Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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»Das – also …«

»Yep.« Gabriel steckte seine Waffen zurück in seinen Gürtel. »Wir haben Ihnen gerade den Arsch gerettet. Gern geschehen.«

Doch der Alte schüttelte bloß wütend den Kopf. »Ich wäre mit dem Biest auch alleine fertiggeworden! Und seht, was ihr angerichtet habt! Der ganze Rasen ist ruiniert!«

In der Tat stiegen kleine Rauchfäden aus dem Gras auf, wo Tropfen des ätzenden Auraglues den Geist verfehlt hatten und zu Boden gefallen waren.

»Ernsthaft?«, knurrte Gabriel. »Sie könnten jetzt tot sein und regen sich darüber auf, dass eine Ecke Ihres Rasens ein bisschen qualmt?!«

»Ich hätte ihn selbst erledigen können! Stattdessen habe ich jetzt euren miesen Totenbändiger-Hokuspokus auf meinem Grundstück! Wer weiß, was davon alles angelockt wird!«

»Sir, wir haben keine Totenbändigerkräfte angewandt.« Sky bemühte sich um die Geduld, die sie bei Connor so oft bewunderte. »Die Tropfen sind vom Auraglue und das ist ein offiziell genehmigtes Polizeimittel zum Einfangen von Geistern.«

»Natürlich!«, höhnte der Alte. »Ihr könnt mir viel erzählen! Ich werde eine Beschwerde einreichen. Wegen widerrechtlichen Betretens meines Grundstücks! Und wegen Sachbeschädigung!«

Gabriels Fäuste ballten sich, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Er machte einen Schritt auf den Alten zu, doch sofort trat Connor ihm in den Weg und hielt ihn zurück.

»Nicht«, warnte er leise und bohrte seinen Blick in Gabriels. »Er ist es nicht wert, dass du deinen Job riskierst. Oder dein Leben, wenn der Alte sich von dir bedroht fühlt und auf dich feuert. Ruf Thad an und sag ihm, dass der Wiedergänger erledigt ist. Um den Widerling kümmere ich mich.«

Connor merkte, wie sehr Gabriel weiter mit sich rang, um nicht die Beherrschung zu verlieren. Muskeln zuckten in seinem Gesicht, als er die Kiefer fest aufeinanderpresste. Doch dann atmete er tief durch, riss seinen Arm aus Connors Griff und fischte sein Handy aus seiner Hosentasche.

Auch Connor atmete durch und wandte sich wieder seinem überaus reizenden Mitbürger zu.

»Sir, wir entschuldigen uns für alle Unannehmlichkeiten, die Ihnen der Polizeieinsatz auf Ihrem Grundstück bereitet hat. Es war nur zu Ihrem Besten. Schäden, die durch polizeiliche Mittel während unseres Einsatzes entstanden sind, werden Ihnen selbstverständlich von städtischer Seite ersetzt.« Er reichte dem Alten eine Visitenkarte. »Melden Sie sich morgen bei dieser Nummer, dann kommt ein Gutachter und bewertet den Schaden.«

»Na, wenigstens etwas!« Der Unsympath schnappte sich die Karte, wandte sich um und stampfte zurück ins Haus. »Und jetzt raus aus meinem Garten!«

Er knallte die Tür hinter sich zu und machte so unmissverständlich klar, dass er die drei nicht durch seine Wohnung zur Straße laufen lassen würde, sondern sie wieder über die Dächer klettern mussten.

»Hey Thad«, sagte Gabriel in betont heiterem Plauderton in sein Smartphone. »Der Einsatz ist beendet. Wir haben den Wiedergänger erledigt. Trotz Einmischung eines übereifrigen Anwohners, der uns alle verklagen will, weil er das Biest nicht selbst erledigen durfte. … Ja, natürlich will er auch Schadenersatz. Ein paar Spritzer Auraglue haben ein Fleckchen seines heiligen Rasens versengt. Davon sieht man morgen zwar vermutlich nichts mehr, aber hey, hier waren schließlich böse Totenbändiger am Werk. Vermutlich wächst da jetzt bis zum Sankt Nimmerleinstag nichts mehr.«

Zynismus triefte aus seiner Stimme. Einen Moment lang hörte er zu, dann verzog sich sein Gesicht zu einem ironischen Lächeln. »Ja, so was in die Richtung hätte ich gerade auch am liebsten mit ihm gemacht, aber du kennst doch Connor. Er ist unser Heiliger und fand den Einsatz von Gewalt gegen diesen Vollidioten leider ein No-Go.«

Er grinste unverschämt zu Connor hinüber, der jedoch bloß mit den Augen rollte und die Silberbox mit dem gefangenen Geist einsammelte.

