Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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»Wow, nicht mal Zeit für einen Kaffee?«, fragte Gabriel mit einem bedauernden Seufzen, als er sah, dass Sky und Connor die Gürtel mit ihrer Ausrüstung umschnallten. Die bestand im Wesentlichen aus ihren Dienstwaffen, einem extra Magazin, Taser, Handschellen und einer speziellen Taschenlampe, die nicht nur auf gewöhnliche Weise leuchtete. Man konnte sie zusätzlich umschalten auf Magnesiumlicht, das Geister vertrieb, was ein nicht zu verachtender Vorteil war, wenn man von mehreren Seelenlosen gleichzeitig angegriffen wurde.

Spuks – wie die Polizisten der Spuk Squad genannt wurden – trugen zudem noch eine Spezialwaffe: eine Auraglue. Diese Pistolen waren den normalen Dienstwaffen recht ähnlich, enthielten aber keine Kugeln, sondern eine Kartusche mit einem flüssigen Gemisch aus Eisen- und Silberpartikeln, Salz, Zitronensäure und Extrakten verschiedener Bannkräuter.

Gabriel hatte keine Ahnung, wie die Wissenschaftler es hinbekommen hatten, doch schoss man Auraglue auf einen Geist, heftete sich die Substanz mit feinen Tröpfchen an die Aura des Seelenlosen, schwächte ihn und machte ihn im Idealfall bewegungsunfähig oder zumindest langsamer. Das hing allerdings stark von der Stärke des Geistes ab und war nur ein Nachteil von Auraglue. Ein weiterer waren die extrem hohen Herstellungskosten – und jede Kartusche reichte nur für einen Schuss. Außerdem ätzte das Zeug Löcher in Kleidung und Haut, wenn man damit in Berührung kam.

Deshalb tauschte Sky auch ihre Cordjacke gegen eine alte aus Leder. Ihre Kollegen aus anderen Einheiten trugen zumeist entweder Uniformen oder Anzüge. Spuks durften in einem angemessenen Rahmen tragen, was sie wollten.

»Nein, keine Zeit für einen Kaffee. Wir wurden angefordert.« Connor zog seine Jeansjacke aus, um seine Schutzweste darunter anzuziehen. Da er kein Totenbändiger war, musste er sich vor Geisterberührungen schützen.

Totenbändiger konnten sich gegen solche Übergriffe wehren. Griff ein Geist nach ihrer Lebensenergie, griffen die Totenbändiger nach der Todesenergie des Seelenlosen. Es war wie ein Tauziehen, das der Stärkere gewann. War es der Totenbändiger, vernichtete er den Geist. War es der Geist, starb der Totenbändiger. Griff ein Geist nach der Lebensenergie eines Menschen ohne Totenbändigerkräfte, hatte derjenige dem Seelenlosen nichts entgegenzusetzen. Silberschmuck half, um sich vor Angriffen zu schützen. Doch da Silber neben Eisen paranormale Wesen am effektivsten auf Abstand hielt, zählte es zu den wertvollsten Materialien der Welt, und nur die wirklich Reichen konnten sich diesen Schutz leisten. Bei der Polizei gab es für Spuks, die keine Totenbändiger waren, Schutzwesten mit eingewebten Silberfäden, die sie auf ihren Einsätzen vor Geisterangriffen schützen sollten.

Thaddeus erschien in der Verbindungstür, die vom Büro seiner Truppe in sein eigenes führte. »Wo zum Henker warst du so lange?«, fragte er, als er sah, dass Gabriel ihn endlich mit seiner Anwesenheit beehrte.

»Sorry, ich musste Theo noch kurz die Welt erklären.« Gabriel trat zu seinen Schreibtischen und holte seinen Ausrüstungsgürtel sowie einen Rucksack mit Silberboxen aus dem Safe.

