Die Liebe in deinen Spuren

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Oberdorf. Wieder dieses Wort. Aus seinem Mund klang es jedoch weniger lächerlich als aus Celines.

„Ja, ich hab schon davon gehört“, sagte ich. „Celine hat mich heute Morgen besucht und davon zu überzeugen versucht, dass ich dieses Ereignis auf gar keinen Fall verpassen darf.“

„Die gute alte Celine.“ Er grinste. „Wie ich sie kenne, hat sie dich vermutlich eher gezwungen, oder?“

Dass wir anscheinend dieselbe Meinung von ihr hatten, ließ meine Sympathie für ihn weiter steigen.

„Ich lasse mich nicht zwingen“, antwortete ich. „Zumindest nicht von ihr.“

Für einen Moment schien das Lächeln auf seinen Lippen wie eingemeißelt. Er musterte mich schweigend, während sich meine Wangen spürbar erhitzten.

Im Hintergrund begann jemand, über den Tisch zu grölen. Ein Lärm, der sogar die Musik übertönte.

Irritiert drehte ich mich um. „Hier scheint sich nicht viel geändert zu haben.“

Sein Blick folgte meinem in Richtung Gröl-Tisch. „Ach, das sind nur Tekko und seine Kumpane. Die sind fast jeden Abend hier und lassen keine Gelegenheit ungenutzt, sich bemerkbar zu machen.“

„Doch nicht etwa Tekko aus Stove?“ Ich versuchte, das Gesicht über dem schwammigen Doppelkinn zu rekonstruieren.

„Genau der. Macht sich ständig an die Leadsängerin heran. Und die wird nicht müde, ihn jedes Mal aufs Neue abzuweisen.“

Plötzlich wurde meine Aufmerksamkeit auf die Bühne gelenkt. Irgendetwas Vertrautes hatte sich in mein Bewusstsein geschlichen.

„Nackte Füße auf heißem Asphalt, Wangen glühen bei Nacht. Heiße Hände, doch ein Herz so kalt. Was hast du mit mir gemacht?“

Die Worte aus dem Mund der Sängerin klangen fremd und doch wie ein Teil von mir. Erst jetzt erkannte ich auch die Melodie. Ein Cover von Inga Siefert. Der Text war fast drei Jahre alt.

„Was ist?“ Nick bemerkte mein Erstaunen.

Langsam schlich sich ein Lächeln auf meine Lippen. „Das ist von mir.“

„Was meinst du?“

„Den Song.“

„Den die Band gerade spielt?“ Er richtete seinen Blick zur Bühne. „Aber singt das im Original nicht so eine rothaarige Verrückte? Inga irgendwas.“

„Siefert“, antwortete ich. „Inga Siefert. Und ja, der Song ist durch sie bekannt geworden. Die Musik ist allerdings von Walter Mazur, aber der Text von mir.“

Nick schaute zu mir, dann wieder zur Bühne, bis sein Blick wortlos an mir haften blieb.

„Hat es dir die Sprache verschlagen?“, fragte ich.

„Na ja.“ Er griff in die Schale Erdnüsse, die zwischen uns stand. „Als du sagtest, du schreibst, hätte ich nicht an so was gedacht.“

„Wer denkt schon an so was?“, antwortete ich lächelnd, ohne den Blick von der Bühne abzuwenden.

Auch wenn es keine meiner besten Textarbeiten war, beeindruckte mich die Tatsache, meine Worte aus dem Mund einer fremden Sängerin zu hören. Zum ersten Mal seit langem überkam mich so etwas wie Stolz. Ich hatte bereits für viele Bands und Musiker gearbeitet und unzählige Worte eins mit der Musik werden lassen, aber dass mich die Früchte meiner Arbeit auch in Winkeln erreichten, in denen ich es am wenigsten erwartete, erfüllte mich mit einem überwältigenden Gefühl der Zufriedenheit.

Das war sie, meine Passion. Meine Leidenschaft. Ganz egal, wie sehr mich die Erfahrung mit Piet aus der Bahn geworfen hatte, ganz gleich, wie sehr ich in den letzten Monaten gelitten hatte – an dieser einen Aufgabe, meiner Aufgabe, änderten all diese Dinge nichts. Ich lebte für die Worte. Und die Worte lebten – auf ihre Weise – für mich.

„Schöner Text“, sagte Nick leise.

