Im Auftrag der Dunkelheit

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Aus der Reihe: Blutlicht #1
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»Ich habe deine Rufe gehört.« Seine Stimme glich einem tiefen Schnurren. »Es tut mir leid, das ist sicher keine schöne Situation, um sich kennenzulernen.«

»Ist schon gut. Danke.« Jill nahm ihre Kleidung vom Boden auf und schlüpfte zuerst in ihre Hose. Wenigstens war ihre Haut mittlerweile trocken. Sie spürte die Blicke des Fremden auf ihrem Körper. Er untersuchte sie mit den Augen, schien jede Narbe und jede Unebenheit in sich aufzusaugen und sich ins Gehirn zu brennen. Es war fast vollkommen dunkel, trotzdem hatte Jill das Gefühl, dass er sie ganz genau beobachtete. Hastig zog sie ihr Hemd über und strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht.

»Was hast du denn allein um diese Zeit am Hafen verloren? Das ist keine sichere Gegend für eine junge Frau«, sagte er.

Jill musterte den Mann. Er war gut gekleidet und verströmte einen Geruch nach teurem Parfum. Sie wusste nicht weshalb, aber sie fühlte sich von diesem Koloss keineswegs bedroht. Er strahlte Ruhe und Selbstsicherheit aus.

»Ich bin im Meer geschwommen. Es war eine dumme Idee.«

»Allerdings. Aber weshalb mitten in der Nacht?«

Jill rechtfertigte sich von Natur aus nicht gerne, aber sie glaubte, dass sie ihrem Retter eine Antwort schuldig war.

»Ich habe auf einen Freund von mir gewartet, aber er ist nicht gekommen. Er wohnt dort oben in der alten Scheune.«

Jill sah in den Augen des Mannes kurz etwas aufblitzen, das sie nicht zu deuten imstande war. Es war, als läge Wissen in seinem Blick.

»Er wird bestimmt wiederkommen. Mach dir keine Sorgen.«

»Ich gehe jetzt besser nach Hause.« Jill verspürte nicht den Drang, sich weiter mit ihm zu unterhalten.

»Ich könnte dich heimbringen«, sagte er, als Jill sich bereits zum Gehen abwandte. Sie drehte sich noch einmal um.

»Woher soll ich wissen, ob du nicht die gleichen Absichten hegst wie der Kerl, den du verjagt hast?« Da der fremde Mann ihr von sich aus sofort das du angeboten hatte, sah sie keinen Grund für Höflichkeiten. »Ich weiß nicht, was du für deine Hilfe verlangst, aber ich habe kein Geld. Und ich werde meine Hose nicht noch einmal für dich ausziehen, falls du das dachtest.«

Der Mann lächelte verlegen. »Nein, das darfst du nicht falsch verstehen. Ich verlange überhaupt nichts von dir. Ich möchte bloß, dass du sicher nach Hause kommst.« Er trat einen Schritt auf sie zu. »Du scheinst ein kesses Mädel zu sein, solche Frauen imponieren mir.« Sein Blick glitt über ihre löchrige Hose. »Zu schade, dass du dich nicht deiner natürlichen Schönheit entsprechend kleidest.«

Jill schnaubte. »Meine Familie ist arm. Ich kann mir weder teure Kleidung noch Parfum leisten. Ich bin kein Umgang für dich. Und ich kann schnell laufen, ich werde schon allein nach Hause kommen. Mach dir keine Sorgen.«

Sein Gesicht verzog sich zu einem schelmischen Lächeln. »Kannst du nicht einfach ein Kompliment annehmen? Ist es denn so schwer für dich? Ich wollte nur höflich sein. Mir scheint, dir ist es unangenehm, wenn jemand freundlich zu dir ist. Du musst wahrlich kein schönes Leben führen.«

Jill verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte ihn mit einem anklagenden Blick. »Wenn du höflich wärest, hättest du mir deinen Namen genannt.«

»Ich entschuldige mich vielmals. Mein Name ist Cryson.« Er deutete eine Verbeugung an. »Und wie heißt du?«

»Jill.«

»Ein einfacher, aber kräftiger Name. Freut mich, dich kennenzulernen, Jill.«

Ihr fehlten zum ersten Mal in ihrem Leben die passenden Worte. Alles, was sie zustande brachte, war ein Nicken.

»Nun, hübsches Mädchen Jill, wenn du tatsächlich keinen Geleitschutz haben willst, dann lass mich dir wenigstens etwas schenken.« Er steckte seine Hand in die Innentasche seines teuren Mantels und zog einen kleinen Gegenstand heraus. Er blitzte im Mondlicht und war beinahe so groß wie Jills Hand. Wie gebannt starrte sie auf dieses Ding, das aussah, als hätte jemand mehrere Metallröhrchen aneinander geklebt. Er drückte ihr das Teil in die Hand. Es war schwer.