»Yep. … Okay. … Kannst du für uns klären, ob der Geist ins Verließ geht oder eingeschmolzen werden soll? Ich hab keine Lust auf ewige Bürokratie, wenn wir mit dem Biest am Tower ankommen. … Danke. … Sollen wir vorher noch zur Finsbury Park Station? Können die Spuks dort noch Unterstützung gebrauchen?«

»Und da sagt er, ich bin hier der Heilige«, murmelte Connor und schlang sich den Rucksack über die Schulter.

Sky grinste und gab ihm einen Kuss. »Sagen wir mal so: Ich weiß, warum ich euch beide so unglaublich liebe. Jeden auf seine ganz eigene Art.«

Kapitel 5


Die Ravencourt Comprehensive School war ein typischer Schulkomplex aus mehreren Gebäuden, Schulhof, Parkplatz und angrenzendem Sportplatz. Irgendwann vor nicht allzu langer Zeit waren die Gebäude saniert worden und wirkten mit ihrem frischen Anstrich und den großen Fenstern hell und einladend. Auf dem Schulhof fanden sich die typischen Bänke und Picknicktische, ein paar Tischtennisplatten sowie ein Basketballfeld. Entlang des Eisenzauns, der das komplette Schulgelände schützte, standen alte Ahornbäume und Magnesiumlaternen. Unterricht fand zwar nur bei Tageslicht statt, doch man musste Gebäude wie Schulen und Kindergärten besonders absichern, damit sich nachts keine Seelenlosen einschlichen, die dann bei Tag in dunklen Ecken auf Schüler oder Lehrer lauern konnten.

Es war noch eine gute halbe Stunde bis zum Unterrichtsbeginn, als Cam mit Ella und Jules durch das Tor trat, trotzdem waren schon etliche ihrer Mitschüler auf dem Hof – und sie nahmen die Neuen gleich ins Visier.

Neugierig. Abschätzend. Misstrauisch.

Und mit jeder Menge Getuschel.

Cam spürte ihre Blicke wie Nadelstiche und widerstand nur mühsam dem Drang, an seiner Krawatte zu zerren, weil das blöde Ding ihm mehr und mehr die Luft abzuschnüren schien.

Bescheuerte Schuluniform.

Er verstand zwar deren Sinn – niemand sollte sich durch seine Kleidung hervortun und andere niedermachen können, die sich keine teuren Marken leisten konnten. Außerdem sollte einheitliche Kleidung das Gemeinschaftsgefühl und die Identifikation mit der Schule und den Mitschülern bestärken. Doch nicht jeder Mensch war ein Rudeltier und Cam war sich sicher, dass ihm dieser verfluchte erste Schultag deutlich leichter gefallen wäre, wenn er Klamotten hätte tragen dürfen, in denen er sich wohlfühlte und die ihm vertraut waren.

Er sah zu Ella, die neben ihm lief.

Normalerweise trug sie Leggins oder enge Jeans mit irgendeinem Pulli in Oversize oder Shirts im Lagenlook. Die meisten ihrer Klamotten nähte sie selbst aus ausgefallenen Stoffen, die sie auf den Märkten in ganz London auftrieb, oder sie kaufte Sachen in Secondhandläden und nähte sie um. Sie jetzt in einem schlichten Schulrock mit blaugrünem Schottenmuster, weißer Bluse, hellgrauem Pullunder und blauem Blazer zu sehen, war – schräg.

Aber seltsamerweise nicht schlecht schräg.

Im Gegenteil.

