Der Fall des verschlüsselten Briefes

Text
Aus der Reihe: Enola Holmes #6
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Kapitel 3

Als ich Duque Luis Orlando del Campos Residenz in der Oakley Street zum ersten Mal erblickte, blinzelte ich überrascht. Höchst unerwartet handelte es sich dabei um orientalisierende Architektur, und das in dieser exklusiven Nachbarschaft nahe dem Themse-Uferdamm. In nahezu ganz London konnte man neogriechische, georgianische, italienisch anmutende, französische, schweizerische, bayerische Bauten ad infinitum vorfinden – häufig auch bedauerliche Mischungen –, doch kaum trifft man je auf Orientalistik. Das aus gelben Ziegeln erbaute Haus scheute geschmackvollerweise Töne von Ocker, Oliv oder Rostrot und bevorzugte stattdessen zinnoberrote Zierleisten und pfauenblaue Dächer. Rubinrote und smaragdfarbene Buntglasfenster funkelten unter rotweiß gestreiften Spitzbögen. Übergroße Fliesen im Schachbrettmuster bedeckten die Eingänge und die Erkerfenster, Türmchen et cetera wurden nicht nur von gewöhnlichen Schindeln überdacht, sondern von bronzenen Kuppeln, wie etwa aus Tausendundeine Nacht. Während ich mich der Eingangstür näherte und einen Türklopfer in Form eines grinsenden Dschinn betätigte, bereitete ich mich mental auf so ziemlich alles vor. Vielleicht ein Butler mit Turban?

Nein. Ein vollkommen gewöhnliches Zimmermädchen in einem geblümten Kleid öffnete mir die Tür, um mich einzulassen, und hielt mir das obligatorische Silbertablett für Dr. Ragostins Karte hin, die ich handschriftlich um meinen neuen Alias ergänzt hatte: Mrs John Jacobson.

»Ist Mr Sherlock Holmes ebenfalls anwesend?«, fragte ich das Zimmermädchen.

»Noch nicht, Madam. Wir erwarten ihn in Kürze.«

Oh weh. Wenn Sherlock auftauchte, würde ich einen Weg finden müssen, mich rasch in Luft aufzulösen.

Das Mädchen brachte meine Karte zu den Hofdamen. Keine Zofen, wohl gemerkt, oder gar Gesellschafterinnen, sondern Hofdamen, nicht weniger. Hmm. Das könnte interessant werden, überlegte ich, während ich in einer faszinierend bogenförmigen Eingangshalle wartete, die erfüllt war von geschnitztem Rankenwerk und durchlocht von Nischen. Hier gab es nicht das übliche Meissner Porzellan zu sehen, sondern eine Sammlung seltsamer Gefäße aus Ton und Bronze, die wie alle möglichen Tiere geformt waren: Elefanten, Löwen, Störche, kämpfende Hähne, Delfine, Krokodile, Katzen – nein, erkannte ich einigermaßen erschrocken, die Katzen waren echt. Schlanke, schmucke, orientalisch anmutende Hauskatzen fläzten sich inmitten der Kuriositäten und liefen mit unbekümmerter Balance über die schwungvollen Zierden des geschnitzten Holzes. Alles in allem ergab dies eine solch exotische Atmosphäre, dass ich halb erwartete, in einen Harem geführt zu werden, als das Zimmermädchen erneut erschien, um mich nach oben zu bringen.

Das Boudoir enttäuschte mich nicht. Die Wände waren oberhalb ihrer elfenbeinfarbenen Vertäfelungen vollständig bedeckt von herrlich bunten, sternförmigen Fliesen, die man geschickt zusammengesetzt hatte. Entlang der niedrigen Deckenwölbungen verlief eine Borte aus dicken, stilisierten gescheckten Pferden. An einem Teil der Wand hingen persische Miniaturen in Elfenbeinrahmen. Am Boden lag ein überaus weicher türkischer Teppich mit einem prächtigen Muster. Insgesamt war der Effekt erfreulich fremdländisch.

