Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 7


Commander Pratts Gesicht sprach Bände, als er sich die Fotos ansah, die Connor von den Toten im Tunnel gemacht hatte.

»Wie viele sind es?«

»Achtundsiebzig«, antwortete Sky.

Thad fluchte. »Seid ihr sicher?«

»Ja. Wir haben sie unabhängig voneinander gezählt, weil es nicht leicht war, alle Körper auseinander zu halten.«

Pratt nickte grimmig. »Das sehe ich.«

Trotz seines Alters von Mitte Fünfzig, Glatze und Rollstuhl wirkte ihr Commander auf Sky oft energiegeladener und tatkräftiger als etliche der deutlich jüngeren Polizisten, die ihm unterstanden. Sie mochte Pratt. Er war zwar streng und verlangte von seinen Leuten viel, aber er war immer fair, erkannte Leistungen an und hatte keinerlei Vorbehalte gegenüber Totenbändigern. Im Gegenteil, er schätzte die Fähigkeiten, die sie mitbrachten, und sah sie als wertvollen Gewinn für sein Revier.

Nach dem Fund des Massengrabs hatten Sky, Connor und Gabriel den Tunnel sowohl unter als auch über Tage abgesichert, eine erste Sichtung des Fundortes vorgenommen und Fotos an Thaddeus geschickt, um zu fragen, wie sie weiter vorgehen sollten. Da die Leichen schon älter waren, hatten keine Geisterschemen mehr an ihnen gehaftet. Damit war ihr Job als Spuks eigentlich erledigt. Um ungeklärte Todesfälle kümmerten sich die Kollegen der Mordkommission. Dementsprechend hatte Thaddeus sie auch angewiesen, den Zugang zum Schacht wieder zu verschließen, zum Revier zurückzukommen und vorerst niemandem von ihrem Fund zu erzählen, bis sie mit dem Commander gesprochen hatten.

»Diese Art der Verletzungen …« Pratt studierte die Fotos weiter mit grimmiger Miene. »Die aufgeschlitzten Körper und eingeschlagenen Schädel – das sieht wie die Tat eines Wiedergängers aus.« Er blickte auf. »Könnte es sein, dass sich da unten in den Tunneln so ein Biest einquartiert hat? Oder gleich mehrere? Rotten diese Bestien sich unter der Stadt womöglich zu einem Rudel zusammen?«

Connor schüttelte den Kopf. »Das glaube ich nicht. Laut der Versuche, die Wissenschaftler mit herangezüchteten Wiedergängern in den Verliesen des Towers durchgeführt haben, sind die Biester Einzelgänger. Treffen sie aufeinander, brechen Revierkämpfe aus. Außerdem soll Futterneid auch ein Riesenthema sein. Dass sich mehrere von ihnen zu einem Rudel zusammenschließen würden, halte ich daher für sehr unwahrscheinlich. Selbst in einem Unheiligen Jahr.«

»Dann hat nur ein Einziger all diese Menschen getötet?«, hakte Pratt nach.

Gabriel schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt glauben wir nicht, dass diese Leichen auf das Konto eines Wiedergängers gehen. Auf den ersten Blick sehen die Verletzungen zwar so aus, aber auf den zweiten passt vieles nicht zusammen.«

Connor beugte sich vor, rief auf dem Bildschirm einige der Fotos auf und vergrößerte Ausschnitte davon. »Die Schädel der Toten wurden zwar zertrümmert, ähnlich wie Wiedergänger es bei ihren Opfern tun, um an die Gehirne heranzukommen. Hier auf den Bildern sieht man jedoch deutlich, dass die Gehirne in den Schädeln noch vorhanden sind. Wir konnten das nicht bei allen Toten überprüfen, sonst hätten wir den Tatort verändert, bevor das Forensikteam Spuren sichern kann. Aber wenn ein Wiedergänger all diese Menschen getötet hätte, hätte er mit Sicherheit alle Gehirne gefressen.«