Trotz blaugrünen Haaren und schwarzen Linien an der Schläfe sah Ella so aus, als würde sie hierher passen. In ihrem Gesicht stand Vorfreude in Großbuchstaben und Fettdruck. Gleichzeitig begegnete sie den misstrauischen Blicken ihrer Mitschüler mit einem entwaffnenden Lächeln und winkte ihnen unbekümmert zu – und einige lächelten tatsächlich zurück.

Cam war beeindruckt. Und wieder einmal wurde ihm klar, warum Ella als der fröhliche Sonnenschein ihrer Familie galt. Bei ihm sorgten die ganzen Blicke nur dafür, dass die verdammte Unruhe, die er eigentlich ganz gut im Griff gehabt hatte, wieder schlimmer wurde, und er zerrte jetzt doch an der Krawatte, bevor das verdammte Ding ihn strangulieren konnte.

Die Uniform der Jungen bestand aus dunkelgrauen Chinos, weißem Hemd mit blaugrüner, extrem nervender Schottenmusterkrawatte, hellgrauem Pullunder und blauem Sakko. Auf dessen linker Brusttasche war – genau wie bei den Blazern der Mädchen – das Schulwappen aufgenäht: zwei Raben, die auf den Türflügeln eines eisernen Tores saßen. Damit war das Wappen ein exaktes Abbild des riesigen Eingangstores, das auf das Schulgelände führte.

Cam fühlte sich in der Uniform völlig verkleidet, auch wenn Sue und Granny beim Frühstück absolut verzückt gewesen waren und ihnen zig Mal versichert hatten, wie toll sie darin aussahen. Aber die beiden hatten ihnen diesen ganzen Schulmist ja auch maßgeblich eingebrockt. Klar, dass sie da etwas Nettes zu diesen blöden Uniformen sagen mussten.

Sehnsüchtig dachte Cam daran, wie sein Unterricht bisher ausgesehen hatte. Nur er, Ella und Jules zusammen mit Granny im Schulzimmer ihrer alten Stadtvilla, die seit vier Generationen das Zuhause von Phils Familie war. Granny hatte früher mal als Lehrerin an einer Schule in Kensington gearbeitet, ihren Job aber aufgegeben, um erst Gabriel und Sky, später dann auch ihn, Jules und Ella zu Hause zu unterrichten.

Eigentlich hätten sie auch in der Akademie der Totenbändiger zur Schule gehen können, doch Sue mochte die Akademie nicht – milde ausgedrückt. Sie war dort aufgewachsen, sprach aber nicht gerne darüber. Cam wusste nur, dass Sue die Mentalität und radikalen Erziehungsmethoden dort verabscheut und sich von der Akademie abgewandt hatte, sobald sie achtzehn gewesen war. Außerdem hatte sie verhindert, dass Gabriel, Ella und er selbst dort aufwachsen mussten.

Sue arbeitete als Klinikwächterin in einem Krankenhaus in Islington und bändigte die Geister der Opfer von Unfällen oder Gewaltverbrechen, wenn diese starben. Jede Klinik beschäftigte ein Team von Totenbändigern, die Patienten und Personal vor den Geistern beschützte, die unweigerlich beinahe täglich in den Krankenhäusern entstanden. Außerdem kümmerten die Wächter sich um Babys, die als Totenbändiger zur Welt kamen. Da solche Kinder in normalen Familien aus Angst vor der sozialen Ächtung nicht willkommen waren, ließen die Eltern diese Babys in den Kliniken zurück. Die Wächter brachten sie dann in die Akademie, wo sie von Totenbändigern aufgezogen wurden.

 

Manchmal nahmen Klinikwächter die Babys aber auch zu sich und gaben ihnen in ihren Familien ein Zuhause. So wie Sue. Als Gabriel und Ella in ihrer Klinik zur Welt gekommen und von ihren leiblichen Eltern verstoßen worden waren, hatte Sue es nicht übers Herz gebracht, sie in die Akademie zu bringen. Keiner der beiden sollte dort aufwachsen müssen – und keins ihrer Kinder sollte dort zur Schule gehen. Deshalb hatte Granny den normalen Schulunterricht übernommen, während Sue ihnen beibrachte, ihre Kräfte zu beherrschen und richtig einzusetzen.