Die beiden Damen jedoch, die mich empfingen, entstammten unverkennbar sittenstrengem, schmallippigem, blassäugigem britischem Adel, höchstwahrscheinlich die jüngeren Töchter eines Vizekönigs oder Barons. Eine der jungen Ladys wurde mir als Mary Hambleton vorgestellt, die andere als Mary Thoroughcrumb. Die erste trug türkisfarbenen hochfeinen Satin, durchzogen von kupfergoldenen Fäden, und die zweite pfirsichfarbenen, bestickten Seidentaft, besetzt mit rosa Mousselin – beide Gewänder zwar geschmackvoll, aber derart luxuriös, dass ich in meinem Prinzesskleid aus gerippter Seide regelrecht schlicht wirkte. Die Frage drängte sich auf: Wenn sich die Hofdamen der Duquessa so zu Hause anzogen, wie, in aller Reichtum Namen, mochte Blanchefleur selbst sich kleiden, wenn sie sich in der Öffentlichkeit zeigte?

Jedoch hob ich mir diese Frage für später auf, da die beiden Marys sich setzten und mir gleichmütig einen dritten Stuhl zuwiesen. Trotz ihres reichen Aufzugs schienen sie recht armseliger Stimmung, waren ihre Augen doch rot und geschwollen.

»Wir sind schrecklich niedergeschlagen«, sagte die Mary-in-Satin, sobald man uns mit Tee versorgt hatte. Mir hatte das Hausmädchen zuletzt eingeschenkt, zudem gaben mir beide Hofdamen durch ihre übertrieben aufrechte Körperhaltung unmissverständlich zu verstehen, wie über die Maßen glücklich ich mich schätzen durfte, überhaupt von ihnen empfangen zu werden.

»Wir haben bereits mit der Polizei gesprochen«, ergänzte Mary-in-Taft verstimmt. »Was ist es denn, was Ihr, äh, Dr. Ragostin noch wissen möchte?«

Gemäß meiner Rolle öffnete ich einen kleinen Handkoffer, den ich mitgebracht hatte, zog mir die Sommerhandschuhe aus Nankingbaumwolle von den Fingern und warf sie hinein, bevor ich einen Schreibblock hervorholte und mich mit gezücktem Stift bereitsetzte. »Zunächst einmal fragt er sich, welches Unterfangen Euch und Eure geschätzte Herrin nach Marylebone führte?«

»Unterfangen trifft es kaum«, keifte Türkissatin. »Unsere liebe Blanchefleur benötigt keinen Grund, um dorthin zu gehen, wohin es ihr beliebt.«

Unsere liebe Blanchefleur? Nicht unsere liebe Lady oder unsere liebe Herrin? Allem Anschein nach stand die Duquessa ihren Hofdamen außergewöhnlich nah.

»Ihro Gnaden war … ich meine, sie ist …« Die Hofdame geriet ins Stammeln und schien kaum in der Lage fortzufahren. »… ein rastloser Geist …«

»Jung«, warf die andere Mary ein, obwohl sie selbst kaum älter als zwanzig sein konnte, »und auf harmlose Art abenteuerlustig. Ihr behütetes Leben kommt ihr häufig schrecklich öde vor, wenn also eine spontane Laune verspricht, sie glücklich zu machen …«

Tränen traten in ihre auffallend eng stehenden Augen. Sie scheinen ihre Herrin wahrhaft zu mögen, machte ich mir einigermaßen überrascht eine geistige Notiz.

»Eine Laune?«, hakte ich nach.

»Ja. Sie wollte die ganze Stadt erkunden, abgesehen von den Orten, die besonders abschreckend sind. Irgendwo hatte sie gehört, man könne die Bezirke anhand der verschiedenen Straßenlaternen voneinander unterscheiden …«

Vollkommen richtig – auch ich fand es einigermaßen faszinierend, mir die Zeit damit zu vertreiben, einen lächerlich dekorierten Laternenpfahl vom anderen zu unterscheiden. Allmählich verspürte ich für die junge Gattin des Duque Luis Orlando del Campo eine gewisse Zuneigung.

