhin konnte ich ein Zimmer innerhalb der Stadt mein Eigen nennen. Wenigstens ein kleiner Vorteil, irgendwie musste man sich das Dreckloch schließlich schönreden.

Nachdem ich mit gefühlt fünfzig Personen zusammengestoßen und mich drei Mal von einem Taxi habe anhupen lassen, bereute ich beinahe, nicht die U-Bahn genommen zu haben. Inzwischen brannte die Sonne unerbittlich. Zwar erreichte sie zwischen den Häuserschluchten selten den Asphalt, dafür gab es auch keinen Wind, der einem die Temperaturen ein wenig angenehmer hätten erscheinen lassen.

Ich wandte mich nach rechts und ging die zehnte Avenue nordwärts. Hier war es ein wenig ruhiger, den größten Trubel gab es Downtown, dort, wo die Touristen sich von zahllosen Theaterticketverkäufern anquatschen ließen.

Neben der Metropolitan Opera gab es einen kleinen Park, den ich jeden Tag auf dem Weg nach Hause passierte. Ich hatte der Ansammlung von alten Eichen nie viel Beachtung geschenkt, aber heute blieb mein Blick auf einem Farbklecks hängen, der zwischen den Sträuchern unter den Bäumen hervor blitzte. Weshalb man in dieser bunten Stadt ausgerechnet auf ein gelbes Shirt starrte, das zwischen all den anderen in allen Farben schimmernden Klamotten der Passanten genau genommen mehr als unscheinbar war, ist mir ein Rätsel. Dennoch glotzte ich auf den Rücken seiner Trägerin, die auf einer kniehohen Mauer im Park saß und sich über etwas auf ihrem Schoß beugte. Ich sah nur ihren Hinterkopf, ein blonder schulterlanger Schopf. Ihre Statur war zierlich und sie schien in dem ganzen Trubel, der um sie herrschte, seltsam abwesend und gelassen zu sein. Vielleicht war es das, was mir an ihr auffiel. Jeder hier war in Eile, mich eingeschlossen, und auf einer Mauer in einem Park zwischen den Gebäuderiesen saß diese Frau und strahlte eine Ruhe aus, die ich an den meisten Einwohnern der Stadt vermisste.

Ich blieb stehen, wurde sogleich wieder von einem schimpfenden Passanten angerempelt und ging auf den Park zu. Ich näherte mich der Dame bis auf wenige Yards, machte einen unauffälligen Bogen um sie herum und tat so, als würde ich mir die umliegenden Gebäude ansehen. Ich kam mir dabei albern vor, als hätte ich etwas zu verbergen. Hoffentlich glaubte sie nicht, ich wolle sie überfallen.

Ich warf ihr einen verstohlenen Seitenblick zu. Sie beugte sich über einen Zeichenblock, der auf ihren Knien lag. Gedankenverloren strich sie sich eine blonde Strähne hinter das Ohr, die ihr jedoch sogleich wieder ins Gesicht fiel. Sie war noch ziemlich jung, vermutlich ging sie noch zur High School. Ich schätzte sie auf maximal sechzehn oder siebzehn Jahre. Ihr Gesicht war ebenmäßig und hell, die Augen blau und wach. Sie war wirklich schön, auch ganz ohne Make Up. Herrje, jetzt kam ich mir wirklich wie ein Schwerverbrecher vor! Ich sollte so etwas nicht über eine Minderjährige denken.

Sie hob den Blick und für einen Moment sahen wir uns in die Augen. Es durchfuhr mich wie ein Blitz. Obwohl sie keine Miene verzog, stellte ich mir vor, wie sich ihre vollen Lippen zu einem Lächeln kräuselten. Mein Herz wummerte wie eine Kriegstrommel. Rasch wandte ich den Kopf. Ich spürte ihre Blicke noch immer in meinem Nacken prickeln. Oder bildete ich mir das ein?

Jetzt reiß dich zusammen und geh nach Hause. Such dir Frauen in deinem Alter, nicht so unschuldige junge Dinger!