Beide waren ziemlich strenge Lehrerinnen gewesen. Es hatte Leistungspläne gegeben, die absolut verbindlich waren, und Cam, Jules und Ella hatten immer wieder staatlich festgelegte Onlineprüfungen ablegen müssen, mit denen der Leistungsstand aller Homeschooling-Schüler offiziell überprüft wurde.

Trotzdem war es nie ein Problem gewesen, wenn Cam für manche Aufgaben länger gebraucht hatte als Jules oder Ella. Oder wenn er sie nur in Etappen erledigen konnte. An Tagen, an denen die Unruhe zu schlimm war, fiel es ihm schwer, sich zu konzentrieren. Granny hatte ihn dann zwischendurch andere Dinge machen lassen, wie sich im Garten um die Beete zu kümmern, Blätter zu fegen oder Gemüse fürs Abendessen vorzubereiten, bevor er sich wieder mit Matheformeln oder französischer Grammatik herumschlagen musste.

Das hatte prima funktioniert. In den Onlineprüfungen war er fast genauso gut gewesen wie Jules und Ella.

Aber jetzt gab es solche Sonderbehandlungen nicht mehr und er musste mit dem Unterricht in einer Regelschule klarkommen. Und mit jeder Menge fremder Leute. Vermutlich war das einer der Gründe, warum die ätzende Unruhe ihn heute wieder so rappelig machte.

Als vor zwei Monaten klargewesen war, dass sie nach den Sommerferien zur Schule gehen durften, hatte Phil angeboten, ihm ein Medikament zu geben, das ruhiger machte und half, dass er sich besser konzentrieren konnte. Aber Cam hatte abgelehnt. Vor ein paar Jahren hatte er schon einmal so ein Mittel ausprobiert, doch das hatte er nicht vertragen. Wenn man mit Übelkeit und migräneartigen Kopfschmerzen im Bett lag, war das kein guter Tausch für ein bisschen inneren Frieden, der sich zu allem Übel auch noch eher wie bleierne Müdigkeit angefühlt hatte. Auch wenn Phil ihm versichert hatte, dass es noch andere Medikamente gab mit Wirkstoffen, die seinem Körper vielleicht nicht so sehr zu schaffen machen würden, war Cam nicht scharf auf eine Wiederholung dieses Experiments gewesen. Er kam sich ohnehin schon oft genug wie ein Freak vor, da musste er nicht auch noch irgendwelche Pillen schlucken, die ihn noch mehr zu einem machten.

Jules zog die Tür zum Verwaltungstrakt auf. Dahinter lag ein kurzer Flur, von dem links das Sekretariat sowie das Büro der Direktorin und das Krankenzimmer der Schule abgingen. Rechts führte ein weiterer Gang tiefer ins Gebäude und ein Hinweisschild verriet, dass man dort Lehrerzimmer, Abteilungsleitungen, Stundenplanbüro, Hausmeister, Kopierraum und die Besprechungszimmer 1 bis 3 fand.

Die Tür zum Sekretariat stand einladend offen. Hinter einer Theke sortierte eine ältere Frau einen Stapel Kopien, sah aber sofort auf, als die drei eintraten.

»Hallo, da seid ihr ja! Na, schon aufgeregt?«

Sie kannten Ms Margret schon von ihrer Anmeldung. Genau wie Direktorin Carroll hatte sie keinerlei Vorbehalte gegen Totenbändiger an ihrer Schule und brachte ihren neuen Schülern von Anfang an das Gefühl entgegen, an der Ravencourt willkommen zu sein.

»Ja, ein bisschen«, gestand Ella ehrlich wie immer. »Aber vor allen Dingen freuen wir uns, dass es endlich losgeht.«

»Das ist die richtige Einstellung.« Ms Margret zwinkerte ihr gutgelaunt zu und reichte dann jedem einen kleinen Papierstapel über den Tresen. »Das hier sind eure Schülerausweise, Spindnummern, ein Lageplan der Schule, die Brandschutzverordnung und eine Kopie der Schulordnung. Die lest ihr bitte bis zum Ende des Schultags durch und gebt sie mir dann unterschrieben zurück. Außerdem habt ihr hier noch eine Liste mit allen Workshops, AGs und Clubs, die in diesem Semester angeboten werden. Eins dieser Angebote müsst ihr euch als Wahlpflichtveranstaltung aussuchen. Eure Stundenpläne bekommt ihr gleich von Direktorin Carroll. Sie möchte noch kurz mit euch sprechen, bevor es losgeht.«

Während Cam noch den Zettelwust sortierte, fragte Jules: »Ich würde gerne in die Basketball-AG, wenn das okay ist?«

»Und ich in die Kunstwerkstatt?«, schob Ella gleich hinterher.