»Was ist das und was soll ich damit?« Es war ihr unangenehm, etwas geschenkt zu bekommen.

»Das ist ein Musikinstrument. Eine Flöte.« Er nahm Jills Hand und schloss sie um das Instrument, dann führte er sie sacht an Jills Mund heran. Nach einigen Versuchen schaffte sie es, durch Blasen in das eine Ende des Instruments einen sauberen Ton zu erzeugen.

»Es ist wunderschön, aber das kann ich nicht annehmen.«

»Doch, das kannst du. Verliere die Flöte nicht. Sie ist wertvoll. Wenn du wieder einmal Hilfe benötigst, kannst du darauf spielen.« Er zwinkerte ihr zu.

Jill stieß ein keuchendes Lachen aus. »Und dann kommt der Geist aus der Lampe, um mir zu helfen?«

Cryson verdrehte die Augen. »Natürlich nicht. Nimm das Geschenk bitte an. Einer hübschen Frau macht man doch Geschenke.«

Jill spürte, wie ihr das Blut in den Kopf stieg. Es war ein Gefühl, das sie nicht kannte. Sie steckte die Flöte in ihre Hosentasche.

»Dann bedanke ich mich dafür.« Sie warf ihm einen skeptischen Blick zu. »Bist du von der Polizei?«

Cryson runzelte die Stirn. »Wie kommst du denn darauf? Hast du etwas zu verbergen?«

Jill schüttelte den Kopf. »Zumindest jetzt gerade nicht.« Cryson nickte wissend. »Nun geh schnell heim, kleine Jill.« Er wandte sich ab und winkte ihr über die Schulter hinweg noch einmal zu. Den ganzen Heimweg lang dachte Jill unentwegt darüber nach, was ein wohlhabender Mann in der Nacht am Hafen zu suchen hatte. Ein gutaussehender wohlhabender Mann wohlgemerkt. Zudem konnte sie sich des Gefühls nicht erwehren, dass er sie noch immer verfolgte. Ein Schauder lief ihr über den Rücken, aber es war kein Schauder der Angst, sondern einer der freudigen Verlegenheit.

Kapitel 2

Waren das etwa dunkle Schatten, die unverblümt ihre Augen umspielten?

»Meine Güte, ich sehe schrecklich aus.« Jill schlug mit der flachen Hand auf die Wasseroberfläche und zerstörte ihr Spiegelbild. Dann tauchte sie beide Arme bis zu den Ellenbogen in den gefüllten Eimer und benetzte ihren gesamten Kopf mit Wasser. Es war eiskalt. Sie würde dringend mehr schlafen müssen, wenn sie nicht wollte, dass ihr Körper bald seinen Dienst versagte. Wieder einmal hatte sie der Gockel von nebenan aus den Federn gescheucht, aber die Schuld an ihrem Zustand gab Jill diesmal einzig und allein sich selbst.

Sie nahm das Tütchen mit dem Haarwaschpulver, das sie aus dem Zimmer ihrer Schwester stibitzt hatte, von dem kleinen Metallhocker im Hinterhof und rieb es in ihre Haarpracht. Schnell hatte sich der Schaum vor Schmutz dunkel gefärbt. Jill stöhnte. Ihr Hals kratzte und ihr Kopf schmerzte. Wahrscheinlich hatte sie sich bei ihrem nächtlichen Badeausflug erkältet. Es war noch früh am Morgen, ihren Vater hatte Jill seit dem Vortag nicht mehr gesehen. Sie hatte auch aufgehört, sich darüber zu wundern. In der letzten Nacht war sie froh gewesen, dass er nichts von ihrer Unternehmung mitbekommen hatte.

Jill nahm den Eimer in beide Hände und schüttete sich dessen Inhalt über den Kopf. Ihr stockte der Atem und ihr Herz machte einen Sprung. Das Wasser war wirklich unsagbar kalt, aber sie war zu faul gewesen, um es über dem Feuer zu erwärmen. Als auch der letzte Rest des Schaums im Rinnstein verschwand, wrang Jill ihre Haare aus und machte sich eifrig daran, sie mit den Fingern zu entwirren. Es nutzte nicht viel, sie würde in jedem Fall eine Bürste benötigen, um die Knoten zu lösen.

»Was machst du denn so früh am Morgen schon am Brunnen?«

Jill fuhr vor Schreck zusammen und drehte sich um. Ihre Schwester stand im Nachthemd auf der Hintertreppe und warf ihr fragende Blicke zu.