»Bei den anderen Organen sieht es ganz ähnlich aus.« Sky holte eine neue Auswahl an Bildern auf den Monitor und vergrößerte sie. »Auch hier können wir es ohne Forensiker zwar nicht mit absoluter Sicherheit sagen, doch bei diesen Leichen kann man trotz der Verwesung erkennen, dass die Körper zwar aufgeschlitzt, aber nicht ausgeweidet wurden, wie ein Wiedergänger es tun würde. Hinzu kommt noch, dass die Toten dort schon länger liegen. Sicher ein paar Wochen und es sieht so aus, als wären sie alle zur selben Zeit gestorben. Es gab keine älteren oder frischeren Leichen, wie man es erwarten würde, wenn ein Wiedergänger sich dort unten eingenistet hätte und jede Nacht neues Futter holen würde. Das wäre für einen Wiedergänger ohnehin eher ungewöhnlich. Es kommt zwar vor, dass intelligentere Exemplare sich ein Versteck suchen und ihre Opfer mit dorthin nehmen, aber in der Regel töten sie ihre Opfer einfach, zerren sie in die nächstbeste abseitsgelegene Ecke und fressen sie dort. So wie der Wiedergänger gestern Abend in der Gasse in Islington.«

»Außerdem wurden den Toten die Kehlen durchgeschnitten«, fügte Connor hinzu. »Und das hab ich bei einem Wiedergänger noch nie gesehen. Sie schlitzen ihren Opfern die Körper auf, um die inneren Organe zu fressen. Ihnen vorher die Kehlen durchzuschneiden, damit halten die Biester sich nicht auf.«

Pratt nickte nachdenklich. »Das heißt, ihr denkt, es steckt jemand anderes dahinter.«

Connor warf einen kurzen Blick zu Gabriel und sah dann wieder zu seinem Vorgesetzten. »Wir würden den Wiedergänger jedenfalls ausschließen und die Ermittlungen eher in eine andere Richtung lenken wollen.«

»Es gab im letzten Unheiligen Jahr schon einmal den Fund von Leichen mit durchgeschnittenen Kehlen«, übernahm Gabriel. »Der Täter wurde nie gefunden. Vielleicht ist er in diesem Unheiligen Jahr zurückgekehrt.«

Pratt runzelte die Stirn. »Es gab schon einmal einen solchen Leichenfund? Hier in Camden? Warum weiß ich davon nichts?«

»Es war nicht in Camden«, schaltete sich Thaddeus ins Gespräch ein. »Es war drüben in Wimbledon und die Sache wurde damals unter Verschluss gehalten. Zum einen, um die Bevölkerung in einem Unheiligen Jahr nicht noch nervöser zu machen als viele Mitbürger es ohnehin schon waren, zum anderen, weil es einen Zeugen gab, der beschützt werden sollte.«

Pratt lehnte sich in seinem Rollstuhl zurück. »Okay, was genau ist damals passiert? Und welche Parallelen gibt es zu dem Fund von heute?« Er nahm Thaddeus ins Visier. »Ich schätze, Sie waren damals einer der Ermittler?«

Thad nickte. »Ich habe die Leichen gefunden.«

»Erzählen Sie.«

»In der Nacht des Frühlingsäquinoktiums vor dreizehn Jahren ging um kurz nach Mitternacht der Notruf eines Jugendlichen in der Zentrale ein. Er flüsterte nur und war kaum zu verstehen. Keuchte, dass alles voller Toter wäre. Dass seine Freunde auch tot wären. Das pure Böse hätte sie umgebracht und jetzt wäre es hinter ihm her. Er klang völlig neben sich und reagierte auf keine Frage der Notrufleitstelle. Im Hintergrund war ein Lachen zu hören, dann brach der Anruf abrupt ab, ohne dass die Leitstelle eine Adresse oder andere hilfreiche Informationen erhalten hatte. Im Gegenteil. Es klang eher wie einer der typischen Scherzanrufe von zugedröhnten Teenagern, die in Unheiligen Nächten Partys veranstalten und dann nichts Besseres zu tun haben, als gefakte Notrufe abzusetzen. Die Leitstelle konnte aber das Handy orten. Die Adresse war ein abgelegenes, leer stehendes Haus am Wimbledon Park. Und auch wenn wir in der Nacht eigentlich mehr als genug zu tun hatten, war ich in der Nähe auf Wachdienst und bin vorbeigefahren. Wenn Jugendliche als ultimativen Adrenalinkick in einem ungeschützten Haus besoffen und bekifft eine Geisterparty feierten, war das lebensgefährlich.«

»Aber es gab keine Geisterparty«, schloss Pratt.