„Danke“, sagte ich. „Ich hatte ihn fast vergessen.“

Kapitel 4

Die Küche stellte sich als besonders angenehmer Arbeitsplatz heraus. Vom Tisch aus, der am Fenster stand, konnte man direkt auf das Wasser hinausschauen. Aus dem Augenwinkel bildete es die ideale Kulisse für den Text, an dem ich gerade schrieb, und für die schwermütige Stimmung, die er erzeugte.

Ich las erneut die ersten beiden Strophen auf meinem Laptop. Noch immer fehlte mir ein eingängiger Text für den Refrain. Die Wortfetzen, die sich bisher dafür zusammengefunden hatten, gefielen mir zwar, trotzdem war ich nicht sicher, ob sie für den wichtigsten Teil des Songs einprägsam genug waren.

Ich will atmen

Ich will schreien

Will mich spüren ohne dich

Lass mich atmen

Lass mich schreien

Auf dem Weg zum neuen Ich

Ich versuchte, mir Piets Stimme hinter diesen Zeilen vorzustellen. Die Art, wie er Vokale in die Länge zog, war charakteristisch für seinen Gesang. Und eine Angewohnheit, die mir in Momenten wie diesen immer wieder in den Sinn kam. Ich liebte es, ihn singen zu hören.

Ein Windzug riss mich aus den Gedanken. Die Fliederblüten in der Vase neben dem Laptop bewegten sich, doch als ich zum Fenster schaute, bestätigte sich meine Vermutung, dass es geschlossen war. Woher war der Windhauch gekommen?

Das Echo einer Stimme, diesmal die eines Mannes, schien für den Bruchteil von Sekunden durch den Raum zu schweben.

Ich liebe Celine. Ich verstehe nicht, wie ich sie derart hintergehen konnte.

Die gerade erst verblassten Gedanken an Piets Stimme ließen mich für einen Moment annehmen, dass es seine Worte waren, die sich in mein Bewusstsein geschoben hatten. Aber die Wahrheit war, dass ich die Stimme nicht kannte.

Was um Himmelswillen hatte es damit auf sich? Irgendetwas sagte mir, dass ich nicht verrückt war, dass es eine Erklärung geben musste für diese seltsamen Geschehnisse, auch wenn ich nicht ahnte, wie diese aussah.

Tatsache war, dass mich die unerklärlichen Wortfetzen nur im und um das Haus heimsuchten, nicht etwa in Percys Tanzscheune. Aber wie konnte mir diese Erkenntnis weiterhelfen?

Der Windzug war mittlerweile abgeflaut, sodass ich mich für einen Moment fragte, ob ich ihn mir vielleicht nur eingebildet hatte.

Ich versuchte, mir die Worte erneut ins Gedächtnis zu rufen. Erst jetzt fiel mir der Name auf, den die Stimme genannt hatte.

Celine.

Möglicherweise dieselbe Celine, die mich gedrängt hatte, zum Flohmarkt zu kommen?

Was hatte das alles zu bedeuten? Und warum war ich mittlerweile an einem Punkt angekommen, da ich mich weit weniger darüber wunderte, als ich eigentlich sollte?

Ich schaute auf mein Handy, das auf der Küchenvitrine lag. Celines Anekdote über die Wunschfarben ihrer Handys kam mir in den Sinn. Sie hatte sich pink gewünscht, ihr Mann dunkelblau. Seltsam, dass ich mich ausgerechnet jetzt daran erinnerte.

Ja, natürlich, der Flohmarkt. Ob Celine jetzt noch dort war? Ich schaute auf die Uhr. Kurz nach elf. Hatte sie nicht etwas von neun bis achtzehn Uhr gesagt?

Für einen Moment zögerte ich, schließlich hatte mir der Gedanke, sie in absehbarer Zeit wiederzusehen, noch am Tag zuvor Magenschmerzen bereitet. Jetzt schien mir jedoch jede Möglichkeit, den verwirrenden Worten zu entkommen und auf diese Weise vielleicht sogar eine Antwort zu finden, Grund genug, um ihrer Einladung zu folgen.

*

„Ich wusste, dass du kommen würdest.“ Freudestrahlend rauschte sie hinter ihrem Schuhstand hervor.

„So etwas lass ich mir doch nicht entgehen“, antwortete ich mit stumpfem Lächeln.

Mit einer kurzen Umarmung begrüßte sie mich. Ihr Atem roch nach Himbeerbonbons und Zigaretten. Als ich ihre Hände auf meinem Rücken spürte, hatte ich für einen kurzen Augenblick den Eindruck, ihr etwas schuldig zu sein. Aufrichtigkeit. Freundlichkeit. Oder zumindest ein bisschen mehr Mühe bei dem Versuch, ihr diese vorzuspielen.