Ich kam mir mit einem Mal schäbig und hässlich vor in meinem dreckigen Shirt und den schmutzigen Fingernägeln, wie ein Schandfleck. Der Drang, sich schnell aus dem Staub zu machen, wurde zwar übermächtig, aber aus irgendeinem Grund glaubten meine Beine, ein Eigenleben führen zu müssen. Ich ging zwei Schritte auf das Mädchen zu, und tatsächlich lächelte sie mich jetzt an. Herrgott, meine Beherrschung!

 

Weil ich mir dämlich vorkam, wie ein Idiot vor ihr zu stehen und sie anzuglotzen, brachte ich einen unverfänglichen Satz hervor. »Was malst du denn da?«

»Ich male nicht, ich zeichne.« Ihre Stimme war hell und rein, wie Glockenklang.

»Und was zeichnest du?«

»Pflanzen. Heute ein Vergissmeinnicht. Eine meiner Lieblingsblumen.«

Wie sie mich ansah - völlig ohne Vorurteile. Ich kam damit nicht klar. Ich umgab mich für gewöhnlich mit finsteren Typen, mit Aufreißern und Kleinkriminellen. Frauen kannte ich nur aus windigen Bars und zweifelhaften Etablissements.

»Machst du das öfter?« Ich beugte mich interessiert ein wenig über ihren Zeichenblock. Talent hatte sie, das musste man ihr lassen. Aber verglichen mit mir hatte so ziemlich jeder Talent, der einen geraden Strich hinbekam.

»Diese Blume fasziniert mich, sie möchte der Sage nach niemals vergessen werden, ebenso wie ich. Ich möchte der Welt auch etwas hinterlassen, das für immer bleibt.« Jetzt strahlte sie über das ganze Gesicht. »Außerdem ist sie blau, meine Lieblingsfarbe. Saphirblau mag ich am liebsten, aber diese Farbe findet man nicht im Pflanzenreich.«

Ich zog die Augenbrauen hoch, weil ich nicht wusste, was ich darauf hätte erwidern sollen. Wenn ich mich jetzt umdrehte und ging, wäre das äußerst unhöflich gewesen (obwohl mich solche Dinge doch sonst auch nicht interessierten?!).

»Wohnst du in dieser Gegend? Ich habe dich nie zuvor gesehen.« Du Dummkopf! Natürlich hast du sie nie zuvor gesehen! Bei mehreren Millionen Einwohnern wäre dies auch äußerst unwahrscheinlich gewesen.

»Ich wohne ein ganzes Stück weiter uptown, jenseits der 100. Straße.«

Aha. Nicht die teuerste Gegend also. Ich hätte sie glatt für eine Tochter aus reichem Hause gehalten, hatte mich anscheinend jedoch getäuscht.

»Ich wollte noch nicht von der Schule nach Hause. Zeichnen lenkt mich immer so schön ab.« Also ging sie tatsächlich noch zur Schule.

»Wie alt bist du?« Wieder ist die Frage heraus, ehe ich darüber nachdenken kann. Das klingt jetzt wirklich nach dämlicher Anmache! Ich sollte mich schämen.

»Siebzehn. Bin im letzten Jahr auf der High School.« Ihre nette, unbekümmerte Art ließ das Blut in heißen Wellen durch meine Adern pulsen, und das lag nicht nur am Wetter. Ich wollte sie unbedingt wiedersehen, irgendetwas an ihr zog mich magnetisch an. Aber wie sollte ich das anstellen, ohne mich strafbar zu machen? Sie würde sich doch nie auf ein Date mit mir einlassen. Und das war vielleicht sogar besser so.

»Nun, ich werde dann mal wieder gehen«, sagte ich und hasste mich dafür, dass mir die Röte wie bei einem Teenager ins Gesicht stieg.

»War nett, dich kennengelernt zu haben. Schade, dass du schon gehen musst, Fremder.« Sie grinste und offenbarte eine Reihe makelloser Zähne.

Das hätte sie vielleicht nicht sagen sollen, denn plötzlich keimte die völlig irrsinnige Hoffnung in mir auf, sie könnte tatsächlich Interesse an mir haben.