Thaddeus schüttelte den Kopf. »Als ich dort ankam, war das Haus dunkel und verlassen. Der Junge, der den Notruf gewählt hatte, lag mit aufgeschlitzter Kehle im Vorgarten. Sein Handy lag neben ihm. Seine beiden Freunde fand ich im Erdgeschoss. Ebenfalls mit durchgeschnittenen Kehlen. Der wahre Horror wartete aber im Keller. Dort stapelten sich die Leichen.«

Er deutete mit einem Kopfnicken zu den Fotos, die Connor gemacht hatte. »Ganz ähnlich wie im Tunnel. Auch ihnen hatte man die Kehlen durchgeschnitten und sie wirkten wie achtlos weggeworfen. In der Mitte des Raums standen sechs Holzkisten in einem Kreis und jede war umgeben mit einem Ring aus einer dicken Eisenkette. In diesen Ringen war jede Menge Blut und in den Kisten lagen Kinder.«

Bei der Erinnerung daran, presste Thad kurz die Kiefer aufeinander, bevor er weitersprach. »Es waren drei Mädchen und drei Jungen. Alles Totenbändiger und keins der Kinder war älter als fünf Jahre. Alle hatten Nasenbluten, schienen außer Kratzern und blauen Flecken sonst aber unverletzt. Doch sie waren alle tot.«

Thaddeus schwieg und kämpfte offenbar mit Erinnerungen, die kein Mensch haben sollte.

Auch Pratt schwieg einen Moment, um das Gehörte sacken zu lassen. Dann blickte er zu Gabriel und Sky. »Das klingt so, als hätte dort jemand mit Totenbändigerkindern experimentiert.«

Gabriel nickte finster. »Wir denken, dass sich jemand einen kranken Spaß daraus gemacht hat, zu testen, wie viele Geister die Kinder bändigen können, bevor sie sterben.«

Pratts Miene verriet deutlich, was er davon hielt. »Es tut mir sehr leid, was einige unserer Mitmenschen euch Totenbändigern immer wieder antun.«

»Danke, Sir«, antwortete Sky.

»Habt ihr eine Vermutung, was der Täter mit den Kindern und den Toten gemacht hat?«

»So wie Thad den Tatort beschrieben hat, scheint der Täter die Kleinen in die Kisten gesperrt zu haben, damit sie den Geistern nicht entkommen können«, sagte Sky. »Und er hat Eisenketten um die Kisten gelegt, um selbst vor den Geistern sicher zu sein. Dann hat er vermutlich eins der Opfer in den Kreis gebracht und ihm die Kehle durchgeschnitten. Das erklärt das ganze Blut innerhalb der Ketten.«

»Sobald ein Opfer verblutete war, entstand ein Geist«, übernahm Gabriel. »Normalerweise würde der bei dem Opfer bleiben, um seine Energie aufzunehmen, bis die Leiche kalt ist …«

 

Die Lippen, des Commanders wurden zu einem dünnen Strich, als er sie voller Abscheu zusammenpresste und kurz die Augen schloss. »Aber nicht, wenn ein Kind in der Nähe ist«, beendete er den Satz und schüttelte angewidert den Kopf.

Gabriel nickte knapp. »Kein Geist kann einem Kind widerstehen.«

Pratt blickte von ihm zu Sky. »Ich weiß, das ist jetzt eine indiskrete Frage und ihr müsst nicht antworten, wenn ihr das nicht wollt.«

Sky seufzte innerlich, weil sie sich denken konnte, was jetzt kam. Sie war nicht besonders glücklich darüber, sich und ihre Kräfte immer wieder erklären zu müssen, und die Art, wie sie antwortete oder ob überhaupt, hing sehr stark davon ab, wie man sie fragte. Generell fand sie ehrliches Interesse und offenes Nachfragen aber besser als Spekulationen, Hörensagen oder falsche Unterstellungen. Und Pratt war ihr Boss. Er hatte immer mal wieder Fragen zu ihren Kräften. Oder zu denen von Geistern und Wiedergängern. Meistens standen sie in direktem Zusammenhang mit Fällen, an denen sie arbeiteten. Hatten seine Fragen nur indirekten Bezug dazu, stellte er ihr und Gabriel jedes Mal frei, zu antworten, doch bisher waren seine Fragen für Sky immer in Ordnung gewesen.