»Das siehst du doch, ich wasche mich.« Es klang harscher als beabsichtigt.

»Ist das dort etwa ein sauberes Kleid?« Ihre Schwester deutete auf das sorgsam zusammen gefaltete Kleidungsstück, das auf dem Metallhocker lag. Sie schien den Anblick belustigend zu finden, denn ein Kichern entwich ihrer Kehle.

Jills Augen verengten sich vor Zorn. »Ja, das siehst du doch.«

Dana schüttelte den Kopf, aber ihre Lippen umspielte ein Schmunzeln. »Es sieht dir einfach nicht ähnlich. Wirst du nun endlich erwachsen?«

Jill griff nach dem Kleid, stieg die Treppe hinauf und stapfte an Dana vorbei. Sie war wütend auf ihre Schwester, auch wenn sie sich nicht einmal erklären konnte, weshalb. Sie fühlte sich ertappt.

»Hey, du hast etwas vergessen.« Dana stieg die Treppe hinab und hob etwas vom Boden auf. Es war das kleine Instrument, das Cryson Jill in der Nacht zuvor geschenkt hatte. Jill machte auf dem Absatz kehrt und stürzte zurück, mehrere Stufen auf einmal nehmend. Sie riss Dana die Flöte aus der Hand und hängte sich den Lederriemen, an dem das Instrument baumelte, um den Hals.

»Wo hast du das gestohlen?« Danas Blicke hafteten auf der goldenen Flöte. In ihrer Stimme lag ein Hauch von Ehrfurcht.

»Ich habe sie nicht gestohlen. Jemand hat sie mir geschenkt«

»Hör auf zu lügen, wer sollte dir etwas so Wertvolles schenken?«

»Das geht dich überhaupt nichts an. Aber falls es deine Neugier befriedigt: Es war ein hübscher reicher Gentleman.«

Jill ignorierte Danas weitere Kommentare und ging hinauf in ihr Zimmer. Dort streifte sie ihr Nachthemd ab und schlüpfte in das Kleid, das sie seit Jahren nicht getragen hatte. Es passte ihr immer noch. Es bestand aus grünem Leinen, der Saum reichte ihr bis an die Knöchel. Sie ließ sich auf die Knie sinken und zog eine kleine Holzschatulle unter ihrem Bett hervor. Sie kramte und wühlte in ihren wenigen Habseligkeiten und zog schließlich eine Haarbürste hervor.

 

»Da ist sie ja.«

Jill hatte sie lange Zeit nicht mehr benutzt. Ihr Haar machte nicht oft Bekanntschaft mit einer Bürste, und wenn, dann übernahm meistens ihre Schwester das Kämmen für sie, natürlich nicht ohne Jills laute Proteste.

Sie setzte sich auf die Bettkante und begann, ihre Haare zu frisieren. Dabei dachte sie darüber nach, wie sie den heutigen Tag verbringen würde. Sie hätte nachsehen können, ob Firio zurückgekehrt war. Vielleicht erbeutete sie auf dem Weg dorthin den einen oder anderen Schilling. Heute war ein Werktag, es würden sich wieder viele Menschen auf den Straßen von Haven tummeln. Seltsamerweise verspürte Jill keine Vorfreude. Sie verspürte nicht einmal Lust, den Weg bis in die Innenstadt zurückzulegen. Sie fühlte sich nicht gut. Fieberte sie vielleicht sogar? Jill griff sich mit der Handfläche an die Stirn. Sie war ganz kühl. Wenn sie sich entschied, das Haus heute nicht zu verlassen, würde Dana sie sicherlich zur Hausarbeit heranziehen. Vielleicht würde sie ihr sogar beim Kerzenziehen helfen müssen. Kein schöner Gedanke.

Jill seufzte. Sie legte die Bürste beiseite und zog die Flöte hervor, die in ihrem Ausschnitt baumelte. Gedankenverloren strich sie mit den Fingern über das makellos glatt polierte Metall. Sicherlich könnte sie das Instrument in der Stadt verkaufen. Es würde ihr vielleicht genügend Geld einbringen, um ihr eine ganze Woche lang das Stehlen zu ersparen. Sie seufzte erneut. Nein. Sie würde sie nicht verkaufen. Niemals zuvor hatte ihr jemand etwas derart Schönes geschenkt. Jill versuchte, sich das Gesicht des fremden Mannes ins Gedächtnis zu rufen. Seine Gesichtszüge waren scharf und männlich gewesen, die glatten schwarzen Haare ordentlich im Nacken zusammen gebunden. Sie hatte ihn niemals zuvor gesehen. Woher mochte der Mann gekommen sein, der sich Cryson nannte? Jill erinnerte sich an seinen leichten Akzent, den sie nicht zuordnen konnte. Es war ein alberner Gedanke, aber sie wünschte sich, ihn noch einmal wieder zu sehen.