Während ich mich abwandte, um beschämt den Rückweg anzutreten, rief ich ihr über meine Schulter hinweg zu: »Ich bin Freitagabend ab neunzehn Uhr immer im Sweetwaters in der 46. Straße. Habe da einen Nebenjob. Vielleicht magst du ja mal vorbeikommen.«

Ehe ich vor Scham im Boden versinken konnte, steuerte ich schnellen Schrittes den Bürgersteig an und tauchte wieder in die Menschenmassen ein, ohne mich noch einmal nach dem Mädchen umzudrehen. Ich kannte nicht einmal ihren Namen.

Kapitel zwei

Zuerst ratterte es, dann wurde es gleißend hell. Mit einem gewaltigen Schreck setzte Lilly sich im Bett auf. Ihr Herz wummerte. Die knotigen Haare hingen ihr wirr ins Gesicht, während sie versuchte, sich zu orientieren. Hatte sie schlecht geträumt? Dann fiel ihr Blick auf Alexis, die sich am Zugband der Rollläden zu schaffen machte.

»Es ist nach halb acht, Zeit aufzustehen, du Faulpelz.« Ihr Tonfall war alles andere als liebevoll. »Ich muss jetzt zur Arbeit, und du machst dich hier gefälligst nützlich.«

Lilly gähnte und strich sich eine widerspenstige Strähne aus dem Gesicht. Immer dieses Gezeter, und das am frühen Morgen! Sie hatte wirklich schlecht geschlafen, bizarre Träume von violetten Blumen und geisterhaften Frauen waren um ihr Bett geschwirrt wie geflügelte Dämonen.

Sie schwang die Beine über den Bettrand und sah verschlafen zu ihrer Cousine auf. »Ich kümmere mich nachher um alles«, murmelte sie.

»Deine Art, den Haushalt zu führen, kenne ich, meine Liebe! Aufräumen bedeutet nicht, alles wahllos in die Schränke zu werfen.«

»Du hast doch gestern erst aufgeräumt und gesaugt!«

Alexis reckte den Zeigefinger in die Höhe wie eine tadelnde Mutter. Lilly hasste diesen Zug an ihr. »Es gibt noch genug anderes zu tun. Und wenn du schon einmal dabei bist«, sie deutete auf den Laptop, der auf dem Esstisch stand, »kannst du im Internet mal nach Stellenanzeigen suchen.« Alexis schulterte ihre Jutetasche und griff nach ihrem Schlüsselbund, der ebenfalls auf dem Tisch lag. »Ich muss jetzt los. Bis nachher.«

»Ja, bis nachher«, murmelte Lilly so leise, dass Alexis es nicht gehört haben konnte. Ein paar Sekunden später fiel die Wohnungstür etwas heftiger als nötig ins Schloss. Stille breitete sich im Wohnzimmer aus, einzig durchbrochen von der tickenden Wanduhr über dem Fernseher.

Lilly seufzte und hievte sich auf beide Beine. Sie ging ins Badezimmer, wusch und kämmte sich, zog sich einen bequemen Jogginganzug an, verstaute das Bettzeug wieder im Bettkasten und saß wenig später auf dem Barhocker in der Küche und wartete darauf, dass die Padmaschine den Morgenkaffee ausspuckte, den Lilly bitternötig hatte. Alexis' Küche war so klein, dass es für einen anständigen Tisch nicht gereicht hatte. Stattdessen gab es nur zwei Hocker und einen schmalen, einklappbaren Tresen. Das war sicherlich nicht das, was der Erfinder des Wortes 'gemütlich' vor Augen gehabt hatte, aber Alexis bestand darauf, dass ausschließlich in der Küche gefrühstückt wurde. Ihr wertvoller Wohnzimmerteppich Marke Home Shopping Kanal durfte schließlich nicht durch etwaige herunterfallende Krümel beschmutzt werden. Der Esstisch war eher ein Dekorationsgegenstand und wurde ausschließlich benutzt, wenn Alexis Gäste erwartete. Freunde hatte ihre Cousine genug, aber es waren alles hässliche verklemmte Weiber, die ihre Freizeit mit Esoterik und dem Sammeln von Hello Kitty Zeug widmeten. Achso, ja, und Mangas natürlich. Wie hatte Lilly das vergessen können. Sie verdrehte die Augen. Es wurde wirklich dringend Zeit, dass sie hier auszog. Sie wäre nie bei Alexis eingezogen, wenn es eine andere Möglichkeit gegeben hätte. Aber gute Freunde, bei denen Lilly hätte unterschlüpfen können, gab es nicht. Ihr gesamter Freundeskreis war bereits nach der High School auseinandergebrochen. Die meisten waren aufs College gegangen, verteilten sich quer über die USA oder hatten Familien gegründet - oder alles auf einmal. Kein einziger war in Middletown geblieben, wozu auch. Um im Walmart zu arbeiten, wie ihre Cousine?