»Was wollen Sie wissen?«

»Wie ist das für euch Totenbändiger? Könnt ihr nachvollziehen, dass Geister sich so gerne auf Kinder stürzen? Gibt es Unterschiede zwischen der Lebensenergie eines Erwachsenen und der eines Kindes?«

Sie nickte. »Die Lebensenergie von Kindern ist reiner und unschuldiger, wilder und ungestümer als die von Erwachsenen. Wahrscheinlich, weil ihre Lebensfreude noch nicht getrübt ist. Kinder sind das pure Leben, vor allem, wenn sie noch sehr jung sind. Das macht sie für Geister so anziehend. Diese unbändige Energie verleiht ihnen besonders schnell besonders viel Stärke.«

Pratt betrachtete sie nachdenklich. »Und ihr könnt diese Energien auch so differenziert wahrnehmen? Bei allen euren Mitmenschen?«

»Nur bei Kontakt. Direkter Hautkontakt funktioniert am besten.« Auch wenn Gabriel den meisten Menschen liebend gern an den Kopf geworfen hätte, dass es sie nichts anging, wie seine Kräfte funktionierten – immerhin fragte er sie ja auch nicht, wie zur Hölle sie in ihrem Leben ohne klarkamen – gab er ähnlich wie Sky meistens trotzdem Auskunft. Oft ließen sich Angst und Vorurteile mit Offenheit, Nachsicht und Geduld aus der Welt schaffen. Das hatten seine Eltern ihm beigebracht. Allerdings gelang es ihm nicht immer, Verständnis oder Geduld aufzubringen. Bei manchen Mitmenschen versagte einfach beides. Sein Commander hatte sich jedoch schon mehr als einmal seinen Respekt verdient, deshalb beantwortete Gabriel ihm in der Regel seine Fragen.

»Aber selbst bei Hautkontakt müssen wir die Verbindung zur Lebensenergie des anderen erst suchen«, ergänzte Sky. »Das passiert nicht einfach so. Beim normalen Händeschütteln zum Beispiel oder bei einem zufälligen Anrempeln in einer Menschenmenge spüren wir nicht mehr als andere Menschen. Zum Glück. Sonst wäre der Alltag ziemlich anstrengend.«

»Aber sobald ihr diese Verbindung zur Lebensenergie eines anderen hergestellt habt, könnt ihr ihm seine Energie nehmen, richtig?«, hakte Pratt nach.

Wieder nickte Sky. »Ja. Wenn wir ihm die Energie langsam nehmen, wird der Mensch schwächer, kann sich aber noch dagegen wehren und den Kontakt unterbrechen. Dann regeneriert seine Energie sich und er erholt sich wieder. Reißen wir die Energie aber schnell und komplett aus ihm heraus, stirbt er. Meistens sieht es dann wie ein Herzinfarkt oder Schlaganfall aus.«

»Aber das passiert nicht einfach so«, stellte Gabriel sicherheitshalber klar. »Wenn ein Totenbändiger jemanden töten will, muss er sich dazu genauso entscheiden wie jeder andere Mensch. Der einzige Unterschied ist, dass wir keine Waffen brauchen, um jemanden umzubringen.«

Abwinkend wischte Pratt seinen Einwurf beiseite. »Ich weiß, dass ihr nicht unberechenbar seid. Jedenfalls nicht mehr als andere Menschen. Wenn jemand aus Wut die Kontrolle verliert und einen anderen erwürgt oder vor einen Bus stößt, braucht er dazu auch nicht mehr als seine Hände.«

»Exakt.« Ein Grund, warum Gabriel seinen Boss mochte, war dessen pragmatische Sicht auf die Welt.

»Was mich viel mehr interessiert ist, was passiert mit der Lebensenergie, die ihr nehmt?«

»Sie macht uns stärker. Schneller. Wacher und aufmerksamer. Es ist wie ein ungeheurer Adrenalinschub, dessen Dauer und Stärke davon abhängt, wie viel Energie des anderen wir in uns aufgenommen haben.«

Pratt musterte ihn scharfsinnig. »So wie du das beschreibst, hast du das also schon mal gemacht.«

»Natürlich. Unsere Mutter hat uns beigebracht, wie unsere Kräfte funktionieren. Sie hat uns fühlen lassen, wie es ist, Energie in uns aufzunehmen. Und genauso, wie es ist, unserer Energie beraubt zu werden.«

Pratt sah zwischen ihm und Sky hin und her. »Das heißt, ihr habt euch gegenseitig eure Lebensenergie genommen?«

»Auch.« Gabriel hob die Schultern. »Aber im Prinzip war jeder in unserer Familie mal Versuchskaninchen. Auch unser Vater und unsere Großmutter. Die sind beide keine Totenbändiger, deshalb fühlt es sich bei ihnen anders an. Auch den Unterschied mussten wir lernen.«