„Und? Hast du dich schon umgesehen?“, fragte sie.

„Allzu viele Stände gibt es ja nicht“, antwortete ich. „Und um ehrlich zu sein, bin ich auch gar nicht konkret auf der Suche nach etwas.“

„Der Sinn von Flohmärkten liegt ja auch nicht im Suchen, sondern im Finden von Dingen, von denen man bisher nicht wusste, dass man sie braucht.“ Sie lächelte wie nach dem Aufsagen eines Gedichts, während ich mich fragte, warum ich eigentlich gekommen war.

Die seltsame Stimme. Ja.

Der Mann, der Celine erwähnt hatte.

Aber was hatte es damit auf sich? Und wie sollte ich mehr darüber erfahren, ohne mich selbst als offensichtlich Verrückte bloßzustellen? Ging es im Grunde nicht nur darum, mir selbst die Kuriositäten, die mich seit meiner Ankunft heimgesucht hatten, zu erklären?

„Bist du alleine hier?“, fragte ich.

„Nein. Meine Schwiegereltern sind auch da.“ Sie deutete mit einer Handbewegung auf die gegenüberliegende Seite. Ein älteres Ehepaar saß mit Rätselheften in der Hand und Lesebrillen auf der Nase hinter einem Bücherstand.

„Aha“, murmelte ich.

„Udo will später auch nochmal vorbeischauen“, fuhr sie lächelnd fort.

Udo. Eine seltsame Ahnung überkam mich.

„Deinem Lächeln zufolge kannst du es kaum erwarten.“

„Na ja, ich gebe gern mit ihm an“, antwortete sie, eine geradezu unaufdringliche Wahrheit, die sie für einen Moment fast sympathisch erschienen ließ.

Ich nickte, während ich darüber nachdachte, ob es sinnvoll war, weitere Fragen zu stellen. Erneut tauchten die Worte vor meinem inneren Auge auf. Ich liebe Celine. Ich verstehe nicht, wie ich sie derart hintergehen konnte.

„Es ist immer wieder schön, wenn Beziehungen heutzutage noch Bestand haben“, sagte ich intuitiv. „Treue und Vertrauen scheinen ja leider kaum noch von Bedeutung zu sein.“

 

„Was meinst du?“ Celine schien verwirrt.

„Na ja, sieht man doch leider überall. Seitensprünge. Lügen.“

„Sprichst du da aus Erfahrung?“

„Nein, nicht direkt, ich … vergiss es. Sei einfach froh, dass es euch nicht betrifft.“

Sie nickte zögernd.

„Also? Wie sieht’s aus? Hast du auch ein paar interessante Schnäppchen in Größe 41 im Angebot?“ Mit bemühtem Interesse begann ich, zwischen den farbenfrohen Tretern zu wühlen.

„41? Da dürfte die Auswahl etwas bescheiden sein.“

Ich ignorierte ihre Bemerkung und suchte weiter, dankbar für eine Tätigkeit, die es mir ermöglichte, ihren fragenden Blicken auszuweichen. Irgendetwas an meiner Bemerkung, vielleicht auch an der Art, wie ich sie geäußert hatte, schien sie zu verunsichern. Ein Umstand, der wiederum mich verunsicherte. Warum nur hatte ich dem Drang nachgegeben und das Thema auf diese Weise angeschnitten? Den Grund für meine Andeutungen konnte ich ihr ohnehin nicht nennen. Warum hatte ich es dann nicht gleich vorgezogen zu schweigen? Ich war meinem Instinkt gefolgt, auf diese Weise ihre Ansichten zum Thema Treue zu erfahren, um vielleicht einen Hinweis auf die Bedeutung der seltsamen Worte zu bekommen, die ich im Haus gehört hatte. Aber war das Grund genug, sie – und in gewisser Weise auch mich selbst – derart zu verwirren?

„Du hast recht“, sagte sie nach einer Weile. „Treue ist wichtig. Das Wichtigste überhaupt.“

Ich nickte, ohne ihren Blick zu erwidern.

Ich fühlte mich ertappt und auf seltsame Weise schuldig. Schuldig aufgrund eines Wissens, das gar kein Wissen war. Im Grunde noch nicht mal eine Ahnung.

Vielleicht war ich wirklich verrückt. Welche Erklärung gab es sonst dafür, fremde Stimmen zu hören oder fremde Worte im eigenen Songtext vorzufinden?