»Sicher. Natürlich. Ich trage euch gleich ein.« Ms Margret wirkte erfreut, dass die beiden sich offensichtlich schon auf der Homepage über das Angebot schlaugemacht und etwas gefunden hatten, das sie interessierte.

Sie blickte zu Cam. »Was ist mit dir? Weißt du auch schon, in welchen Wahlpflichtkurs du gehen möchtest?«

Cam zog die Liste aus dem Zettelberg. Seine Finger waren eiskalt und seine Hände zitterten.

Verdammte Unruhe.

An die zwanzig Kurse standen auf der Liste und er überflog die Einträge.

Basketball, Fußball, Leichtathletik, Kunstwerkstatt, Schach, Chor, Tanz, Theater, Computer, Naturwissenschaften, Ernährungslehre, Erste Hilfe …

Sein Herz pochte zu schnell und die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Rasch blinzelte er ein paar Mal und zwang sich, tief durchzuatmen.

Mann, krieg das in den Griff! Es ist nur irgendein blöder Extrakurs!

»Keine Sorge«, hörte er Ms Margrets Stimme durch das Rauschen in seinen Ohren. »Du musst das nicht jetzt sofort entscheiden. Schau dir die Liste ganz in Ruhe in der Mittagspause an. Und wenn du Fragen hast – die Namen der Ansprechpartner stehen neben den Kursen. Innerhalb der ersten beiden Wochen des Schuljahres darfst du auch in mehrere Kurse reinschnuppern, bevor du dich endgültig entscheiden musst. Sag mir einfach heute nach der Schule Bescheid, was dich interessiert.«

»Danke, das mache ich.« Cam war froh, dass er einen Aufschub bekam, und dass sich seine Stimme nicht so gepresst anhörte, wie sein Inneres sich gerade anfühlte. Er schaffte sogar ein kleines Lächeln, als er den ganzen Papierkram in seinen Rucksack stopfte.

»Prima. Dann meldet euch jetzt bei Direktorin Carroll.« Ms Margret deutete auf die Tür zum Büro der Schulleiterin. »Klopft einfach an. Sie erwartet euch schon.«

Direktorin Carroll war eine wohlbeleibte Afrobritin Ende fünfzig, und wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die drei Hunts schon vor Jahren an ihre Schule kommen dürfen. Doch der Stadtrat hatte den Modellversuch immer wieder abgelehnt und auch im Kollegium sowie bei Schülern und Eltern hatte erst einiges an Überzeugungsarbeit geleistet werden müssen. Jetzt war Carroll jedoch ihre Zufriedenheit darüber, dass endlich alles geregelt war und ihre Schule ein längst überfälliges Zeichen für ein gemeinsames Miteinander und eine neue Form von Offenheit setzen konnte, deutlich anzusehen.

Cam, Jules und Ella kannten die Direktorin schon von verschiedenen Gesprächen, die sie im Vorfeld geführt hatten, und Cam fand sie ganz okay. Sie schien ihre Unterstützung ernst zu meinen und ihr Lächeln wirkte immer echt. Auch jetzt, als sie die drei in ihrem Büro ganz offiziell als Schüler der Ravencourt Comprehensive willkommen hieß.