»Und wir können ja nicht nur Energie nehmen«, sagte Sky. »Wir können sie auch geben. Das übersehen die meisten Leute nur gerne, weil sie zu viel Angst vor uns haben. Unsere Mutter hat bei ihrem Job im Krankenhaus schon zig Leuten das Leben gerettet. Eigentlich müsste sie als Wächterin dort nur die Geister der Verstorbenen bändigen, um Patienten, Klinikpersonal und Besucher vor Übergriffen zu schützen. Aber wenn Menschen nach Operationen zu schwach sind oder Babys zu früh geboren werden und die Gefahr besteht, dass sie sterben könnten, hilft sie immer und schenkt ihnen Energie, damit sie es schaffen.«

»Und auf ein Danke wartet sie meist vergebens«, schob Gabriel grollend hinterher. »Nicht, dass sie eins erwarten würde. Mum erwartet keine Gegenleistung. Sie rettet Leben, weil sie nicht anders kann. In ihren Augen wäre es verwerflich, ihre Kräfte nicht einzusetzen, wenn sie damit helfen kann. Doch statt das wertzuschätzen und ihr auf Knien dafür zu danken, wird sie von Angehörigen oft beschimpft, bedroht und aus dem Zimmer geworfen. Und sie kann froh sein, wenn man sie dann nicht auch noch beschuldigt, wenn der Patient es doch nicht schafft und stirbt.«

Pratt seufzte vernehmlich. »Das tut mir sehr leid. Eure Mutter scheint eine sehr starke Frau zu sein.«

»Ja, das ist sie. Und zum Glück steht die Leitung ihrer Klinik uneingeschränkt hinter ihr.«

Pratt nickte zufrieden. »Das ist gut.« Er bedachte seine beiden Totenbändiger mit einem vielsagenden Blick. »Und ich hoffe, ihr zwei wisst, dass für mich in eurem Fall das Gleiche gilt.«

Sky lächelte. »Ja, das wissen wir. Danke, Sir.«

Pratt schüttelte den Kopf. »Dafür müsst ihr euch nicht bedanken. Das sollte eigentlich eine Selbstverständlichkeit sein. Aber daran müssen wir in dieser Stadt wohl leider noch arbeiten.«

Er verzog kurz das Gesicht, wandte sich dann aber wieder den Fotos vom Massengrab unter Golders Hill zu und kehrte zu ihrem Fall zurück.

»Sie haben gesagt, dass es damals ein Opfer gab, das dieses Massaker überlebt hat«, sagte er an Thaddeus gewandt. »Konnte es keine Aussage dazu machen, von wem er in diesen Keller verschleppt worden war und wer versucht hat, seine Kehle durchzuschneiden? Oder war es eine sie, die überlebt hat?«

Thad schüttelte den Kopf. »Nein. Es war ein er. Aber es war keines dieser Opfer, das überlebt hat. Es war eins der Kinder.«

Er erzählte seinem Vorgesetzten, wie er den kleinen Jungen in der Holzkiste zunächst für tot gehalten, dann aber gemerkt hatte, dass er nur bewusstlos war.

»Nach Absprache mit meinem damaligen Boss, Commander Hugo Oswald, hielten wir das Überleben des Jungen geheim. Er bekam eine neue Identität und wuchs bei Freunden von mir auf, die bereits zwei andere Totenbändigerkinder bei sich aufgenommen hatten.«

Pratt blickte zu Gabriel und Sky, als ihn bei Thads Worten die Erkenntnis traf. »Der Junge lebt in eurer Familie.«

Die beiden nickten.

»Er ist unser Bruder«, bestätigte Gabriel. »Unsere Eltern haben ihn als Pflegekind aufgenommen.«

»Und er konnte sich damals an nichts aus der Nacht erinnern?«

Sky schüttelte den Kopf. »Er war erst drei oder vier Jahre alt, als Thad ihn zu uns gebracht hat. Und er war völlig verängstigt und traumatisiert. Er konnte uns nicht mal sagen, wie er heißt. Er hat ohnehin kaum gesprochen und es hat ewig gedauert, bis er angefangen hat, uns zu vertrauen. Als er endlich mit uns gesprochen hat, schien es so, als hätte er alle Erinnerungen an die Nacht des Massakers und auch an alles, was davor mit ihm passiert war, aus seinem Gedächtnis gelöscht.«