Das Licht an der Padmaschine leuchtete grün, der Kaffee war fertig. Lilly nahm einen Löffel aus der Schublade und knallte noch drei Portionen Zucker hinterher, ehe sie sich wieder an den beengten Tresen quetschte.

Als sie mit dem Löffel in der Tasse rührte und das Metall gegen das Porzellan schlug, durchfuhr sie mit einem Mal heftiger Schwindel, als hätte das klimpernde Geräusch etwas in ihrem Hirn ausgelöst, das sie nun nicht mehr zurückdrängen konnte. Lilly krallte sich an den Tresen, doch sie konnte sich nicht auf dem Hocker halten. Sie spürte noch, wie ihr Hinterteil hart auf dem Fliesenboden aufschlug, ehe es schwarz um sie herum wurde. Nur langsam lichtete sich der Nebel wieder, doch Lilly saß nicht länger in Alexis' Küche, sondern beobachtete eine junge Frau, die an einem dunklen Holztisch vor einem großen Fenster saß und ebenfalls in einer Tasse rührte. Lilly wusste, dass sie träumte, konnte sich von den Bildern jedoch nicht lösen, als hielte sie eine Macht darin gefangen. Hatte sie das nicht schon einmal erlebt?

Leise Musik drang an ihre Ohren, irgendein Klassiker aus den Achtzigern. Sie nahm den Geruch von Tabak, Bier und Frittierfett wahr.

Die Fremde sah einsam und gedankenverloren aus. Auf dem Tisch vor ihr stand ein hässliches Gesteck aus Kunstblumen und eine Kerze, wie sie es nur in billigen Restaurants gab. Lilly versuchte, das Gesicht der Frau zu erkennen, aber immer, wenn sie es fokussieren wollte, verschwamm das Bild vor ihren Augen. Stattdessen lenkte sie ihre Aufmerksamkeit auf die Serviette, die neben der Tasse auf dem Tisch lag. Sie war weiß, mit einem runden Logo darauf. Lilly konnte es nicht genau erkennen, aber darunter stand das Wort 'Sweetwaters NYC' in künstlerisch verschnörkelter Schrift.

Die junge Frau sah auf, als hätte etwas ihre Aufmerksamkeit erregt. Ihre Mundwinkel verzogen sich zu einem unschuldigen Lächeln. Lilly sah es nicht direkt, aber sie spürte es. Die Dame freute sich.

Jemand setzte sich ihr gegenüber an den Tisch, aber Lilly konnte nicht erkennen, wer es war. Das Bild löste sich allmählich auf und zersetzte sich wie Säure, ehe sich die Konturen von Alexis' Küche wieder aus dem Nebel schälten.

Lilly saß auf dem Boden, die zerbrochene Tasse neben ihr. Eine Kaffeepfütze hatte sich über die Fliesen verteilt und sich in Lillys Jogginghose gesogen. Super. Jetzt würde sie Alexis die zerbrochene Tasse erklären müssen. Sie hatte nicht einmal bemerkt, dass sie herunter gefallen war. Lilly quälte sich zurück auf die Beine. Ihr war übel und der Appetit auf Kaffee war ihr gründlich vergangen. Vielleicht sollte sie tatsächlich einen Arzt aufsuchen. War sie verrückt? Sie hatte bereits von Tagträumen gehört, aber niemals davon, dass sie so real sein konnten. Dies war schon die zweite Vision, die Lilly fast bewusstlos hatte werden lassen - zum Glück besaß sie kein Auto, hinter dessen Steuer ihr das hätte passieren können. Was das Ganze keineswegs in ein besseres Licht rückte. Lilly war sich sicher, beide Male dieselbe Frau gesehen zu haben. Sie war ihr völlig fremd. Zufall? Spielten ihre Sinne ihr einen Streich? Weshalb träumte sie dann nicht von einem knackigen hübschen Kerl, sondern ausgerechnet von einem unscheinbaren Mädchen, das nicht einmal volljährig zu sein schien?