***

Sie hatte nicht wirklich daran geglaubt, Cryson jemals wiederzusehen. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass er sich vermutlich nur einen Spaß mit ihr erlaubt hatte, als er ihr ein Kompliment machte. Und sie war dumm genug gewesen, ihm Glauben zu schenken. Trotzdem entglitten ihr den ganzen Tag lang immer wieder die Gedanken. Sie konnte sein Gesicht nicht vergessen, es hatte sich mit einer beängstigenden Klarheit in ihr Gedächtnis gebrannt und ließ ihr keine Ruhe. Um sich abzulenken, hatte Jill sich tatsächlich dazu hinreißen lassen, Dana bis zum Nachmittag mit der Hausarbeit zu helfen, obwohl sie die neckischen Sticheleien ihrer Schwester fast wahnsinnig machten. Als die Sonne bereits tief am Horizont stand, machte Jill sich auf den Weg zum Hafen, um nach Firio zu sehen. Sein altes rostiges Fahrrad lehnte an der Wand seiner Scheune. Das Gefährt war neben seinem Akkordeon Firios ganzer Stolz. Er hatte es damals aus dem Wasser gezogen und sich wie ein kleines Kind darüber gefreut. Die Herbststürme des letzten Jahres hatten es an die Küste von Haven gespült.

Jill klopfte an die hölzerne Tür, die von der Feuchtigkeit verzogen war. Der rostige Riegel stellte für ungebetene Eindringlinge kein Hindernis dar, aber Firio fürchtete sich nicht vor Einbrechern. Es gäbe nichts, das sich zu stehlen lohnte, das Akkordeon trüge er immer bei sich. Auch wenn Jill ihm mit der Erfahrung einer Taschendiebin in diesem Punkt beipflichtete, war es ihr dennoch unangenehm, dass Firio hier ganz allein und ohne den Schutz eines sicheren Türschlosses lebte.

»Wer ist denn da?« Firios Stimme drang deutlich durch die dünnen Holzwände.

»Ich bin es, Jill.«

Sie hörte, wie Firio den Riegel beiseiteschob. Dann öffnete sich die Tür mit einem Quietschen, das Jill durch Mark und Bein drang.

Firios Anblick erschreckte sie. Er sah müde aus und noch hagerer als in ihrer Erinnerung, und das, obwohl sie ihn erst vor wenigen Tagen zuletzt gesehen hatte. Seine Haare waren zersaust, dunkle Schatten umrahmten seine Augen. Als er Jill erblickte, verzog er das Gesicht zu einem breiten Grinsen, das ihn sogleich um Jahre jünger erscheinen ließ.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, wann du mich zuletzt zuhause besucht hast. Hast du mich überhaupt schon einmal hier besucht?« Firio kräuselte die Stirn, als müsste er nachdenken. »Ach, wen interessiert das. Wichtig ist, dass du jetzt da bist. Was verschafft mir die Ehre?« Er strich sich mit der Hand verlegen durch die Haare. »Ich kann dir überhaupt nichts anbieten.«

Er bat Jill mit einer einladenden Handbewegung hinein. Es stimmte, sie hatte ihn erst ein einziges Mal nach Hause begleitet, im Inneren seiner Hütte war sie nie gewesen. Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Eine alte Matratze lag auf dem Boden, in einer Ecke stand ein kleiner, uralter Ofen. Ansonsten gab es noch einen Hocker und einen Tisch. Allem haftete ein schwacher Fischgeruch an. Jill schluckte. Sie hatte immer geglaubt, sie selbst wäre arm, aber Firio besaß noch sehr viel weniger als sie. Trotzdem war er immer gut gelaunt. Jill fühlte sich mit einem Mal schlecht.