»… jedenfalls hat sie sie gern begutachtet, daher haben wir an den meisten Tagen die Kutsche hierhin oder dorthin genommen, um spazieren zu gehen.«

»Ein durchaus normaler und interessanter Zeitvertreib«, versicherte ich ihnen. »Und der gestrige Ausflug führte Euch in die Baker Street? Zum Untergrundbahnhof?«

»Ja, aber natürlich würde keine von uns jemals dort hinuntersteigen.« Der Himmel bewahre! Nicht dorthin, wo einem ein Wölkchen Zigarrenrauch, Bier oder gesalzener Heringe ins feine Näschen steigen könnte. »Wir wollten lediglich daran vorbeilaufen, doch am Eingang lungerte eine jämmerliche alte Gestalt …«

»Schniefte und wimmerte, sie wäre lahm und hätte Wassersucht, würde es allein nicht die Treppe hinunter schaffen und sicher ihren Zug versäumen. Inzwischen bin ich sicher, dass all dies nur vorgetäuscht und Teil eines schmählichen Plans war«, warf die lebhaftere türkise Mary ein. »Doch zu diesem Zeitpunkt dachten wir uns selbstredend nichts Schlimmes dabei, als die liebste Blanchefleur …«

Augenblicklich richteten beide den Blick an mir vorbei auf die gegenüberliegende Wand, so abrupt, dass ich mich ebenfalls in diese Richtung umdrehte und dort ein lebensgroßes Porträt einer wirklich liebreizenden jungen Frau entdeckte. Ihr blonder, zerbrechlich wirkender Kopf, vor allem ihre sensiblen, mitfühlenden Augen standen in krassem Gegensatz zu der reichen und schweren roten Samtrobe , die übertrieben mit Perlen aus Gold besetzt war.

»Ist sie das?«, rief ich unwillkürlich, denn nachdem ich den Duque kennengelernt hatte, hatte ich mir irgendwie vorgestellt, seine Gattin wäre ebenso exotisch und temperamentvoll wie er, obwohl ich ja wusste, dass sie die Tochter eines britischen Earl und dessen französischer Frau war.

»Ja, das ist unsere liebe Herrin, wobei es sie nicht annähernd trifft«, sagte Taft-Lady in gänzlich neuem Tonfall, zart, beinahe anhimmelnd. »Sie hat das Gesicht eines Engels und das Herz eines lieben, traurigen Kindes. Eine freundlichere, sanftere Seele …«

»… hat es nie gegeben«, unterbrach Satin. »Ein geduldigeres, heiligeres Lamm …« Und sehr zu meinem Unbehagen begann diese arrogante junge Frau zu weinen.

»Aber, aber, ist ja gut«, sagte die andere zu ihr. »Woher hätten wir das ahnen sollen? Und wie hätten wir es verhindern können?«

An mich gewandt erklärte sie: »Wir machen uns Vorwürfe, dennoch geschah alles so schnell und so selbstverständlich …«

»Diese zahnlose Hexe mit den Borsten am Kinn!«, würgte Satin schluchzend hervor.

»Sie rief unserer Herrin zu«, Tafta gab sich Mühe, einen Cockneyakzent nachzuahmen: »Oh, gesegnet süße Madonna, die zur Erden runtergestiegen is, Se werd’n ner alten lahmen Frau doch helf’n, nich? Die steil’n Stuf’n – würd ich die runterfall’n, wär’s mein Ende, aber wenn ich in Ihre Engelsaug’n schau …«

»Es reicht«, befahl die andere gepresst.