Schnaubend schüttelte Thad den Kopf. »Dann sprich nächstes Mal schneller und benutz kürzere Sätze. Wir haben einen Tatort. Die Kolleginnen der Mordkommission aus Islington haben uns angefordert. Also schnapp dir deine Ausrüstung und dann avanti. Da draußen gibt es drei frische Geister.«

Kapitel 3


Mann, Mann, Mann.« Sky parkte hinter Thad in zweiter Reihe und stieg mit Connor aus dem Dienstwagen. »So wie achtzig Prozent in dieser Stadt Auto fahren, wundert mich die ständig steigende Zahl der Unfalltoten kein bisschen. Bei wem haben die denn bitte fahren gelernt?«

Gabriel war aus Thads Wagen gestiegen und schwang sich den Rucksack über die Schulter. »Nicht bei Granny.«

»Ja, großer Fehler. Ich sollte sie überreden, eine Fahrschule aufzumachen, jetzt, da sie Jules, Ella und Cam nicht mehr unterrichten muss. Damit würde sie der Gesellschaft einen echten Dienst erweisen.«

Sie liefen auf die kleine Menschenmenge zu, die sich trotz einsetzender Dämmerung vor dem Absperrband versammelt hatte, das von den Kollegen der Streife in sicherer Entfernung zum Tatort aufgespannt worden war.

»London Metropolitan Police! Machen Sie Platz, sonst mache ich welchen!«, bellte Thaddeus die Schaulustigen an, als diese nur widerwillig zur Seite wichen, um die vier passieren zu lassen. Viele hielten ihre Handys hoch und filmten, um nur ja nichts von dem zu verpassen, was sich hinter der Absperrung ereignete.

Angewidert verzog Gabriel das Gesicht. Er hasste Gaffer, die sensationsgeil die Arbeit von Polizei und Rettungskräften behinderten, um Videos für irgendwelche bescheuerten Social-Media-Kanäle aufzunehmen. Warum tätowierte man denen nicht Asoziales Arschloch in Leuchtbuchstaben auf die Stirn und begegnete ihnen dann mit derselben Ablehnung wie Totenbändigern? Im Gegensatz zu den meisten Totenbändigern hätten diese Arschlöcher so eine Ächtung absolut verdient.

Hinter dem Absperrband standen drei Streifenwagen, die sowohl als Straßensperre als auch als Sichtschutz dienten. Dazwischen hatten mehrere Constables Position bezogen und achteten darauf, dass keiner aus der Menge die Grenze überschritt.

Die Belleston Road war eine der vielen schmaleren Durchgangsstraßen, wie man sie in London zu Hauf fand. Es gab ein paar Schnellrestaurants und einen Corner Shop, eine Bushaltestelle und ein Maklerbüro. In den oberen Stockwerken der meist dicht an dicht stehenden Häuser lagen Wohnungen der unteren Mittelschicht. Es war keine besonders ansehnliche Wohngegend, doch sie zählte zu den sicheren, denn die Belleston Road hatte Straßenlaternen, auch wenn nur jede dritte mit Magnesiumlicht ausgestattet war.

Thaddeus zeigte einer jungen Constable seinen Dienstausweis und wurde in die Richtung einer schmalen Gasse verwiesen, an der zwei Frauen in praktischen Businessanzügen und ein Team von Forensikern standen. Vor ihnen auf dem Boden lag eine dicke Eisenkette, mit der man sichergestellt hatte, dass kein Geist aus der Gasse entkommen konnte. Die Gasse selbst schien nicht viel mehr als eine schmale, vielleicht zehn Meter lange Ausbuchtung zwischen den Häusern zu sein, die vom benachbarten Chinarestaurant und den Anwohnern als Abstellplatz für Müllcontainer genutzt wurde. Fenster gab es keine, aber am rechten Haus führte eine Wartungsleiter hinauf aufs Dach.

»Chief Inspector Pearce. Das sind meine Leute, die Sergeants Hunt und Fry«, stellte Thaddeus sich und sein Team vor.