»Firio, ich wollte mich gar nicht lange bei dir aufhalten. Ich wollte nur wissen, ob es dir gut geht.«

Firio zuckte die Achseln. »Weshalb sollte es mir denn nicht gut gehen, kleine Jill?«

»Ich bin gestern Nacht schon einmal hier gewesen, aber du warst nicht daheim. Ich habe mir Sorgen gemacht.«

Firio schnitt eine Grimasse, als glaubte er, Jill wolle scherzen. »Natürlich bin ich gestern Nacht hier gewesen. Vielleicht sollte ich lieber fragen, ob es dir nicht gut geht?«

»Firio, du bist ganz sicher nicht zuhause gewesen. Ansonsten hättest du mich gehört. Ich habe…« Jill blieben die Worte im Hals stecken. …laut um Hilfe geschrien. Augenblicklich schossen ihr die Erinnerungen der letzten Nacht in den Kopf wie eine Revolverkugel. Sie räusperte sich und senkte die Simme. »Ich habe ordentlich Lärm gemacht. Du wärest doch heraus gekommen, wenn du mich gehört hättest.«

Firio kratzte sich am Kopf. »Ich habe nichts gehört. Was ist denn nur los mit dir, hast du schlecht geträumt?«

Jill spürte leichten Groll in sich aufsteigen. »Firio, ich bitte dich, deine Späße auf einen anderen Tag zu verschieben. Es ist mir sehr ernst. Wo bist du letzte Nacht gewesen?«

Firio machte eine beschwichtigende Geste. »Bloß nicht wütend werden. Ich war hier. Es sei denn, ich leide unter Gedächtnisverlust.« Firio zwinkerte ihr zu. Zum ersten Mal empfand Jill seine aufgesetzte Sorglosigkeit als lästig.

»Schon gut, wenn du mit mir nicht darüber sprechen möchtest, komme ich ein anderes Mal wieder«, sagte sie. »Ich muss jetzt nach Hause, es wird bereits dunkel. Glaube mir, noch einmal werde ich mich unter keinen Umständen nach Sonnenuntergang am Hafen aufhalten.« Jill wandte sich zum Gehen um.

Als sie die Tür gerade hinter sich schließen wollte, rief Firio ihr hinterher: »Ich weiß wirklich nicht, wovon du sprichst.« Jill fuhr ein Schauder über den Rücken. Niemals hatte sie Firio in derart ernster Tonlage sprechen hören.

»Ich kann mich nicht daran erinnern, fort gewesen zu sein«, fügte er hinzu.

Jill drehte sich nicht noch einmal um. Sie war erschüttert und fühlte sich wie benebelt. Sie schloss wortlos die Tür. Ihre Füße trugen sie zurück nach Garnick, eine unbewusste Handlung. Ihre Gedanken rotierten. Wollte Firio sich einen Scherz mit ihr erlauben? Etwas in ihrem Inneren sagte ihr, dass es nicht so war. Sie versuchte sich die Ereignisse der letzten Nacht ins Gedächtnis zu rufen. Hatte Firio bloß zu tief geschlafen, um ihre Hilfeschreie zu hören? War er vielleicht doch zuhause gewesen? Litt er tatsächlich an Gedächtnisverlust? Sie fand keine befriedigende Antwort auf ihre Fragen.

Als sie das Haus der Tevells erreichte, war die Nacht bereits hereingebrochen. So leise wie es ihr möglich war, öffnete sie das Tor zum Hof. Ihr blieb beinahe das Herz stehen, als sie eine Gestalt auf der Treppe zur Küche sitzen sah. Sie konnte im Dunkeln nicht genau erkennen, wer dort saß, aber sie nahm an, dass es sich um ihren Vater handelte. Jill rechnete bereits mit einem gehörigen Donnerwetter, weil sie wieder einmal so spät nach Hause kam. Sie verharrte in ihrer Bewegung und blieb stehen. Sekundenlang erzeugte niemand ein Geräusch, die Person auf der Treppe rührte sich nicht. Jill begann, dieses Spielchen zu langweilen.

»Brad, wenn du gedacht hast, du könntest mich erschrecken, dann ist es dir gelungen. Aber dein beharrliches Schweigen jagt mir keine Angst ein.« Ihre Stimme wirkte in der Stille wie ein Paukenschlag.

Die Person erhob sich und machte einen Schritt auf Jill zu. Erst jetzt bemerkte sie, dass es nicht ihr Vater war.

»Ich wollte dich nicht erschrecken, kleine Jill.« Jill kannte seine Stimme, sie hätte sie unter tausend anderen Stimmen erkannt. Ihr fuhr ein erneuter Schreck durch die Glieder, der ihre Zunge lähmte. Mit offenem Mund starrte sie in die Dunkelheit und versuchte, sein Gesicht zu sehen, erkannte jedoch nur seine Silhouette.

Cryson legte ihr eine seiner großen Hände auf die Schulter. Sein Griff war sanft, aber unnachgiebig. »Ich konnte dich einfach nicht vergessen, bitte verzeih mir.«

»Ich… weiß nicht…«, stammelte Jill. Ihr schwirrte der Kopf. Die verschiedensten Emotionen brachen über sie herein wie eine Sturmflut. Sie hatte sich gewünscht, ihn noch einmal wiederzusehen, aber sie misstraute ihm. Sie war müde und wütend, außerdem hasste sie es, wenn sie jemand überraschte und sie sprachlos machte.