Pratt schwieg einen Moment. »Bei allem, was er vermutlich durchmachen musste, ist das für ihn sicher auch ein Segen«, meinte er dann mit einem tiefen Seufzen und fügte Richtung Sky und Gabriel hinzu: »Ich kann verstehen, warum der Leichenfund unter Golders Hill deshalb für euch von besonderem Interesse ist. Aber können die Fälle wirklich zusammenhängen? Außer den durchgeschnittenen Kehlen sehe ich im Moment noch keine Parallelen. Oder gab es im Tunnel auch Kisten mit toten Kindern? Oder Kinderleichen zwischen den Toten?«

»Nein«, gab Gabriel zu. »Zum Glück nicht.«

»Aber die Anzahl der Toten ist auffällig«, schaltete Connor sich wieder ins Gespräch ein. »Es sind in beiden Fällen achtundsiebzig – wenn man in dem Fall vor dreizehn Jahren die Totenbändigerkinder sowie die drei Jugendlichen außen vor lässt, die außerhalb des Kellers gefunden wurden. Die drei wurden vermutlich nur getötet, weil sie den Täter bei seinem Massaker im Keller überrascht haben. Laut ihren Eltern waren sie ständig auf der Suche nach Abenteuern und neuen Kicks. Wahrscheinlich wollten sie die Unheilige Nacht in einem gruseligen Haus verbringen und haben sich dafür einfach das falsche ausgesucht.«

Pratt nickte zustimmend. »Ich werde mir den Bericht dazu nachher noch genauer ansehen, aber das klingt schlüssig. Die Kids waren zur falschen Zeit am falschen Ort.«

»Genau. Und der Täter hat sie getötet, um sie als Zeugen zu beseitigen.«

»Gut. Dann haben wir also damals wie heute achtundsiebzig Hauptopfer mit durchgeschnittenen Kehlen. Hatte man den Opfern damals auch die Schädel eingeschlagen und die Körper aufgeschlitzt?«

Thaddeus verneinte.

Pratt runzelte die Stirn. »Welche Gemeinsamkeiten gibt es dann sonst noch?«

Gabriel sah zu Thad. »Die Opfer damals waren Obdachlose und Kleinkriminelle aus den Problemvierteln, oder?«

Thaddeus nickte. »Das hatte die Überprüfung der Fingerabdrücke ergeben. Viele waren zwar nicht im System, aber auf die Opfer, die wir identifizieren konnten, traf das zu. Die meisten kamen aus dem East End.«

»Der Kleidung der Opfer nach zu urteilen, die unter dem Golders Hill liegen, lebten sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch auf der Straße«, sagte Connor.

Pratts Stirnrunzeln wurde noch ein bisschen tiefer. »Okay, aber das ist dann bisher nur eine vermutete Parallele.«

»Die wir aber leicht überprüfen können«, warf Gabriel schnell ein. »Außerdem – sollte diese wahnsinnige Anzahl an Toten nicht schon ausreichen? Achtundsiebzig. In beiden Fällen. Und dann auch noch dieselbe Todesart. Das ist doch total verdächtig. Und wenn wir die Akte von damals anfordern, finden wir vielleicht noch mehr.«

Der Commander wiegte seinen Kopf hin und her. »Wie gesagt, ich verstehe euer Interesse an diesem Fall, aber jemandem die Kehle durchzuschneiden, ist keine so ungewöhnliche Mordmethode. Besonders im East End. Mit einer durchgeschnittenen Kehle ist das Opfer wehrlos, aber noch nicht sofort tot. Der Täter kann es gefahrlos ausrauben, weil der Geist erst entsteht, wenn das Opfer ausgeblutet ist.«

»Aber dann lassen die Täter die Opfer doch einfach an Ort und Stelle liegen«, gab Connor zu bedenken. »Besonders im East End ist genau das ja eins der Hauptprobleme. Die Verbrecher dort kümmert es nicht, dass sie mit ihren Taten die eigene Nachbarschaft mit Geistern verseuchen.«

»Außerdem ist der Verwesungsgrad der Leichen im Tunnel bei allen ähnlich«, warf Sky zusätzlich ein. »Falls es also so was wie Raubmordtaten waren, hätten sie alle innerhalb einer sehr kurzen Zeit stattfinden müssen, und hätten dann wieder aufgehört. Das ist eher unwahrscheinlich, oder? Und warum sollte jemand überhaupt Obdachlose überfallen? Bei denen ist doch nichts zu holen. Einwohner in Nobelvierteln wären viel lohnender für Raubmorde.«

 

»Aber ihr Verschwinden würde sehr schnell Aufmerksamkeit erregen.« Thaddeus leerte seinen Kaffee.