»An mehr kann ich mich ohnehin nicht erinnern«, erwiderte Mary-in-Taft, »denn da war die liebe, impulsive Blanchefleur schon dabei, der alten Bettlerin die Treppe hinunterzuhelfen, und wir haben sie nicht mehr gesehen.«

 

Obwohl die Hofdamen es nicht aussprachen, bin ich sicher, sie standen wie vom Blitz getroffen auf dem Gehsteig. Um ihnen auf die Sprünge zu helfen, fragte ich: »Wie sah diese alte Frau aus?«

»Wie eine Kröte unter einer abgrundtief hässlichen, alten Strohhaube«, antwortete Satin barsch, als sie sich von ihren Tränen erholt hatte. »Ich sagte zu Mary: Ihr geht Blanchefleur nach und ich bleibe hier, um auf sie zu warten, solltet ihr aneinander vorübergehen.«

Gewiss hatte es über diesen Punkt einigen Zank gegeben, worauf wir jedoch nicht eingingen. Einige Augenblicke mochten verstrichen sein, bevor eine der Hofdamen sich die Treppe hinuntergetraut hatte, während die andere oben wartete.

»Ich habe gesucht und gesucht, inmitten des schändlichsten und heruntergekommensten Gesindels, das man sich vorstellen kann! Die Gleise auf und ab, den gesamten Bahnsteig entlang, doch sie war nicht da! Selbst in einer Besenkammer hinter den Metallstufen sah ich nach …«

»Die Blanchefleur nicht wieder heraufkam, was ich für meinen Teil beschwören kann«, keifte die andere, »also müsst Ihr sie übersehen haben!«

»Aber ich habe überall gesucht!«

»Und die alte Frau?«, fragte ich, bevor sie einen Streit vom Zaun brechen konnten.

»Verschwunden, als hätte es sie nie gegeben! Wie vom Erdboden verschluckt! Genau wie unsere liebe Blanchefleur.«

Kapitel 4

Angesichts ihrer Trauer erschien es mir herzlos, sie noch länger zu strapazieren. Also packte ich meine Notizen ein und war gerade aufgestanden, um zu gehen, als von unten der Klang einer Stimme an meine Ohren drang, die zunehmend zornig und laut wurde.

»… Schlagzeilen in sämtlichen Zeitungen: ‚Schönheit der feinen Gesellschaft entführt‘, ‚Schockierendes Verschwinden von Earl-Tochter‘, ‚Gattin eines katalanischen Adligen verschleppt‘ …«

Unverkennbar, diese Stimme …

Mein Bruder Sherlock!

»… und doch behauptet Ihr, Ihr hättet mit der Morgenpost nichts erhalten?«

Die Antwort war zwar nicht hörbar, aber offensichtlich negativ.

»Ich befürchte, das ganze Tamtam in der Presse könnte sie verschreckt haben.« Sherlock klang deutlich verärgert. »Und solange wir keine Lösegeldforderung vorliegen haben, gibt es reichlich wenig, was wir unternehmen können.«

Ihn das sagen zu hören überraschte mich, denn mir waren allerdings verschiedene Dinge eingefallen, die ich tun wollte – doch solange er im Haus war, musste ich mich im Ankleidezimmer versteckt halten. »Äh, mmh«, wandte ich mich an die beiden Marydamen, »könntet Ihr mir wohl beschreiben, was Ihro Gnaden zu jenem schicksalsschweren Ausflug anhatte, als Ihr sie zuletzt gesehen habt?«

Erfreut beantworteten sie mir meine Frage in allen Details. »Oh, sie trug ihre neue Flanierrobe von Redfern mit Ärmeln nach der allerneuesten Pariser Mode!«

»Bauschig, wissen Sie«, erklärte die andere Mary herablassend, als hätte ich keine Ahnung: Während die Hinterteile weiblicher Garderoben an Volumen einbüßten, schwollen Schultern und Oberärmel auf groteske Ausmaß an. Ohne Puff-irgendwas ging es scheinbar nicht.