„Umso dankbarer bin ich, dass ich mit Udo einen so guten Fang gemacht habe“, fuhr sie fort, und wieder schlich sich das stolze Lächeln auf ihre Lippen, das sich einstellte, wann immer sie von ihm sprach.

„Schön, dass es so gut für euch läuft.“ Ich griff nach einem Paar bordeauxroter Ballerinas, die mir weder in der Form noch in ihrer Farbe gefielen. Immerhin erfüllten sie den Zweck, ein neues Thema anzuschneiden. „Mit etwas Glück passt mir auch Größe 40.“

„Das würde mich freuen.“ Celine lächelte. „Wenn sie dir passen, bekommst du sie auch zum Freundschaftspreis.“

*

Ich hatte ihr verschwiegen, dass die Schuhe zu eng waren. So schnell ich mich dazu entschieden hatte, ihren Stand aufzusuchen, so schnell hatte ich auch wieder die Flucht ergriffen, was die weitere Suche nach geeigneten Schuhen nur hinausgezögert hätte.

Eine grüne Plastiktüte in der Hand schlenderte ich mit meiner Ausbeute den Weg zu den Ferienhäusern entlang.

Es war mir erstaunlich schnell gelungen, den Grund für meinen Besuch des Flohmarktes zu verdrängen, ebenso wie meine fragwürdigen Versuche, mehr über Celines Meinung zum Thema Treue zu erfahren. Was auch immer mich dazu gebracht hatte, sie aufzusuchen, in diesem Moment schienen meine Beweggründe meilenweit weg. Vielleicht lag es daran, dass mein Kopf automatisch frei wurde, sobald ich mich eine Weile abseits des Hauses befand. Dieselbe Beobachtung hatte ich bereits bei meinem Besuch in Percys Tanzscheune gemacht. Vielleicht hatte mich aber auch einfach Celines Irritation über meine Anspielungen zurück auf den Boden der Tatsachen geholt.

Während ich an den Häusern vorbeiging und meinen Blick über das Wasser wandern ließ, gab ich mich zum ersten Mal seit langem entspannender Gedankenlosigkeit hin. Es war Mittagszeit; anscheinend saß jeder in den eigenen vier Wänden oder in einem der umliegenden Restaurants beim Essen. Auf dem Weg zu meinem Quartier begegnete mir bis auf eine ältere Frau mit ihrem Rauhaardackel keine Menschenseele. Keine fremden Gesichter. Keine Fragen. Keine Gedanken.

Für einen Moment fühlte ich mich frei und unbekümmert. Vielleicht war dieser Ort tatsächlich der richtige, um die eigenen Emotionen zu ordnen, um Abstand von allem zu gewinnen. Abstand vom Großstadttrubel. Abstand vom immer selben Rhythmus. Abstand von ...

„Piet!“

Abrupt blieb ich stehen.

„Was machst du hier?“

Er erhob sich von der Bank neben der Eingangstür. „Tina! Es ist so schön, dich zu sehen.“

Unfähig, mich vom Fleck zu bewegen, auf ihn zuzugehen oder davonzulaufen, starrte ich ihn wortlos an.

„Was ist? Sehe ich so furchtbar aus?“ Er kam einen Schritt näher. „Okay, ich hab zwei Stunden Autofahrt hinter mir, aber das ist kein Vergleich zu den tagelangen Fahrten im Tourbus, oder?“

Er lachte leise, während er mich mit der gewohnten Intensität musterte. Eine Intensität, die noch immer die Macht hatte, mir den Atem zu rauben. Sein Blick war eindringlich, und doch ruhte er gewissermaßen in sich. Eine Kombination, die typisch für ihn war. Ebenso typisch wie meine Unfähigkeit, ihr standzuhalten.

„Tina?“ Er stand nun so dicht vor mir, dass ich die winzige Narbe an seiner Wange sehen konnte. „Was ist los? Hat es dir die Sprache verschlagen?“

Sein Haar war zu kurz, um vom Wind zerzaust zu werden. Die Lederjacke lag wie angegossen auf seinen Schultern, die – so dicht vor mir – noch breiter aussahen, als sie waren.

„Ob es mir die Sprache verschlagen hat?“ Endlich hatte ich meine Stimme wieder gefunden. „Soll das ein Witz sein?“

Fragend erwiderte er meinen Blick.