»Ich freue mich, dass ihr endlich hier sein dürft, und ich hoffe, dass ihr euch bei uns wohlfühlen werdet.« Sie reichte ihnen ihre Stundenpläne. »Um euch den Einstieg zu erleichtern, haben wir euch dieselben Kurse zugewiesen. Eure Großmutter hat einen wirklich guten Job mit euch gemacht und ihr habt die Einstufungstests mit Bravour bestanden. Ich glaube nicht, dass ihr mit eurem Abschluss im nächsten Jahr Probleme bekommen werdet. Obwohl du deinem Alter nach eigentlich ein Jahr unter deinen Brüdern eingestuft werden müsstest«, fügte Carroll an Ella gewandt hinzu. »Doch ich fürchte, da würdest du dich langweilen. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, in eurem Jahrgang die Jüngste zu sein.«

Ella schüttelte den Kopf. »Nein, das stört mich überhaupt nicht, keine Sorge. Das kriege ich schon hin.«

Das bezweifelte Cam nicht im Geringsten.

Ella war zwar klein und zierlich, aber definitiv kein Push-over. Dafür hatten Sky und Gabriel mit ihrem Selbstverteidigungstraining gesorgt. Nicht, dass Ella das bisher jemals gebraucht hatte. Zum Glück. Sie hatte zwar ihren eigenen Kopf und setzte den auch durch, wenn ihr etwas wichtig war, doch sie war dabei immer so ehrlich, entwaffnend und liebenswert, dass die meisten Menschen sie schnell in ihr Herz schlossen. Oft sogar selbst die, die Totenbändigern vorsichtig oder ablehnend gegenüberstanden.

»Prima.« Die Direktorin lächelte zufrieden und sah dann von einem zum anderen. »Ms Margret bringt euch gleich zu eurem ersten Kurs. Ich wünsche euch einen guten Start hier bei uns und wenn ihr irgendwelche Fragen oder Probleme habt, steht meine Tür euch immer offen.«

»Danke.«

Während ihres Begrüßungsgesprächs hatte die Glocke zur ersten Stunde geläutet und als Ms Margret die drei zu ihrem Kursraum brachte, waren die Gänge bereits leer.

Auch im Inneren wirkte die Ravencourt hell und freundlich. Bunte Spinde standen entlang der Flure und an den Wänden hingen Poster zu verschiedenen Workshops, AGs und anstehenden Schulveranstaltungen. Außerdem gab es gerahmte Fotografien von Theateraufführungen und Chorauftritten und in Vitrinen standen Ausstellungsstücke von Kunstkursen sowie Sportpokale und Mannschaftsfotos.

Eigentlich alles ganz nett und Cam konnte Ella und Jules ansehen, wie sehr sie sich freuten, hier zu sein und die Chance zu bekommen, überall mitzumachen.

Er seufzte innerlich.

Warum konnte er sich nicht genauso fühlen?

Unwirsch zerrte er wieder an seiner Krawatte und blickte zu Jules, auch wenn er es in letzter Zeit eher vermied, ihn zu betrachten. Das weckte nur immer wieder dieses sehnsüchtige Ziehen in seinem Inneren, das er irgendwie in den Griff bekommen musste.

Doch leider sah Jules selbst in der blöden Schuluniform verboten gut aus. Groß, schlank und sportlich, mit diesen krassen schneeweißen Haaren, die er nur durchzuwuscheln brauchte, damit sie lässig und cool aussahen. Dazu die braunen Augen, die er von Phil geerbt hatte, und in denen der gleiche warme Glanz wie bei seinem Vater lag. Und wenn er lächelte, hatten sie dieses Funkeln, das Cam seit einiger Zeit ziemlich deutlich spüren ließ, dass er liebend gern nicht mehr nur Jules bester Freund und Pflegebruder gewesen wäre.

Aber die Chancen, mehr zu sein, lagen bei null.

Jules wollte nichts Festes.

Schon gar nicht jetzt, wo die Schule losging.

Genau wie Ella war er offen und kontaktfreudig und hatte so eine Art an sich, die ihm alle Herzen zufliegen ließ. Er hatte eine Clique im Park, in der er der einzige Totenbändiger war. Trotzdem war es für ihn kein Problem gewesen, dort akzeptiert zu werden. Sie spielten Basketball, trafen sich hin und wieder zum Fußball oder fürs Kino oder hingen einfach nur zusammen herum.