»Was glaubst du denn, was passiert ist?«, fragte Gabriel. »Denkst du nicht, dass es einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen gibt?«

Thad hob die Schultern und atmete tief durch. »Ich denke, es ist in beiden Fällen irgendein Irrer. Ob es derselbe ist – keine Ahnung. Aber der Commander hat recht damit, dass eine durchgeschnittene Kehle keine besonders ungewöhnliche Mordmethode ist. Sieht man mal von der neuen Waffengesetzgebung bezüglich Geistern und Wiedergängern ab, ist es Zivilisten in diesem Land verboten, Schusswaffen zu tragen. Wenn man jemanden umbringen will, sind Messer deshalb die naheliegenden Alternativen. Und jemanden zu erstechen oder ihm die Kehle aufzuschlitzen, ist eine relativ sichere Mordmethode, weil man sich Zeit verschaffen kann, bevor ein Geist entsteht. Falls der Täter von heute also einfach Spaß am Quälen und Töten hat, bringt er sich auf diese Weise nicht selbst in Gefahr. Er kann sich ein Opfer suchen, seinen kranken Spaß mit ihm haben, dann schleppt er es in den Park, schneidet ihm die Kehle durch, verstümmelt den Körper während er ausblutet und lässt die Leiche im Tunnel verschwinden.«

»Alle innerhalb von wenigen Tagen?« Zweifelnd schüttelte Gabriel den Kopf. »Und dann hört er einfach wieder auf? Als es zufällig achtundsiebzig Opfer sind so wie damals?«

Thaddeus seufzte vernehmlich und legte seine Hand auf Gabriels Schulter. »Hört zu. Ich kann verstehen, dass euch dieser Leichenfund wegen Cam anstachelt. Ihr hofft, dass es derselbe Täter ist, weil wir dann die Chance hätten, ihn zu fassen und dafür büßen zu lassen, was er Cam und den anderen Kindern angetan hat. Glaubt mir, das würde ich mir auch wünschen. Aber ich denke nicht, dass es derselbe Täter ist. Der Dreckskerl damals wollte Totenbändigerkinder quälen und die Obdachlosen waren dafür nur Mittel zum Zweck, um Geister zu erzeugen, die die Kleinen schlucken sollten.« Er nickte zu den Fotos auf Pratts Monitor. »Die Leichen von heute sehen dagegen so aus, als hätte da jemand Spaß am Töten und Verstümmeln. Und dass es dieselbe Anzahl an Toten gibt, ist womöglich nur ein dummer Zufall.«

Gabriel schwieg, genauso Sky und Connor.

»Hat die Zahl achtundsiebzig irgendeine besondere Bedeutung?«, fragte Pratt in die Stille. »Weiß das jemand?«

Alle hoben die Schultern oder schüttelten die Köpfe.

Connor zog sein Smartphone hervor und fragte Google, doch auf den ersten Blick gab es keine Treffer, die einen solchen Schluss nahelegten.

»Aber auch wenn die Fälle nicht zusammenhängen, muss der Täter von heute geschnappt werden.« Gabriel blickte zu seinem Commander. »Wenn Thad recht hat, dann läuft da draußen ein Massenmörder herum, der Spaß am Töten hat. Den müssen wir fassen.«

»Das wäre dann aber ein Fall für die Mordkommission, nicht für euch«, erwiderte Pratt. »Euch brauche ich hier als Spuks. Es ist nicht mehr lange hin bis zum Herbstäquinoktium und durch die verdammte Geistermigration aus Westminster sind hier bei uns jetzt viel zu viele. Ich brauche euch da draußen, um Geister zu eliminieren, damit unser Viertel für die dunkle Jahreszeit so sicher wie möglich wird.«

»Ja, klar«, gab Gabriel mit nicht zu überhörendem Zynismus in der Stimme zurück. »Wäre dann aber doch super, wenn hier bei uns kein Irrer herumläuft, der massenhaft Leute abschlachtet und damit schneller Geister produziert, als wir sie auslöschen können, oder?«

Pratt bedachte ihn mit einem vielsagenden Blick. »Natürlich. Und glaub mir, ich bin auf deiner Seite. Aber wir müssen Prioritäten setzen.«

»Ernsthaft?« Ungläubig lachte Gabriel auf. »Was könnte denn bitte wichtiger sein, als die Bevölkerung vor einem Massenmörder zu schützen?«

»Der Schutz der Bevölkerung vor sich selbst«, antwortete Connor und verzog das Gesicht.