„Du stehst hier unangemeldet vor meinem Haus, erzählst irgendwelchen Blödsinn von Fahrten mit dem Tourbus, als sei nichts gewesen, und fragst mich, ob es mir die Sprache verschlagen hat?“

„Ich wollte einfach mal schauen, wie du vorankommst“, antwortete er irritiert.

„Ich habe dir doch schon gesagt, dass das seine Zeit braucht. Was erwartest du? Dass ich dir nach zwei Tagen die Texte für ein ganzes Album liefere?“ Mit einem tiefen Atemzug ging ich an ihm vorbei zur Eingangstür.

„Natürlich nicht“, sagte er. „Ich war nur so aufgeregt, weil wir endlich wieder ein neues Projekt am Start haben. Das ist nun mal eine besondere Zeit. Für uns alle.“

„Aufgeregt. So so.“ Ich steckte den Schlüssel ins Schloss und öffnete die Tür, die er wie selbstverständlich hinter mir durchquerte.

„Und ich wollte dich sehen“, sagte er, als er vor mir stehen blieb und langsam die Hand auf meine Schulter legte. „Ist das so schwer zu verstehen?“

Für einen Moment standen wir schweigend voreinander, zwischen uns nur eine Handbreit Abstand. Ich erwiderte seinen Blick, der mich regelrecht zu röntgen schien. Kein Geräusch war zu hören. Nicht mal ein Atemzug. War das wirklich möglich? Piet und ich, in einem Raum? Nach allem, was war? Und besonders: nach allem, was nicht war?

„Ja, Piet, das ist es tatsächlich. Es ist schwer zu verstehen.“ Unvermittelt löste ich mich von seinem Blick. „Es ist schwer zu verstehen, dass du hier auftauchst, obwohl zu Hause Frau und Kind auf dich warten. Und es ist ebenso schwer zu verstehen, dass du dich auch noch darüber wunderst, dass ich deswegen keine Luftsprünge mache.“

„Sie ist nicht meine Frau, Tina.“

„Macht das einen Unterschied?“

„Abgesehen davon wusste ich nicht, dass es einem Mann untersagt ist, seiner Songtexterin bei der Arbeit an seinem eigenen Album über die Schulter zu schauen, nur weil er zufällig Vater und liiert ist.“

„Du weißt genau, was ich meine.“

Ich wandte mich von ihm ab und verschwand im Wohnzimmer. Unweigerlich kam er mir nach. Mit dem Rücken zu ihm blieb ich schließlich vor dem Fenster stehen.

„Ja, Tina. Ich weiß, was du meinst“, sagte er schließlich. „Aber ich hatte gedacht, dass deine Zusage, am neuen Album mitzuwirken, einiges geändert hätte. Dass die Dinge wieder ein kleines bisschen wären wie ...“

„Wie früher?“ Noch immer stand ich mit dem Rücken zu ihm.

„Ja.“ Seine Stimme wurde leiser. „Ein bisschen vielleicht.“

„Die Dinge können niemals wieder wie früher werden, Piet, und das weißt du.“

„Ich weiß, warum du denkst, dass sie nicht wie früher werden können. Das macht es aber nicht automatisch wahr, Tina.“

„Vielleicht haben wir beide einfach unterschiedliche Definitionen von der Wahrheit.“

Ich hörte ihn seufzen. Das altbekannte Seufzen, das er von sich gab, wann immer er merkte, dass er mit seinen Argumenten auf taube Ohren stieß. Taube Ohren, die nicht selten mir gehörten.

„Warum bist du gekommen, Piet? Warum jetzt?“

„Wir waren Seelenverwandte, hast du das vergessen? Und wir sind es noch immer. Jedes Wort aus deiner Feder war mir immer so vertraut. Jede Zeile, jeder Gedanke. Niemand kennt mich so gut wie du. Und ich kenne niemanden so gut wie dich.“

Seine Worte durchbohrten mich wie Messerstiche. Hatte er denn noch immer nichts begriffen? Oder war es letztendlich sogar meine Schuld, weil ich ihm durch meine Zusage für das Album Hoffnungen gemacht hatte, eine Brücke zur Vergangenheit zu schlagen?

Langsam drehte ich mich zu ihm um. „Was ist mit Jessica?“

„Jessica und der Kleine sind zu Hause.“

„Weiß sie, dass du hier bist?“

Er zögerte, während er für einen Moment meinem Blick auswich.