»Aus Moiréseide, schillernd in allen Farben einer Taubenbrust, mit Kellerfalten vorn und einer breiten Gürtelapplikation aus weißen Perlen in einem wirklich hinreißenden Design nach der Art Nouveau …«

Art Nouveau? Möglich, dass ich ratlos wirkte, denn schon rief sie: »Einen Augenblick, ich glaube, wir haben eine Fotografie!«

Ich sah zu, während beide Marys Schubladen voll von prächtiger Unterwäsche durchsuchten. Ein Stapel makellos gebügelter Taschentücher fiel zu Boden. Ich hob sie auf und bewunderte die luxuriösen Randverzierungen aus venezianischer Spitze und die dicht gestickten scharlachroten Monogramme, eingefasst mit Gold: DdC.

»Duquessa del Campo?«, riet ich, als ich die Taschentücher der Taft-Mary reichte.

»Ganz recht. Wo steckt nur dieses Foto?«, jammerte Satin.

Da ich glücklicherweise bereits auf den Beinen war, während sie suchten, nahm ich mir die Freiheit heraus, im Gemach umherzuspazieren und den reichhaltigen Luxus zu bestaunen: ein prächtiger Farngarten, gut bestückte Bücherregale mit Glastür, enorme exotische Vasen, in denen Pfauenfedern steckten, als wären es Blumen, ein absolut herrlicher Schreibtisch mit Intarsien aus Rosenholz …

Auf dem Schreibtisch lag ein halb fertiggestellter Brief, geschrieben mit blauer Tinte auf einem Papier herausragender Güte mit dem DdC-Monogramm darauf. Dieser Brief interessierte mich über alle Maßen, obwohl ich darauf achtgab, den Anschein zu erwecken, als würde ich rein zufällig in seine Richtung schlendern. Anhand der Handschrift einer Person kann ich allerlei über sie ableiten, und Blanchefleurs Schrift erschien außergewöhnlich viel Bescheidenheit auszustrahlen: keinerlei Schnörkel, jeder Buchstabe schlicht und behutsam geformt. In der Tat unterschied sie sich allein durch die Größe von der eines Kindes.

Auch der Inhalt des Briefs war bemerkenswert. Vielleicht sollte ich erklären, dass ich eine Seite mit nur einem Blick vollständig lesen und begreifen kann, womöglich weil ich es als Kind auf mich genommen hatte, die gesamte Encyclopaedia Britannica zu lesen, wodurch ich sehr geübt und schnell wurde. Auch wenn ich es vermutlich nicht Wort für Wort exakt im Gedächtnis abspeicherte, stand im Brief der Lady sinngemäß Folgendes:

Liebste Mama,

ich hoffe, Euch und meinem liebsten Papa geht es gut. Ich vertraue darauf, dass er im warmen Sommerwetter weniger mit seinem Rheuma zu kämpfen hat. Danke, dass Ihr mir Euer Rezept zur Zubereitung von Aal in Minzsoße mit Kürbisgemüse geschickt habt. Ich habe es der Köchin in allen Einzelheiten beschrieben und gewiss werden wir es bald kosten dürfen. Meine größten, und tatsächlich auch einzigen, Neuigkeiten sind mein neues Kleid von Redfern, das mir mein lieber Gatte auf Drängen von Mary T. und Mary H. bestellt hat. Natürlich ist es hinreißend und schon in ein oder zwei Seiten werdet Ihr ausführlich darüber lesen können, versprochen – doch Mama, als Nächstes wollen sie mich nach Paris bringen, um mich von Worth einkleiden zu lassen, und gerade Ihr wisst, wie schrecklich ich mich bei so viel Extravaganz fühle. Was habe ich in meinem Leben je Gutes oder Nützliches getan, um so viel Reichtum zu verdienen? Ich weiß, Papa hat mir immer erzählt, dass wir so gut gestellt sind, weil Gott es so vorgesehen hat, und dass die Armen aus demselben Grund oder aber weil sie faul sind, eben arm sind. Aber damit kann ich mich nicht zufriedengeben. Ich sehe die Armen auf der Straße – hier in London kann man keinen Schritt vor die Tür tun, ohne auf sie zu treffen, die blinden Bettler, verkrüppelten Soldaten, kraushaarigen Frauen, die kleine Blumensträußchen verkaufen, die Kinder in ihren Lumpen – und sie tun mir so schrecklich leid. Ich schenke ihnen Pennys und meine Hofdamen schelten mich dafür, obwohl sie natürlich so gut sind, meinem Gatten nichts davon zu berichten – der liebe Luis. Ihr wisst, wie leidenschaftlich er auf jede Kleinigkeit reagiert, entweder brüllt er wie ein Drache oder bedeckt mich mit so lauten Küssen, dass es mir peinlich ist. Ich hatte angenommen, sein Überschwang würde im Laufe der Jahre abnehmen, da ich mich so unwürdig fühle, seine Frau zu sein, habe ich ihm doch noch immer keine Kinder schenken können, aber nein. Selbstverständlich darf man weder verzagen noch undankbar sein, doch wie ein Kleid von Redfern die Dinge in Ordnung bringen soll, ist mir ein Rätsel. Vergebt mir, sollte ich undankbar erscheinen. Ich weiß kaum, wie ich den Aufruhr meiner Gefühle in Worte fassen soll.