Fasste man die Fakten nüchtern zusammen, blieben also ein Friedhofsgeist und zwei Visionen übrig, und das innerhalb von zwölf Stunden. Ziemlich beunruhigend.

Nachdem Lilly sich eine frische Hose übergestreift und die Sauerei in der Küche beseitigt hatte, setzte sie sich auf die Couch im Wohnzimmer und tat eine ganze Weile lang nichts als der tickenden Uhr zu lauschen. Sie war kaum in der Lage, etwas Sinnvolles mit ihrer Zeit anzufangen. Sie fühlte sich müde, zerknirscht und extrem besorgt.

Nach ungezählten Minuten schreckte sie auf, weil ihr Smartphone, das noch immer in ihrer Umhängetasche neben der Couch steckte, die Titelmelodie ihrer Lieblingsserie zum besten gab. Mit fahrigen Fingern fischte sie es hervor. Es war Mr. Benett, der fragte, ob sie heute Abend noch einmal vorbeikommen könne, weil er versehentlich die Sender seines Fernsehers verstellt hatte. Lilly verdrehte die Augen, sagte aber zu. Mr. Benett hätte genauso gut seinen nichtsnutzigen Sohn anrufen können, aber er schien Lillys Gesellschaft zu bevorzugen. Nun gut, also wieder eine Handvoll Münzen mehr aus seinem Sammelglas. Als Lilly auflegte, fasste sie einen Entschluss. Nicht, dass sie den nicht schon tausend Mal zuvor gefasst hätte, aber diesmal wollte sie - wirklich! - Taten folgen lassen. Es konnte so nicht weitergehen, es musste sich etwas ändern in ihrem Leben. Schnell. Also befolgte Lilly den Rat ihrer Cousine und setzte sich vor den Laptop am Esstisch.

Sie durchkämmte zunächst die großen Portale für Stellenanzeigen, gab ihre Postleitzahl ein und benutzte die Umkreissuche, die sie zunächst auf zehn Meilen beschränkte. Okay, die Suchmaschine spuckte nichts Brauchbares aus. Wäre auch zu schön gewesen. In der Nachbarstadt wurde ein Busfahrer gesucht. Da Lilly keinen Führerschein besaß, grenzte es fast an Ironie. Dann also den Umkreis erweitern. Diesmal waren die Ergebnisse ergiebiger, aber Lilly war weder gelernte Buchhalterin noch traute sie sich eine Führungsposition im Bereich Kommunikationsmanagement zu, zudem sie nicht einmal einen Collegeabschluss besaß. Dass sie gut kommunizieren konnte, würde die Herren der Firma Grant & Herth sicher nicht von ihrer Eignung überzeugen.

 

Lilly seufzte und starrte den Bildschirm ratlos an. Das war wohl nix. Verdammt. Sie stützte ihren Kopf in die Hände und überlegte fieberhaft, was sie tun könnte. Herrje, sie wollte nicht bei Alexis versauern! Das würde sie früher oder später in den Wahnsinn treiben.

Sie klickte noch ein wenig bei Facebook und Youtube herum, um sich abzulenken. Der Haushalt konnte warten. Alexis würde nicht vor heute Nachmittag von der Arbeit zurück sein. Lilly hatte also alle Zeit der Welt, um sinnlosen Tätigkeiten nachzugehen.

Irgendwann durchzuckte sie eine Idee. Sie fühlte sich mit einem Mal wie ein Schulmädchen, das man beim Rauchen erwischt hatte. Als wäre sie in Begriff, etwas höchst Dämliches zu tun, für das man sich schämen musste. Mit geröteten Wangen öffnete sie die Startseite einer großen Suchmaschine und fütterte sie mit dem Begriff 'Sweetwaters NYC'. Sie hatte den Namen klar und deutlich auf der Serviette gelesen, und irgendwie ließ sie das Gefühl nicht los, dass er nicht ihrer Fantasie entsprungen war.