„Piet!“

„Nein, sie weiß es nicht. Aber nur, weil ich selbst nicht wusste, dass ich kommen würde. Ich hatte heute früh ein Interview, und als ich im Auto saß, da dachte ich ... Es war eine spontane Bauchentscheidung, Tina. Ich wollte dich wirklich nicht damit bedrängen.“

Ich drehte mich erneut zum Fenster um.

„Was auch immer wir füreinander waren“, sagte er, „es hat nichts mit Jessica zu tun. Du und ich, wir sind vom ersten Tag an auf derselben Welle geschwommen. So was geht nicht einfach so vorbei, nur weil ...“

„Nur weil einer von uns beiden eine eigene Familie gründet?“ Mein Tonfall war bissiger, als mir lieb war.

„Es mag dich vielleicht überraschen, aber ja – genau so sehe ich das. Es ändert nichts!“

„Da irrst du dich.“ Ich senkte den Blick, während ich gegen die aufkommenden Tränen ankämpfte. „Es ändert alles!“

*

Mein Haar war durch die Seeluft ungewohnt strohig geworden. Vor dem Schlafzimmerspiegel versuchte ich, es in einen halbwegs akzeptablen Zustand zu bringen, entschied mich jedoch nach mehreren gescheiterten Versuchen, es einfach zu einem Zopf zu binden. Piet sollte schließlich nicht den Eindruck bekommen, dass ich mich für ihn zurechtmachte.

Noch immer beschäftigte mich die Frage, ob er meine Tränen bemerkt hatte. Ich war relativ schnell aus dem Wohnzimmer nach oben verschwunden mit dem Vorwand, mich nach meinem Spaziergang umzuziehen. Von der Treppe aus hatte ich ihm vorgeschlagen, sich in der Zwischenzeit einen Kaffee einzugießen. Eine Viertelstunde war das inzwischen her. Sicher ahnte er, dass ich mich sammeln musste, dass die Gefühle, die sein Auftauchen in mir geweckt hatte, Zeit brauchten, um wieder halbwegs abzuflachen. Trotzdem zog ich es vor, ihm zumindest mit dem Ansatz von Beherrschung zu begegnen.

Während ich missmutig mein Spiegelbild betrachtete, keimte die Wut erneut in mir auf. Was hatte er sich dabei gedacht, einfach hier aufzutauchen und mich derart zu überrumpeln? Wenn er mich so gut kannte, wie er behauptete, musste er doch wissen, was eine Begegnung mit ihm für mich bedeutete.

Andererseits beruhigte es mich, dass es ihm scheinbar doch nicht so klar war. Hatte ich mich vielleicht doch besser unter Kontrolle, als ich annahm?

Unweigerlich kam mir das Wochenende in den Sinn, das Piet und ich vor über anderthalb Jahren zusammen in Dublin verbracht hatten. Üblicherweise gab er Interviews entweder mit den anderen Jungs oder als Kopf der Band hin und wieder auch allein. Anlässlich der eher kurzfristigen Promotiontermine in Großbritannien, die im Rahmen der Veröffentlichung einer englischsprachigen Single organisiert worden waren, hatte er stattdessen vorgeschlagen, dass ich ihn begleite und sogar bei einem der Interviews dabei sei. Im Mittelpunkt stand der Wunsch – so nannte er es zumindest –, der Welt „die Frau hinter den Worten“ vorzustellen.

Nicht nur diese Tatsache war es, die mich beflügelte. Es war die Zeit, in der ich, von mädchenhaften Hoffnungen getragen, auf Wolke Sieben schwebte. Immerhin hatte er damals gerade mit Jessica Schluss gemacht und mir durch recht offensive Andeutungen zu verstehen gegeben, dass er mehr für mich empfand als bloße Freundschaft. Der Gipfel meiner Hoffnungen sollte das Wochenende in Dublin werden. Ich hatte mich regelrecht zügeln müssen, um ihm in meiner Euphorie nicht um den Hals zu fallen.

 

Immer wieder schoben sich Bilder unserer Reise in mein Gedächtnis. Das Hotelzimmer mit dem schmalen Balkon, auf dem wir bis in die Nacht hinein unseren Gedanken nachgehangen hatten. Das Zimmer, das eigentlich seines war und doch innerhalb weniger Stunden zu unserem wurde, während meines bis zu unserer Abreise ungenutzt blieb. Und doch, trotz der körperlichen Nähe, die uns damals verbunden hatte, war es vor allem die seelische Nähe, die uns an jenem Wochenende für immer prägen sollte.