»Chief Inspector Najafi«, antwortete eine schwarzhaarige Pakistani um die vierzig und deutete auf ihre etwa gleichaltrige Kollegin. »Das ist meine Partnerin, Chief Inspektor Dutch. Danke, dass Sie uns aus Ihrem Revier unterstützen. Unsere eigene Spuk Squad muss sich um einen Notfall an der Finsbury Park Station kümmern. Irgendwelche Vollidioten haben dort das Siegel zur U-Bahn aufgebrochen.«

»Schon wieder ein gebrochenes Siegel?« Thaddeus fluchte. »Wenn ich diese Mistkerle in die Finger bekomme …«

Der Londoner Untergrund war der größte Verlorene Ort der Stadt. Vor knapp zwanzig Jahren waren zur Rush Hour zwei Züge der Bakerloo Line in der Oxford Circus Station zusammengeprallt. Es hatte eine Explosion und ein verheerendes Feuer gegeben, bei dem Hunderte von Menschen gestorben waren. Oxford Circus sowie die umliegenden Stationen waren daraufhin abgeriegelt und versiegelt worden. Das Unglück hatte so viele Geister auf einmal hervorgerufen, dass es unmöglich war, das Gebiet zu säubern. Man hatte allerdings gehofft, den Schaden begrenzen zu können, und nach einigen Wochen den Betrieb auf anderen Strecken wieder aufgenommen.

Mit fatalen Folgen.

In dem labyrinthartigen Tunnelsystem schienen die Geister immer wieder Wege aus dem versiegelten Bereich herauszufinden. Sie lauerten Zügen auf anderen Strecken auf und töteten Passagiere und Zugführer, was zu weiteren schweren Unfällen und noch mehr Geistern geführt hatte. Innerhalb eines halben Jahres war dem Stadtrat keine andere Wahl geblieben, als das komplette U-Bahn-Netz der Stadt zu versiegeln und den Untergrund Londons offiziell zu einem Verlorenen Ort zu erklären. Niemand durfte ihn mehr betreten, was Adrenalinjunkies auf der Suche nach den ultimativen Kicks allerdings nicht davon abhielt, sich trotzdem hinunterzuwagen. Mit meist tödlichen Folgen. Oft bezahlten nicht nur sie ihren Leichtsinn mit dem Leben, sie beschädigten bei ihren Einbrüchen auch die Siegel, die die Ausgänge der U-Bahn sicherten. Nicht selten konnten so Geister ausbrechen und sich auf wehrlose Passanten stürzen.

»Sind Geister entkommen?«, fragte Sky.

»Leider ja«, seufzte Dutch. »Es gab bisher zwei Tote. Unsere Spuk Squad hat alles weiträumig abgeriegelt und sucht nach den Geistern. Die Anwohner sind informiert und wir hoffen, es bleibt nur bei den beiden Opfern. Es ist ja zum Glück noch früh. Die Dämmerung bricht gerade erst an. Es sind sicher noch nicht viele Geister entkommen.«

»Trotzdem«, grollte Thaddeus. »Wenn ich diese verdammten Irren erwische …«

»Ganz Ihrer Meinung«, pflichtete Najafi ihm bei, deutete dann jedoch in die dunkle Seitengasse. »Aber wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie und Ihre Leute uns zuerst bei diesem Tatort helfen könnten.«

Thaddeus nickte. »Sicher. Können Sie uns sagen, was passiert ist?«

»Leider wissen wir nicht viel. Eine Anwohnerin kam von der Bushaltestelle auf dem Weg zu ihrer Wohnung an der Gasse vorbei. Sie hörte ein seltsames Matschen – ihre Worte, nicht meine – und als sie ein paar Schritte hineinging, sah sie hinter den Müllcontainern eine Gestalt am Boden kauern, die sich über eine andere beugte. Daneben lagen noch zwei weitere. Es gab jede Menge Blut und sie fühlte Geisterkälte, deshalb ist sie sofort umgedreht und nebenan ins Chinarestaurant gerannt. Von dort aus hat sie die Polizei angerufen, während die Restaurantbesitzer die Gasse provisorisch mit Salz gesichert haben.«

 

»Super mitgedacht«, meinte Gabriel anerkennend.

Dutch nickte. »Ja, solchen gesunden Menschenverstand würden wir uns häufiger wünschen.«

»Wie lange ist es her, seit die Zeugin die Gestalt in der Gasse gesehen hat?«, fragte Connor.