»Ich habe nicht mit dir gerechnet«, brachte sie schließlich zustande.

»Ich hätte dich nicht so überfallen dürfen, aber ich habe keine andere Möglichkeit gesehen. Ich wusste nicht, wo ich dich sonst suchen sollte.« Er kam noch einen Schritt näher. Im schwachen Licht des Mondes erkannte sie nun seine hellgrünen Augen und das glatte Gesicht mit den vollen Lippen. Er trug denselben langen Mantel wie am Vorabend, und auch heute roch er wieder nach teurem Parfum.

»Woher wusstest du, wo ich wohne?« Langsam fand Jill wieder Zugang zu ihrem Verstand.

»Ich bin dir gestern nachgelaufen.« Er lächelte.

»Was willst du von mir? Kannst du nicht morgen früh wiederkommen? Es ist spät und ich bin müde.«

Seine Augen zuckten einige Sekunden lang wild hin und her, als müsse er angestrengt überlegen. »Ich kann nicht so lange warten«, flüsterte er.

»Warten? Worauf?« Jill verschränkte die Arme vor der Brust.

»Ich möchte dir etwas zeigen.« Der Tonfall in seiner Stimme verriet Jill, dass es ihm äußerst ernst damit war.

»Zeigen? Wenn es sich dabei um das Etwas hinter deinem Hosenstall handelt, dann muss ich dankend ablehnen.«

Cryson lachte. »Oh nein, du musst wirklich viele schlechte Erfahrungen in deinem Leben gemacht haben, oder? Ich möchte dir nicht zu nahe treten, sondern dich wirklich kennenlernen.«

»Wer würde mich kennenlernen wollen?« Jill drehte sich einmal um ihre eigene Achse und deutete dabei auf ihre Umgebung. »Sieh dich doch um. Ich bin arm, ich besitze nichts. Ich habe nicht einmal viel Oberweite. Außer dem Kerl von gestern Nacht wollte mich bislang nicht einmal jemand für sein Bett haben.« Sie schnaubte verächtlich und schüttelte den Gedanken ab, bevor sie fortfuhr: »Was bitte veranlasst dich dazu, mir nachzustellen?« Jill hatte sich nun richtig in Rage geredet, obwohl ihr das immer breiter werdende Grinsen auf Crysons Gesicht nicht entgangen war.

»Siehst du, genau deshalb finde ich dich so interessant.« Er zwinkerte ihr zu. Jill war noch immer nicht gewillt, ihre gerunzelte Stirn und die vor Wut zusammengepressten Lippen zu entspannen.

»Du bist so erfrischend ehrlich und nicht auf den Mund gefallen«, fügte er an. »All die Frauen aus meinen Kreisen besitzen ihre Köpfe bloß zum Frisieren. Die interessieren mich nicht.«

»Und was denkst du, was ich jetzt tun soll?«

»Sieh dir doch erst einmal an, wo ich wohne. Ich zwinge dich zu nichts, aber es ist mein größter Wunsch, diese einzigartige Frau aus diesem Elendsviertel zu befreien.«

»Ich bin doch kein kleines Kind, das man mit einem Stück Schokolade anlocken kann.«

Cryson legte seinen Mantel ab. Darunter trug er ein eng an der Haut anliegendes Hemd, das seine Muskeln umspielte. An seinem Gürtel baumelte ein Messer. Jill starrte wie gebannt darauf, als er es aus der Scheide zog. Sie setzte zur Flucht an und bereute bereits, sich je mit Cryson unterhalten zu haben, als er ihr die Klinge mit dem Griff voran entgegenstreckte. Verwirrt verharrte sie in ihrer Bewegung.

»Nimm den Dolch«, sagte Cryson. »Du kannst mich untersuchen, ich habe keine andere Waffe.« Er drehte sich wie zur Demonstration einmal um die eigene Achse. Zögernd nahm Jill das Messer entgegen.

 

»Du darfst mir die Klinge meinetwegen an den Hals halten, während ich dir mein Haus zeige«, sagte er. »Natürlich sollst du es dir nur von außen ansehen. Ich schwöre dir, ich hege keine bösen Absichten.«

Jill starrte verdutzt auf die Klinge, die beinahe so lang war wie ihr Unterarm. »Wenn ich mir dein Haus ansehe, lässt du mich dann für heute Nacht in Ruhe?«

Cryson antwortete ihr mit einem stummen Nicken.