Immer wieder versuchte Jules, auch Cam mitzunehmen, doch obwohl die Clique ganz nett war, fand Cam die Gesellschaft der anderen meistens schnell anstrengend. Menschen waren einfach nicht sein Ding und er war schon froh, wenn ihm hin und wieder jemand sympathisch genug war, dass er in dessen Gegenwart nicht das Gefühl hatte, ständig wachsam sein zu müssen. Und dass er jemandem außerhalb seiner Familie vertraute, hatten bisher nur Thaddeus und Connor geschafft, und die gehörten eigentlich auch zur Familie, deshalb war Cam sich nicht sicher, ob die beiden wirklich zählten.

Cam blieb einfach lieber für sich. Er fuhr gerne Skateboard oder ging joggen. Sich zu bewegen, half, die Unruhe in Schach zu halten. Er hing auch gerne mit seinen Geschwistern ab. Oder alleine mit Jules. Dann zockten sie Computerspiele oder schauten ihre Lieblingsserien. Und wenn Jules nachts mitbekam, wie die Todesangst Cam gefangen hielt, schaffte er es immer, ihn da rauszuholen. Für Cam bedeutete das alles, doch für Jules war es leider nicht genug.

Auf eine gewisse Weise konnte Cam das sogar verstehen. Sie waren zusammen aufgewachsen und kannten einander in- und auswendig. Cam brachte das Sicherheit und die Gewissheit, dass er Jules ohne Wenn und Aber vertrauen konnte. Jules dagegen liebte das Neue und Unbekannte, deswegen war es für ihn spannender und aufregender andere Leute zu treffen. Außerdem flirtete er wahnsinnig gerne und auch wenn Cam wirklich gerne mehr als nur sein bester Freund gewesen wäre – mit Jules zu flirten wäre schräg. Dafür kannten sie sich einfach zu gut.

 

»So, da wären wir«, riss Ms Margret ihn aus seinen Gedanken und Cam wandte den Blick schnell ab von Jules und hin zur Klassenzimmertür. »Mathematik 2 bei Mr Weatherly.«

Die Sekretärin klopfte kurz an, öffnete die Tür dann ohne eine Aufforderung abzuwarten, und trat ein. Jules, Ella und Cam folgten ihr, während Cam versuchte, sich den gleichen Enthusiasmus einzureden, den Ella und Jules versprühten.

Er dachte an Gabriels Worte vom vergangenen Abend.

Wenn das hier funktionierte, war das ein wirklich großer Schritt hin zu mehr Gleichberechtigung für Totenbändiger in London. Und das wollte er, auf jeden Fall. Also musste er das hier irgendwie hinbekommen.

»Guten Morgen, Mr Weatherly. Ich bringe Ihnen unsere drei Neuzugänge für das Abschlussjahr. Das sind Julien, Ella und Camren Hunt.«

»Oh. Ja. Wie schön.«

Mr Weatherly war ein dürrer Mann mit Nickelbrille, grauen Haaren und einer Strickweste, der seinem Aussehen nach kurz vor der Pensionierung stehen musste und das optische Klischee eines leicht zerstreuten Mathematikprofessors perfekt erfüllte. Verglichen mit Ms Margret und Direktorin Carroll wirkte das Lächeln, mit dem er Cam, Jules und Ella begrüßte, allerdings eher bemüht. Ob es daran lag, dass er generell keine Neuzugänge mochte oder nicht begeistert darüber war, ab heute drei Totenbändiger unterrichten zu müssen, war schwer zu sagen.

Während er seine neuen Schüler mit hilfloser Überforderung musterte, erinnerte Ms Margret den Kurs daran, ihre Wahlpflichtfächer bei ihr im Sekretariat anzugeben, falls sie die im neuen Schuljahr wechseln wollten, wünschte dann allen einen guten Start und verschwand.

»Bitte setzt euch.« Mit noch immer bemühtem Lächeln wies Mr Weatherly auf zwei leere Doppeltische neben den Fenstern. »Hier vorne ist noch etwas frei.«

Die Kurstische waren zu einem Hufeisen gestellt und die unbeliebten Plätze nahe des Lehrerpults waren unbesetzt.

»Danke.«

Jules begegnete der Unsicherheit seines Lehrers mit höflicher Freundlichkeit, doch als er auf die freien Tische zusteuerte, sprang ein blondes Mädchen auf, das direkt daneben saß.