Najafi blickte auf ihre Armbanduhr. »Ungefähr eine Dreiviertelstunde.«

»Okay. Und waren Sie selbst in der Gasse, als Sie hier ankamen?«

Da die Dämmerung nun immer rascher hereinbrach, hatte Sky ihre Taschenlampe vom Gürtel gezogen und leuchtete in die schmale Häuserschlucht. Die Müllcontainer versperrten jedoch die Sicht, daher war außer einer Menge Blut, das in einem Gully versickerte, nicht viel zu erkennen.

»Sicher. Aber nur kurz. Um die Anzahl der Toten zu bestätigen. Es sind drei. Zwei Frauen und ein Mann. Alle übel zugerichtet. Viel mehr kann ich leider nicht sagen. Hinter den Containern ist es eiskalt, deshalb haben wir den Tatort mit Eisenketten gesichert und Sie zur Verstärkung gerufen.«

»Na, dann sehen wir uns die Sache mal an.« Gabriel streifte den Rucksack von seiner Schulter und reichte ihn Connor. Die Geister würden vor dem Silber in seinem Inneren zurückweichen. Für Connor bot das einen zusätzlichen Schutz, Gabriel dagegen wollte die Geister zu sich locken können.

Connor schwang sich den Rucksack über und zog Taschenlampe und Auraglue von seinem Gürtel. »Ich versuche, den dritten mit M-Licht von euch fernzuhalten, während ihr die ersten beiden ausschaltet. Sind sie schon zu stark, bändige ich ihn mit Auraglue und ihr könnt dann entscheiden, ob ihr ihn eliminiert oder ob wir ihn in eine Silberbox sperren. Einverstanden?«

Sky nickte. »Klingt nach einem guten Plan.«

»Passt auf euch auf«, gab Thaddeus ihnen mit.

Gabriel grinste. »Machen wir doch immer.«

Dann traten sie gemeinsam über die Eisenkette. Bis zu den Müllcontainern waren es nur drei Meter, doch sie spürten bei jedem Schritt, wie die laue Spätsommerwärme des Abends hinter ihnen zurückblieb. Es wurde eiskalt und ihr Atem kondensierte zu feinen Nebelwolken. Frost hatte sich über Boden und Wände gezogen und Eiskristalle glitzerten in den Lichtkegeln ihrer Taschenlampen. Selbst die Pfütze aus warmem Blut hatte an den Rändern zu frieren begonnen.

Ohne sich absprechen zu müssen, schalteten die drei ihre Lampen aus.

Ein matter Schimmer hing in der Luft.

Mindestens einer der Geister hatte sich also schon vom Geisterhauch in einen Schemen verwandelt.

Sie umrundeten die Container und sahen die drei Leichen auf dem Boden. Es war bereits zu dunkel, um mehr als ihre Umrisse ausmachen zu können, dafür waren die feinen Nebelgespinste, die gräulich über den Körpern schwebten, aber umso besser zu erkennen.

Geister labten sich an der Restwärme ihrer Leichen, bis nichts mehr übrig war. Diese Energie machte aus dem eisigen Geisterhauch einen Schemen, der stark genug war, sich weitere Opfer zu suchen, denen er Lebensenergie rauben konnte. Je mehr dieser Energie er in sich aufnahm, desto mehr Substanz gewann er und desto stärker, schneller und gefährlicher wurde er.

Die feinen Gespinste spürten sofort, dass sich ihnen Lebende mit frischer Energie näherten. Doch sie fühlten auch das Silber, das Connor bei sich trug.

Gabriel stieß ihm gegen den Arm. »Bleib zurück. Ich nehme den linken, du hältst den in der Mitte in Schach, und Sky, du kümmerst dich um den rechten.«

»Alles klar.« Connor blieb stehen und schob den Regler seiner Taschenlampe auf Magnesiumlicht, schaltete sie aber noch nicht ein. Mit etwas Glück blieb der Schemen bei seiner Leiche, wenn die ihm noch genügend Restenergie lieferte. Sky oder Gabriel konnte das Biest dann ausschalten, sobald sie die anderen beiden erledigt hatten.