»Nun gut, dann werde ich dir diesen Gefallen tun. Aber ich warne dich: Ich werde nicht zögern, dieses Messer zu gebrauchen. Außerdem kann ich verdammt schnell laufen. Unterschätze mich bitte nicht.«

»Das tue ich nicht. Ich habe großen Respekt vor einer starken Frau wie dir.«

Gemeinsam verließen sie den Hof. Jill umfasste den Dolch mit festem Griff, jederzeit bereit, Cryson damit ernsthafte Verletzungen zuzufügen.

Er führte sie quer durch die Stadt. Schon bald hatten sie die ärmeren Viertel hinter sich gelassen. Die ganze Zeit über versuchte Cryson, sie mit belanglosem Gesprächsstoff bei Laune zu halten. Jill kam sich schon bald sehr albern vor, weil sie mit gezückter Waffe neben ihm her lief, gleichzeitig aber über seine Scherze lachte. Was für eine seltsame Nacht!

Sie erreichten ein Wohnviertel am nördlichen Ende der Stadt. Die Häuser standen hier locker verteilt entlang einer breiten Straße, jedes einzelne war von hohen Zäunen umgeben. Dichte Hecken schützten die Grundstücke vor fremden Blicken. Jill wusste, dass man das Viertel Breagan nannte, aber sie kannte sich hier nicht aus. Dies war keine bevorzugte Gegend für eine Taschendiebin. Es gab wenig Schlupfwinkel und kaum Möglichkeiten, ungesehen zu verschwinden. Sie fühlte sich mit jedem Schritt, den sie sich weiter vom Zentrum der Stadt entfernte, unwohler.

»Wohnst du in Breagan?«, fragte sie, bemüht, sich ihre wachsende Unsicherheit nicht anmerken zu lassen.

»Mein Haus steht knapp hinter der Stadtgrenze. Wenn du es wünschst, bringe ich dich nachher persönlich wieder zurück nach Hause. Ich weiß, dass der Weg weit ist.« Er warf ihr einen verlegenen Blick zu. Jill entspannte sich. Sie wusste nicht, wie Cryson es anstellte, dass sie ihm freiwillig mitten in der Nacht quer durch Haven folgte. Weshalb übte er einen so großen Reiz auf sie aus? Jedes Mal, wenn sie darüber nachdenken wollte, entglitten ihr ihre Gedanken. Er brauchte sie bloß anzulächeln, und all ihre Bedenken verloren augenblicklich an Substanz.

»Du siehst aus, als wohntest du auf Falcon’s Eye«, murmelte Jill.

Cryson stieß ein amüsiertes Lachen aus. Seine Stimme hallte über die menschenleere Straße. »Oh nein, ich gehöre nicht zum Adel. Ich habe bloß ein florierendes Familienunternehmen geerbt. Ich bin mein eigener Herr.«

»Und zu welcher Familie gehörst du?«

Cryson antwortete nicht sofort, als hätte ihn diese Frage überrascht. »Ich heiße Cryson Lancum«, sagte er schließlich.

»Diesen Namen habe ich niemals gehört.«

Cryson ignorierte ihre Bemerkung, und Jill hakte nicht weiter nach. Die breite Hauptstraße verjüngte sich jäh und verwandelte sich in einen ungepflasterten Weg, der hinter eine Baumgruppe führte. Jill verlangsamte ihre Schritte. Egal, mit welcher Methode Cryson ihr den Kopf gewaschen hatte, jetzt schrillten ihre Alarmglocken unüberhörbar. Es war, als wäre sie aus einem Traum erwacht. Mit einem Mal fragte sie sich, welcher Geist in sie gefahren sein mochte, dass sie sich so weit von ihrem Elternhaus entfernt hatte. Sie starrte auf das Messer in ihrer Hand, dessen Klinge im Mondlicht blitzte. Um sie herum quakten Frösche und surrten Insekten. Es roch nach feuchtem Erdreich und lauer Sommerluft. Unzählige Sinneseindrücke prasselten plötzlich mit aller Deutlichkeit auf sie ein. Cryson schien ihre Paralyse zu bemerken, denn er drehte sich zu ihr um und streichelte sie mit sanften Blicken.

»Was hast du?«, fragte er. »Wir sind fast da, es sind nur noch ein paar Schritte.«

Mit offenem Mund starrte Jill ihn an. Einen Augenblick lang wollten sich keine Worte in ihrem Kopf formen, doch dann fand sie den Zugang zu ihrem Verstand wieder.