Er hatte recht. Wir waren Seelenverwandte. Aber was war das heute noch wert? Nach allem, was vorgefallen war? Nach Jessicas Zustand, den sie ihm nur wenige Tage nach unserer Rückkehr offenbarte? Nach dem schmerzhaften Gespräch, das er damals mit mir führte? Nach all den Tränen, die mich seine Entscheidung kostete? Er hatte Verantwortung zeigen und zu seinen Fehlern stehen wollen, auch wenn es sicher anmaßend war, eine Schwangerschaft als Fehler zu bezeichnen. Trotzdem konnte ich den Drang nicht unterdrücken, sie als solches zu sehen. Einen Fehler. Zumindest, wenn man in Betracht zog, dass er Jessica nur wenige Tage zuvor verlassen hatte, weil seine Gefühle für mehr als eine kurze Liaison nicht ausreichten. Nicht selten hatte ich sogar der Vermutung nachgegeben, dass er sie meinetwegen verlassen hatte. Warum war es da so falsch anzunehmen, dass seine Gefühle für mich Grund genug gewesen wären, um Jessica beizustehen, ohne zu ihr zurückzukehren? Brachte Verantwortung für ein Kind denn zwangsläufig auch Verantwortung für die Mutter des Kindes mit sich?

Ich unterdrückte die Erinnerungen. Sie schmerzten zu sehr, und umso mehr, wenn er in meiner Nähe war.

Mühsam versuchte ich, das letzte bisschen Stolz in mir abzurufen. Es ging schließlich um weit mehr als nur Gefühle. Er war der Leadsänger einer der bekanntesten Bands Deutschlands. Und ich war das, was man die unsichtbare Kraft im Hintergrund nannte. Zusammen waren wir Teil einer Erfolgsgeschichte, die ihresgleichen suchte. Noch dazu hatte ich der Zusammenarbeit mit der Band den Großteil meiner Karriere zu verdanken. Waren es Tatsachen wie diese nicht wert, die eigenen unprofessionellen Emotionen zu unterdrücken?

„Du schaffst das“, murmelte ich meinem Spiegelbild zu. „Beherrschung ist das Schlüsselwort.“

Und während ich versuchte, mein verzweifeltes Schlüsselwort zu verinnerlichen, verließ ich das Schlafzimmer mit erhobenem Haupt in Richtung Erdgeschoss.

*

Ich will atmen

Ich will schreien

Will mich spüren ohne dich

Lass mich atmen

Lass mich schreien

Auf dem Weg zum neuen Ich“

Die Worte aus seinem Mund zu hören ließ mich für einen Moment vergessen, dass sie von mir stammten. Die Art, wie er sie wiedergab, kam einer Mischung aus Reden und Gesang gleich.

„Gefällt mir“, sagte er. „Gefällt mir wirklich.“ Lächelnd ließ er sich gegen die Lehne des Küchenstuhls sinken, während er den Laptop zur Seite schob. „Du hast wieder mal die richtigen Worte gefunden.“

Ich nickte. Die richtigen Worte. Wenn dies die richtigen waren, was waren dann die falschen?

„Es geht schneller voran, als ich gedacht hätte“, antwortete ich. „Andererseits gönne ich mir zwischendurch auch viele Pausen, daher weiß ich nicht, ob die vier Wochen ausreichen werden. Vielleicht versuche ich auch, den Aufenthalt hier zu verlängern.“

„Oder du schreibst in Hamburg weiter.“

„Ich weiß nicht, ob das so gut wäre. Ich habe den Eindruck, dass mir der Abstand zur Stadt ganz guttut.“

„Vielleicht bist du einfach nur froh, mal wieder in deiner alten Heimat zu sein.“

„Vielleicht.“ Ich nahm einen Schluck von meinem mittlerweile lauwarmen Kaffee.

In Wahrheit war es weit mehr als der Abstand zur Stadt oder die Sehnsucht nach der Heimat. Viel eher war es ein wesentlicher Schritt auf der Suche nach mir selbst. Der Suche nach einer Richtung für mein Leben, während sich meine Vergangenheit und die Ahnung einer Zukunft um einen Platz in der Gegenwart stritten.

Sein Blick führte ins Leere, während er den Mund öffnete und wieder schloss. Ich kannte dieses Verhalten. Es bedeutete, dass er nach Worten suchte, die er nicht zu finden schien.