Offenbar entsprach das der Wahrheit, denn an dieser Stelle brach der Brief ab. Tatsächlich ging es mir ganz ähnlich, auch ich wusste meine Gefühle nicht recht einzuordnen. Ich hatte erwartet, Blanchefleur würde sich als verwöhnte und verachtenswerte Aristokratin erweisen, doch sie zeigte offenkundig Gewissen und Bewusstsein, wodurch ich mich fragte, ob ich sie vielleicht sogar mögen würde, sollte ich sie je persönlich kennenlernen.

»Ah! Da ist es ja!«, rief Mary Satin.

Ich eilte zu ihr und sie zeigte mir eine große Fotografie im Klapprahmen, den ich öffnete.

Kapitel 5

Verloren und verlassen wirkte das schmale Gesicht der Duquessa inmitten ihrer eigenen goldblonden Haarpracht und dem alarmierend überschwänglichen Kostüm. Ihr trauriger Blick traf meinen, und zwar über einem unvorstellbar übertriebenen Rüschenkragen aus Seide mit einer weichen Schleife an der Seite statt vorn. Eine dazu passende Schleife fand sich auf der anderen Seite des … Lieber Himmel, was für ein drakonischer Gürtel! Ungläubig starrte ich darauf und platzte heraus: »Ich glaube, Ihro Gnaden hat die schmalste Taille, die ich je gesehen habe.«

»Gut möglich!«, sagte Tafta stolz. »Seit der Kindheit trägt die liebe Blanchefleur ein Löffelkorsett.«

Du meine Güte! Ein Korsett, das komplett Ober- und Unterkörper bedeckt, mit einem »Löffel« aus massivem Metall, der jegliches Hervortreten von Körperteilen unterhalb der Büste minimiert. Und das seit der Kindheit! Ich konnte mir ihr Leiden kaum vorstellen. Notwendigerweise trug ich selbst ein Korsett, um Gegenstände wie etwa meinen Dolch darin zu verbergen, doch ich schnüre es nie fest. Und selbst da kann ich es kaum erwarten, das steife Ding am Ende des Tages endlich loszuwerden …

»Sie trägt es ununterbrochen, selbst beim Schlafen.«

Die Duquessa trug ihr Korsett sogar noch zum Schlafen? Solch ein Martyrium für eine schmale Taille wurde von adligen Damen erwartet, dennoch, wie … wie grässlich.

»Allein mit der Ausnahme ihres Wochenbetts.«

Wochenbett? »Dann hat sie, ähm …?«

»Leider waren es beide Male Fehlgeburten.«

Wen wunderte es?!

»Sehr enttäuschend und dabei ebenso schmerzhaft wie eine Lebendgeburt. Sie haben die Gesundheit von Ihro Gnaden stark in Mitleidenschaft gezogen.«

In der Tat. Liebe Güte, so verkrüppelt vom übertriebenen Schnüren, hätte die Duquessa sehr wohl selbst sterben können. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie ein Kind zur Welt bringen sollte, was jedoch allem Anschein nach von ihr erwartet wurde.