»Es tut mir leid, aber ich glaube, ich habe einen Fehler gemacht.« Ihre Stimme klang dünn und gepresst. Sie drehte sich herum und befahl ihren Beinen zu rennen, aber es wollte ihr nicht recht gelingen. Mit geringfügig beschleunigten Schritten stapfte sie den Weg zurück, den sie gekommen waren.

»Jill, sei doch jetzt nicht albern«, rief Cryson ihr hinterher. »Wenn ich dir hätte Gewalt antun wollen, hätte ich es längst getan. Dazu hätte ich dich nicht bis hierher bringen müssen.«

Jill spürte Crysons Hand auf ihrer Schulter. Reflexartig schnellte sie herum und stieß ihn von sich, die Klinge auf ihn gerichtet. Rückwärts gehend entfernte sie sich einige Schritte von ihm.

»Ich möchte jetzt wirklich nach Hause gehen.«

Mit einem Mal verfinsterte sich Crysons Miene. Sein Gesicht bekam raubtierhafte Züge und Jill hätte schwören können, ein gelbes Licht in seinen Augen aufblitzen zu sehen. Sie erschrak und schloss ihre Finger noch fester um den Griff des Messers, bis sich ihre Fingerknöchel weiß färbten. Jeder Muskel ihres Körpers war angespannt und bereit, ihn anzugreifen.

»Lass mich gehen, sonst ramme ich dir die Klinge in den Wanst.«

»Jill, es hätte alles so einfach sein können, aber leider zwingst du mich jetzt dazu, Dinge zu tun, die ich nicht tun möchte.«

Noch bevor Cryson die Worte ausgesprochen hatte, war er bei ihr. Es war, als fehlten einige Sekunden in Jills Erinnerung. Nur einen Lidschlag zuvor hatte er noch mindestens fünf Yards weit weg gestanden und im nächsten Moment griff er bereits mit seiner mächtigen Hand nach Jills Handgelenk und entriss ihr den Dolch. Klirrend fiel er zu Boden. Cryson nahm Jill hoch wie eine Puppe, mit einem Arm hielt er sie komplett umschlugen. Jill war unfähig, sich zu bewegen. Seine andere Hand presste er auf ihren Mund. Jill wollte schreien und um sich treten, aber Cryson war ihr körperlich so weit überlegen, dass ihm ihre Gegenwehr wie die Tritte eines kleinen Kindes vorkommen musste. Panik stieg in Jill auf, aber sie merkte bald, dass sie sich mit ihrem wilden Gezappel nur selbst verletzte. Cryson trug sie weiter den Weg entlang, bis die Dunkelheit sie beide verschluckte. Die Baumkronen verdeckten den Mond, Jill konnte den Weg unter sich nicht mehr erkennen. Cryson hingegen trug sie zielstrebig um mehrere Biegungen herum. Es war, als könnte er mühelos im Dunkeln sehen.

»Es tut mir wirklich leid, kleine Jill«, flüsterte er. »Ich möchte dir kein Leid zufügen. Du wirst bald verstehen, weshalb ich das tun muss.«

Obwohl die Situation alles andere als behaglich war, entspannte sie sich etwas. Sie war sich sicher, dass Cryson kein normaler Mensch sein konnte. Sie hätte niemals eine Chance gegen ihn gehabt, selbst wenn sie mit hundert Messern bewaffnet gewesen wäre.

Jill spürte, wie Cryson sie einige Stufen über eine kurze Treppe hinab trug. Dann blieb er stehen und stellte sie zurück auf ihre Füße. Noch immer presste er ihr eine Hand auf den Mund. Wenn die Baumkronen sich im Wind hin und her wiegten und das Mondlicht für einen kurzen Augenblick ungehindert bis auf den Waldboden drang, konnte Jill einen flüchtigen Blick auf das werfen, was sich nun vor ihr befand. Es war eine Tür, jedoch keine von der Sorte, die Jill kannte. Sie bestand weder aus Holz noch aus Stein, und ob es sich dabei tatsächlich um einfaches Metall handelte, konnte sie nicht mit Sicherheit bezeugen. Die Tür, oder was auch immer dieses Gebilde darstellen wollte, war zweieinhalb Yards hoch, mindestens zwei Yards breit und erinnerte mehr an ein Kunstwerk als an eine Tür. Der Künstler hatte verzierte messingfarbene Platten aneinandergefügt und sie mit allerhand kleinen Rohren bestückt. Um den Türrahmen herum verlief eine Reihe von Zahnrädern, große und kleine, dicke und dünne. Jill starrte das Konstrukt ehrfürchtig an und vergaß darüber sogar, dass Cryson sie festhielt.

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