»Exakt«, nickte sein Commander. »Wir dürfen die Menschen nicht in Angst und Schrecken versetzen. Nicht vor der dunklen Jahreszeit. Und ganz besonders nicht in einem Unheiligen Jahr. Wenn die Presse von den Toten unter Golders Hill Wind bekommt, werden wir uns vor reißerischer Panikmache nicht retten können und dann haben wir hier ganz schnell viel zu viele besorgte Bürger, die sich dank neuem Waffengesetz mit Schusswaffen ausrüsten. Die benutzen sie dann allerdings mit Sicherheit nicht mehr nur gegen Geister, sondern auch, um sich vor einem irren Massenmörder zu schützen. Das heißt, hier schießt womöglich jeder auf jeden, sobald sich jemand bedroht fühlt. Ich glaube, so ein Szenario wünscht sich keiner von uns.«

Gabriel schnaubte bloß.

»Das heißt, Sie wollen wirklich nichts unternehmen, um den Täter zu finden?«, hakte Sky nach.

Pratt seufzte. »Ich bin auch nicht glücklich darüber, aber für die Einwohner von Camden ist es besser, wenn wir die Sache unter Verschluss halten. Wegen Westminster ist die Stimmung hier ohnehin schon aufgeheizt genug. Wenn wir dann jetzt noch ein Forensikteam in den Tunnel schicken und achtundsiebzig Leichensäcke aus Golders Hill abtransportieren lassen, herrschen hier ganz schnell Chaos und Anarchie. Und die wären gefährlicher als der Irre, der für die Toten im Park verantwortlich ist.«

Sky schloss kurz die Augen. Auch wenn es ihr nicht passte, musste sie sich eingestehen, dass Pratt recht hatte.

Was nicht unbedingt für den Zustand der Londoner Gesellschaft sprach, aber an dem zweifelte sie ohnehin immer wieder.

»Das heißt allerdings nicht, dass ich die Sache völlig auf sich beruhen lassen will.«

Bei den Worten ihres Commanders sah Sky wieder zu ihm auf.

»Ich rufe eine alte Freundin an.« Pratt blickte von ihr zu Gabriel und Connor. »Sie ist pensionierte Gerichtsmedizinerin und wird sich die Toten im Tunnel mit Sicherheit ansehen, wenn ich sie darum bitte. Ihr drei müsst sie allerdings begleiten, denn sie ist keine Totenbändigerin und selbst mit Magnesiumlaternen lasse ich sie nicht alleine in den Untergrund steigen. Ihr geht mit ihr und während sie sich die Toten ansieht und guckt, was sie vor Ort herausfinden kann, beschützt ihr sie und nehmt Fingerabdrücke von den Leichen. Vielleicht finden wir so Hinweise, die uns auf die Spur des Täters führen. Sollte das der Fall sein, ermitteln wir unauffällig weiter. Einverstanden?«

Die drei nickten sofort.

»Gut. Dann gönnt euch jetzt eine Mittagspause. Ich bitte Gladis, euch um zwei beim Wartungsschacht im Park zu treffen. Dann könnte ihr gemeinsam sehen, was ihr heute Nachmittag herausfindet. Aber ihr sorgt dafür, dass Gladis vor der Dämmerung aus dem Park raus ist, verstanden? Begleitet sie nach Hause und macht dann Feierabend. Dienstwagen und Equipment könnt ihr bei euch behalten. Das meiste davon benutzt ohnehin nur ihr Spuks.«

»Das klingt gut«, sagte Gabriel. »Wie geht es dann weiter?«

»Ich erwarte euch morgen früh zur Dämmerzeit wieder im Einsatz. Eliminiert so viele Geister wie möglich, bevor sie sich vor dem Tageslicht verstecken können. Euer Einsatzgebiet ist wieder der Golders Hill Park. Da die Anwohner uns um Hilfe gebeten haben, wird niemand Verdacht schöpfen, dass etwas passiert sein könnte, wenn ihr euch dort heute die Tunnel anseht und in den nächsten zwei drei Tagen zur Dämmerzeit Geister eliminiert.«

»Okay, kein Problem«, versicherte Sky. »Was machen wir nach Tagesanbruch?«

»Ihr kommt wieder hierher. Bis dahin wird Gladis mir ihren Bericht vorgelegt haben und wir können überlegen, wie wir wegen der Toten weiter vorgehen.«