»Mir scheint«, sagte Mary-in-Satin und nahm mir die Fotografie wieder ab, »dass Mr Sherlock Holmes dies sehen sollte. Ich glaube, ich habe ihn noch vor einem Moment im Erdgeschoss gehört.«

Oh nein. Ich tat so, als hätte ich sie nicht wahrgenommen, und brabbelte: »Ihro Gnaden trug natürlich Handschuhe?«

»Oh ja, aus weißer Spitze.«

»Und was hatte Ihro Gnaden zu ihrem Ensemble sonst noch bei sich?« Denn eine Lady trug in der Öffentlichkeit immer etwas bei sich, etwa einen Pompadour, einen Muff, einen Fächer oder …

»Einen Sonnenschirm aus weißer Spitze mit einem Besatz aus Moiréseide, passend zum Kleid«, antwortete Tafta. »Und in der anderen Hand ein Taschentuch.«

Das überraschte mich etwas. Taschentücher wurden für gewöhnlich von unverheirateten jungen Damen mitgeführt, gehalten exakt in der Mitte, sodass die Ecken sich auffächern und das Tuch umgehend fallen gelassen werden kann, sollte sich ein begehrenswerter Mann in der Nähe aufhalten.

»Blanchefleur brauchte es«, ergänzte Satin, um meine unausgesprochene Frage zu beantworten, »um es sich hin und wieder an die Nase zu halten, da sie leichtes Asthma hatte. Hat, meine ich.« Ihr Tonfall war reichlich steif geworden. Sie ärgerte sich über sich selbst und fühlte sich von mir beleidigt. »Ich werde Sie hinausbegleiten.«

Und so endete meine Audienz abrupt, doch warum rief sie kein Hausmädchen, um mich fortbringen zu lassen?

»Kommen Sie.« Schwungvoll ging sie auf die Tür des Boudoirs zu, den Klappbilderrahmen noch immer an sich gedrückt.

Oh, was für ein Pech! Sie wollte das vermaledeite Ding Mr Sherlock Holmes zeigen. Persönlich. In der Tat, sie konnte es kaum erwarten.

Heiliger Strohsack! Was sollte ich nur tun? Während ich der arroganten Hofdame Richtung Treppe folgte, flitzte mein Geist wie eine Ratte in der Falle hierhin und dorthin, denn sollte Sherlock mich bemerken, könnten die Folgen verheerend sein. Obwohl ich mir einzureden versuchte, dass er mich in meiner schicken und erwachsenen Robe mit dem Hut nicht erkennen würde, könnte er doch fragen, wer ich war, und würde man ihm erzählen, dass ich Dr. Ragostins Assistentin war … Nein, das durfte nicht geschehen. Eine solche Situation konnte ich nicht zulassen. Er durfte von meiner Existenz gar nicht erst Kenntnis nehmen, und …

 

Sobald wir den Treppenabsatz erreichten, erkannte ich mit klopfendem Herzen mitten im geschwungenen Eingang die unverkennbare, hochgewachsene Gestalt meines Bruders, der sich soeben vom Duque Luis Orlando del Campo höchstpersönlich verabschiedete.

»… hoffe inständig, Sie werden etwas Licht in die grauenvolle Düsternis bringen, die über meine Familie hereingebrochen ist.«

Die Hände hinter dem Rücken verschränkt und den Kopf leicht geneigt, hörte Sherlock ihm zu, sodass es den Eindruck von höchstmöglicher Aufmerksamkeit und ebensolchem Mitgefühl erweckte. Ganz bestimmt jedoch wollte Sherlock nichts dringender, als endlich seinen Hut, seine Handschuhe und seinen Stock vom Tisch in der Halle zu nehmen und sich auf den Weg zu machen …

Dieser spindeldürre kleine Empfangstisch – oder Hutständer – befand sich nahe dem Fuß der Treppe, gegenüber der Haustür.