Dankbar, endlich von der Gefühlsebene weggekommen zu sein, kam ich seinen erneuten Erklärungen zuvor. „Du solltest aufhören, darüber zu reden, Piet. Solange diese Sache immer und immer wieder zur Sprache kommt, werden wir nie die Chance haben, uns auf das Wesentliche zu konzentrieren.“

„Ich habe doch gar nichts gesagt.“

„Aber du wolltest es gerade.“

„Nein, ich ...“ Er hielt kurz inne. „Du hast recht, ich wollte es. Aber nur, weil ich das Gefühl habe, dass noch lange nicht alles gesagt ist.“

Ich stand auf und goss mir Kaffee nach. Mit dem Rücken zur Spüle blieb ich stehen. „Vielleicht machen Worte alles nur noch schlimmer.“

„Wie könnte es schlimmer werden?“ Nun stand auch er auf. „Du behandelst mich wie einen Geschäftspartner und weichst jedem persönlichen Wort aus. Das ist nicht die Tina, die ich kenne. Das ist nicht die Tina, die ich ...“ Er stockte.

„Das ist nicht die Tina, die du – was?“ Meine Augen weiteten sich unweigerlich. Er stand nur einen Atemzug entfernt vor mir.

„Die Tina, die ich brauche. Die Tina, die wir brauchen. Verstehst du nicht, dass wir das Album ohne dich nicht machen können? Du bist ein Teil von uns.“

Das Album. Wieder mal das Album. War das wirklich alles, worauf es ihm ankam?

„Aber ich habe doch längst zugesagt, die Texte zu schreiben. Was willst du denn noch?“

„Ich will das Gefühl haben, dass du da bist. Wirklich da. Dass ich mich dir vollkommen öffnen kann, so wie früher. Nur so können wir auf die Ebene kommen, die du benötigst, um in unserem Sinne zu schreiben.“

„Falls du es noch nicht bemerkt haben solltest, liegen vor dir die Zeilen eures ersten Tracks – und die sind entstanden, ohne dass ich mich auf irgendeiner Ebene befunden habe. Ich habe sie allein geschrieben, Piet. Ohne dich. Und ohne mich zu fragen, ob ich in deinem Sinne handle.“

Meine Gedanken rotierten. Entsprach es denn der Wahrheit, dass ich den Text allein geschrieben hatte? Was war mit der fast gespenstischen Geschwindigkeit, in der sich die Worte zusammengefunden hatten? Was war mit der Verwirrung, die sie in mir ausgelöst hatten, weil sie mir so seltsam fremd erschienen waren?

Piet ließ sich auf den Stuhl fallen. „Ich wünschte, wir könnten wieder Freunde sein.“

„Manchmal bekommt man eben nicht das, was man sich wünscht“, antwortete ich und registrierte im selben Moment die Verbitterung in meiner Stimme.

Eine Verbitterung, die mich vor mir selbst erschrecken ließ. War das wirklich ich? Eine Frau, die selbst nach anderthalb Jahren noch immer nicht vergessen konnte? Eine Frau, die dem Mann, den sie liebte, selbst jetzt noch bei jeder Gelegenheit zeigen musste, wie sehr er sie verletzt hatte? Ganz gleich, ob ich im Recht war oder nicht, die Art, wie ich dieses Recht zu demonstrieren versuchte, schockierte mich in diesem Moment auf heftige Weise.

„Es tut mir leid, Tina. Ich wollte dir nicht wehtun. Das musst du mir glauben.“

Ich setzte mich. Nach wie vor war mir nicht klar, warum er damals der Verantwortung und nicht seinen Gefühlen gefolgt war; trotzdem wusste ich, dass seine Entscheidung unumstößlich war. Eine Tatsache, die nicht zu meinem distanzierten Verhalten passte.

„Ich weiß“, antwortete ich schließlich, nun etwas sanftmütiger. „Ich tue mich einfach nur schwer damit, so zu tun, als wäre nichts geschehen.“

„Das verlangt ja auch niemand. Ich möchte nur, dass du weißt, dass du nach wie vor von unschätzbarem Wert für uns bist.“ Er lächelte. „Für uns, und für mich.“

Ich wollte nicht darüber nachdenken, erst recht nicht danach fragen, wie sich dieser unschätzbare Wert definierte. Piet war hier – und für den Moment war das genug für mich, um dankbar zu sein. Denn so sehr ich mich auch dagegen sträubte, die Tatsache, dass er neben mir saß und die Zeilen las, die ich für ihn geschrieben hatte, beflügelte mich auf eine Weise, die geradezu elektrisierend war. Was auch immer geschehen war, in diesem einen Augenblick besaß ich die Fähigkeit, es zu vergessen und nur ihn zu sehen.