Anklagend blickte sie in die Klasse. »Nee, Leute, das ist echt nicht fair! Nur weil ich als Letzte gekommen bin, soll jetzt ausgerechnet ich neben einem von denen sitzen?«

Cams Magen zog sich zusammen.

Na toll. Das ging ja schon richtig super los.

»Ehm …« Nervös blickte Mr Weatherly von ihr zu Jules, Ella und Cam. Es war offensichtlich, dass er keinen Ärger in seiner Klasse haben wollte, schien aber nicht so recht zu wissen, was er jetzt sagen sollte, um die Situation nicht eskalieren zu lassen.

Doch Jules übernahm das für ihn und schenkte seiner aufgebrachten Mitschülerin ein gewinnendes Lächeln. »Hi, ich bin Julien, aber eigentlich nennen mich alle Jules. Wie heißt du?«

Einen Moment lang war sie von dieser direkten Art sichtlich überrumpelt, dann antwortete sie: »Larissa.«

»Hallo Larissa, schön, dich kennenzulernen.« Jules ging ein paar Schritte auf sie zu, wobei der komplette Kurs ihn nicht aus den Augen ließ. »Warum möchtest du nicht, dass wir neben dir sitzen? Hast du Angst vor uns?«

Bei seiner Annäherung war Larissa tatsächlich zurückgewichen, hielt jetzt aber inne und musterte erst ihn, dann Ella und Cam abschätzend.

»Na ja, klar. Ihr könnt schließlich töten«, sagte sie dann patzig. »Einfach so. Durch Handauflegen. Oder nicht?«

Jules nickte langsam. »Es ist nicht ganz so einfach, aber ja, im Prinzip schon.« Er deutete auf ihr Federmäppchen. »Aber töten kannst du auch. Ich wette, du hast da einen Bleistift drin. Wenn du den jemandem hier im Kurs ins Auge rammst, könntest du ihn damit genauso schnell töten wie ich.«

Larissa bedachte ihn mit einem ironischen Blick. »Ja, sicher.« Sie verschränkte die Arme vor ihrer Brust. »Aber warum sollte ich das tun? Ich bin ja kein durchgeknallter Freak.«

Die Provokation in ihrem Tonfall war nicht zu überhören und Cams Hand krallte sich um den Schulterriemen seines Rucksacks.

Jules dagegen blieb völlig gelassen und hob bloß die Schultern. »Das sind wir auch nicht. Unsere Kräfte machen uns nicht zu unberechenbaren Monstern. Sollte ein Totenbändiger wirklich jemanden töten wollen, muss er sich dazu entscheiden und seine Kräfte gezielt einsetzen. Genauso wie andere Menschen sich auch dazu entscheiden und eine Waffe einsetzen müssen, wenn sie jemanden töten wollen. Es sei denn, sie erwürgen ihr Opfer im Affekt mit bloßen Händen. In dem Fall sind eure Hände genauso gefährlich wie unsere.« Er schenkte Larissa ein vielsagendes Grinsen.

Die wirkte noch immer skeptisch. Doch dann zuckte sie mit den Schultern, und als sie Jules erneut musterte, lag in ihrem Blick deutlich mehr Interesse als Misstrauen.

»Okay. Kapiert.«

Ella trat an einen der leeren Plätze, legte ihren Rucksack ab und wandte sich zu ihrer Klasse um. »Ehrlich Leute, wir sind nicht gefährlicher als ihr. Und wir haben uns nicht ausgesucht, das zu sein, was wir sind. Aber genau wie jeder andere Mensch können wir uns entscheiden, die Besten zu sein, die in uns stecken. Und im Moment freuen wir uns einfach nur darüber, hier zu sein, euch kennenzulernen und hoffentlich ein paar Freunde zu finden.«

Sie lächelte in die Runde und Cam sah, dass ihre Ehrlichkeit und Direktheit bei vielen gut ankamen und sich die leicht angespannte Atmosphäre, die bisher im Raum geherrscht hatte, deutlich entspannte.

Jules streckte Larissa seine Hand entgegen. »Also, vertraust du mir?«

Sie zögerte. »Keine Ahnung.« Dann lächelte sie jedoch und legte ihre Hand in seine. »Aber ich lasse es einfach mal darauf ankommen.«