Fast bevor mein Geist zu Ende gedacht hatte, hatten meine Augen bereits gefunden und meine Hände ergriffen, was ich benötigte. Zwei oder drei Katzen spazierten das Geländer auf und ab. Die größte, ein geschmeidiges Exemplar von der Farbe eines Löwen, hob ich mit einer Hand unter dem Bauch in die Höhe und trug sie auf dem Arm. Während ich mein Köfferchen von zwei Fingern baumeln ließ, kraulte ich den länglichen Kopf mit der freien Hand, damit sie keinen Laut von sich geben würde – noch nicht.

Die Satin-Mary, die ganz auf Sherlock Holmes konzentriert vor mir herraschelte, bemerkte nichts von all dem. Auch sonst sah keiner, wie ich die Katze hochnahm, und schließlich erreichten wir das Erdgeschoss.

Obwohl ich aus Überzeugung grundsätzlich gut mit Tieren umgehe, muss ich gestehen, dass ich das arme Kätzchen kurz am Schwanz packte, um es höchstmöglich zu empören, bevor ich es (mit bewundernswerter Treffsicherheit) auf den Hutständer warf.

Das Ablenkungsmanöver war ein Erfolg auf ganzer Linie. Nicht nur, dass die unglückliche Katze wie ein Milchmädchen kreischte, das von einer Kuh getreten worden war, als das Tier landete, rutschten und kratzten seine Krallen obendrein über das gewachste Holz. Es stieß den Zylinder meines Bruders, dessen Handschuhe und Stock auf den Boden, bevor der ganze Tisch umkippte.

Zumindest hörte ich lautes Poltern, während alle Anwesenden mir den Rücken zukehrten und ich durch die Tür ins Freie schlüpfte. Ich hörte jemanden, vermutlich den Duque, brüllen: »Verfluchte Katzenviecher!« und noch etwas darüber, dass ihretwegen ständig Dinge zu Bruch gingen, doch mehr kann ich nicht berichten. Zu meinem Unglück kann ich solche Szenen wie diese nie voll auskosten, da ich für gewöhnlich die Flucht ergreife, während sie sich abspielen.

Doch man darf sich nicht beklagen. Sobald ich das Haus hinter mir gelassen und um die erste Straßenecke gebogen war, war ich beruhigt, dass weder mein Bruder noch sonst jemand im Augenblick einen Gedanken an mich verschwendete.

Nur in Bezug auf das Schicksal der jungen Duquessa hatte ich keine Ruhe, wusste ich doch, dass sie im Untergrund verschwunden war.

Die wenigsten der Ober- oder auch der Mittelschicht begriffen, in welchem Ausmaß London eigentlich aus zwei Welten besteht, der oberirdischen und der darunter. Schon früh hat es viele Flüsse gegeben, die in die Themse strömten. Während die Stadt sich immer weiter ausbreitete, wurden sie überdeckt und dienten als Abwassersystem, jedoch nur bis zur großen Choleraepidemie, nach der ein neues Abwassersystem angelegt wurde, um Abfälle und Unrat Richtung Meer zu befördern. Dennoch gab es diese alten Flüsse nach wie vor. Und dann war die unterirdische Schienenbahn errichtet worden! Wofür die Arbeiter zahlreiche Tunnel anlegen mussten. Eigentlich war es ein Wunder, dass die Stadt auf einem solchen Schweizer Käse von unterirdischen Gängen und Schächten nicht in sich zusammenbrach. Gewiss gab es in einem solchen Wirrwarr Tunnel, die Schurken dazu nutzen konnten, eine reiche Lady zum Zwecke einer Lösegeldforderung zu entführen, nicht wahr?

Ich musste den Untergrundbahnhof an der Baker Street näher untersuchen.

Sie haben die kostenlose Leseprobe beendet. Möchten Sie mehr lesen?