Tatsächlich spuckte das System mehrere Treffer aus, viele davon jedoch unbrauchbar. Die meisten Ergebnisse standen in keinerlei Verbindung mit einem Lokal in New York City. Auf Seite drei der Ergebnisliste stieß Lilly jedoch auf einen Eintrag, der sich auf ein Café bezog. Es war die Webseite eines Lokals, das sich 'Raindance' nannte. Lilly klickte sich durch mehrere Fotos, konnte jedoch nichts erkennen, das sie an ihre Vision erinnerte. Viel hatte sie nicht gesehen, nur eine Tischgruppe und ein Stück der Fensterfront. Auf der Seite 'Über uns' fand sie die Geschichte des Lokals. Dort wurde erwähnt, dass es in den frühen Achtzigern als 'Sweetwaters' gegründet würde, 1989 jedoch den Besitzer wechselte und fortan 'Raindance' hieß. In den Achtzigern?! Vermutlich war es doch nur ein Zufall, dass Lillys Gehirn diesen Namen hervorgebracht hatte. Tief in ihrem Inneren wusste sie jedoch, dass diese Visionen äußerst real gewesen waren. Sie neigte überhaupt nicht dazu, sich Dinge auszudenken, diesbezüglich war sie nie besonders kreativ gewesen. Als ihre Mutter ihr im zarten Alter von neun Jahren endlich die Haltung zweier Meerschweinchen gestattet hatte (nach wochenlangem Betteln), hatte Lilly sie einfach 'Sau 1' und 'Sau 2' getauft. Soviel zum Thema Namen und Kreativität ...

Lilly schrieb sich die Adresse des Lokals auf, obwohl sie nicht wusste, was ihr das nützen sollte. Es lag in Midtown Manhattan, in der 6th Avenue, Ecke 46. Straße.

Sie verblieb noch eine Weile auf der Webseite des Raindance, mehr aus Langeweile als aus reinem Interesse. Auf einer Linkseite waren die Webseiten anderer befreundeter Lokale angegeben, was Lilly schon seltsam vorkam. Wer machte Werbung für die Konkurrenz? Vielleicht kannten sich die Besitzer, oder die Leitung war sogar dieselbe.

Lilly klickte sich auf die Seite eines Diners, das sich 'Moonbeam Bar & Restaurant' nannte. Die Fotos ließen auf eine klassisch amerikanische Lokalität schließen: eine von Neonreklame eingerahmte Fassade, gepolsterte Sitzbänke, eine riesige amerikanische Flagge an der Decke und ein Flachbildschirm neben dem Tresen. Von den Angestellten gab es leider keine Fotos, auch sah man keine Gäste. Anscheinend hatte man die Bilder nach Ladenschluss aufgenommen. Das Lokal lag ebenfalls mitten in Manhattan, Madison Avenue, Ecke 57. Straße.

Lilly verlor bereits das Interesse, als ihr Blick auf einen kleinen Link am unteren rechten Bildschirmrand fiel, der mit 'Jobs im Moonbeam' betitelt war. Es gab eine einzige Stellenanzeige, die mit keinem Datum versehen war. Wer wusste, wie alt die schon war?! Jedenfalls suchte das Lokal eine Servicekraft mit Erfahrung in der Gastronomie. Lilly merkte auf. Sie hatte im Hotel öfter in der angeschlossenen Bar gekellnert. Andere Anforderungen wurden anscheinend nicht gestellt. Es war die erste Stellenanzeige, die sie heute gelesen hatte, in der man nicht schon mit zwölf den Collegeabschluss gemacht haben musste, um mit zweiundzwanzig auf zehn Jahre Berufserfahrung zurückgreifen zu können. Mindestens zwei Fremdsprachen verstanden sich natürlich von selbst. Nein, in der Anzeige vom Moonbeam stand nur, dass man - falls möglich - schon einmal gekellnert haben sollte. Hmm, ob Lilly sich die Telefonnummer aufschreiben sollte? Aber das war doch totaler Quatsch, das Lokal befand sich in New York City, eine Stadt wie ein Schandfleck, und noch dazu viel zu weit weg von ihrem geliebten Middletown! Wenn sie kellnern wollte, würde sie sicherlich auch etwas in der Nähe finden. Alexis konnte sie von ihren Plänen nichts erzählen, wenn sie sich nicht freiwillig einer Dosis Spott und Häme unterziehen wollte. Dabei war Alexis' Job nun wahrlich auch nicht besser. Lilly konnte sich ihre Cousine bildlich vorstellen, wie sie zeterte, Lilly könne sich auch gleich in einem Bordell bewerben, wenn sie in einer Bar arbeiten wollte, bla bla. Dennoch verstaute Lilly den Zettel mit der Telefonnummer tief in ihrer Hosentasche.

***

25.08.1987, New York City

Schon, als ich das Krankenhaus betreten hatte, wusste ich, dass ich es als ein anderer Mann wieder verlassen würde. Ich hatte versucht, mich gegen meine Emotionen zu wehren und mich zu verschließen. Aber es ist mir nicht gelungen. Jahrelang habe ich eine Fassade zur Schau getragen, weil ich hart sein wollte - hart sein musste. Es ist egal, wie dick die Mauern sind, die man um sich herum errichtet, das Leben beweist einem immer wieder, dass es über Werkzeuge verfügt, sie einzureißen. Seit ich Laurie kenne, habe ich mir zum ersten Mal überhaupt Gedanken über meine Zukunft gemacht. Ich habe mich im Glück gewähnt und mich wie ein kleiner Junge verhalten, wenn sie mich unschuldig angelächelt hatte. Ich glaubte, mein Leben würde endlich eine Wendung nehmen. Aber es währte nur sehr kurz. Die Realität holte mich wenige Wochen später ein, als ich von der Krankheit meiner Schwester erfuhr. Mir ist klar geworden, dass eine Zukunft nichts Selbstverständliches ist, und mir scheint sie ohnehin nicht vergönnt zu sein.

Nun liegt sie hier im Lenox Hill Hospital und die Maschinen, die um ihr Bett stehen, schweigen, die Bildschirme sind schwarz. Die Ärzte konnten sie nicht retten. Binnen weniger Monate hat der Krebs sie dahingerafft, sie Stück für Stück aufgefressen und zu dem werden lassen, was mir mehr Angst eingejagt hat als alles andere zuvor in meinem Leben.

Sie ist sehr dünn, ein blasser Arm hängt über der Bettkante. Ihre Augen sind geschlossen, aber der Ausdruck in ihrem Gesicht ist alles andere als friedlich. Sie ist abgemagert, sieht um Jahre gealtert aus, nicht wie eine Fünfundzwanzigjährige in der Blüte ihres Lebens. Um ihren Mund liegt ein verhärmter Zug, sie hat mit ihrem Schicksal gehadert. Keine heroische Geschichte einer tapferen Frau, die ihr Schicksal mutig annahm und bis zuletzt Freude ausstrahlte. Nein. Das hier war die hässliche Seite einer Krankheit. Angst, Selbstaufgabe, Verzweiflung und Schmerzen waren an der Tagesordnung gewesen.

Ich habe nie viel von meiner zerrütteten Familie gehalten, meine Zwillingsschwester Carol war das einzige menschliche Wesen, das mir etwas bedeutet hatte - bevor Laurie in mein Leben getreten war. Weshalb hasste mich das Schicksal so sehr?

Mein Rücken schmerzte, weil ich stundenlang auf dem unbequemen Krankenhausstuhl neben Carols Bett saß und immer wieder über ihre kalten Finger strich. Ich war alles, was sie hatte und vermutlich der einzige, den ihr Tod wirklich berührte. Wir waren uns immer nah gewesen, obwohl wir unser eigenes Leben geführt hatten. Ich habe sie beschützen wollen, habe ihr damals sogar eine geknallt, als ich sie das erste Mal mit Drogen erwischte. Sie sollte nicht dieselben Fehler machen wie ich. Als wir noch im Haus meines Vaters lebten, musste ich sie vor seinen Schlägen bewahren und sie trösten, wenn er im Suff ihr Zimmer verwüstete. Unsere Mutter war schon geflüchtet, als Carol und ich noch zur Grundschule gingen. Ich hasste sie dafür, dass sie uns mit einem Schläger allein gelassen hatte. Dieser Penner lief noch immer putzmunter herum, während meine Schwester tot in diesem sterilen unpersönlichen Krankenhausbett lag. Das Leben war nicht fair.