Neben ihm ging Sky auf die rechte Leiche zu und streckte ihre Hand nach dem Schemen aus. »Na komm. Komm zu Mama«, lockte sie. »Ich hab hier was ganz Leckeres für dich.«

Sie fühlte in sich hinein, spürte ihre Lebensenergie und bündelte ein winziges bisschen davon. Dann schickte sie sie durch ihre Hand in Richtung des Schemens. Feiner Silbernebel löste sich aus ihren Fingern und schlängelte zum Geist. Der reagierte sofort und schickte seinerseits gräuliche Nebelfäden zu Sky.

Genau darauf hatte sie gebaut.

Sie ließ die Verbindung zu und spürte, wie der Geist augenblicklich gierig nach ihrem Leben griff. Doch noch war er schwach und Sky hatte jede Menge Übung im Umgang mit hungrigen Geistern. Sie packte mit ihrer Energie nach der des Schemens und zerrte ihn zu sich. Ihr Silbernebel zog sich zurück in ihre Hand und sie spürte die eisige Kälte der Todesenergie, als die grauen Geisterfäden ihre Fingerspitzen berührten.

Sofort wollte ihr Instinkt die Verbindung abwehren, wollte, dass sie sich zurückzog. Doch Sky überwand den Impuls. Sie konzentrierte sich noch stärker auf die finstere Energie, sog sie in sich, umhüllte sie mit ihrem silbernen Leben und neutralisierte so den Geist.

Kälte blieb in ihr zurück. Übelkeit und ein widerlicher Geschmack in ihrem Mund. Bitter und faulig.

Sie atmete tief durch.

»Alles okay?«

Connor.

Sie schenkte ihm ein kurzes versicherndes Lächeln, dann wandte sie sich der Leiche zu, die er in Schach gehalten hatte.

Der Schemen waberte noch immer über dem toten Körper. Noch schien dieser ihm genügend Restwärme zu spenden, um attraktiv zu sein. Doch als Sky dem Geist einen Hauch ihrer lebendigen Energie anbot, griff er sofort raffgierig zu.

Wieder packte Sky nach der Todesenergie und auch der zweite Geist war noch zu schwach, um sich zu wehren. Sie zog ihn in sich und neutralisierte ihn.

Mehr eisige Kälte.

Mehr Übelkeit.

Und der widerliche Geschmack in ihrem Mund ließ sie ausspucken. Ihr Magen fühlte sich flau an und sie wusste einmal mehr, warum sie immer erst nach ihrer Schicht etwas aß.

Gabriel hatte seinen Geist ebenfalls eliminiert und eine Flasche Cola entgegengenommen, die Connor ihm aus ihrem Rucksack reichte.

»Geistersäuberung erledigt, würde ich sagen.« Er nahm einen großen Schluck, hielt dann seiner Schwester die Flasche hin und kramte ein Päckchen Kaugummi aus einer kleinen Tasche seines Ausrüstungsgürtels. Kaugummi gehörte zwar nicht zur offiziellen Polizeiausstattung, half aber ungemein, den ekelhaften Geschmack von Tod wieder loszuwerden.

»Schauen wir mal, was hier passiert ist.« Gabriel schaltete seine Taschenlampe an und ließ das Licht über die drei Leichen wandern. »Wow. Immer wenn ich denke, ich hab schon alles gesehen, kommt doch wieder ein Tatort mit neuem krassem Scheiß daher.«

Die Körper der drei Toten wirkten wie aufgerissen. Die Haut von Brust und Abdomen war zerfetzt, Innereien quollen hervor und es sah so aus, als hätte jemand darin herumgewühlt.

Doch das war nicht das Schlimmste.

Die Schädel waren zertrümmert.

»Shit«, fluchte Connor. »Seht ihr, was ich sehe?«

Sky und Gabriel nickten knapp.

Die Gehirne fehlten.

»Thad!«, rief Sky zum Ausgang der Gasse. »Der Tatort ist gesäubert! Die Geister sind eliminiert. Aber lass hier sofort alles abriegeln und schick die verdammten Gaffer weg! Der Angreifer war ein Wiedergänger!«

Kapitel 4


Grimmig fuhr Dutch sich durch ihre kurzen braunen Locken, als sie die drei Leichen zum ersten Mal genauer in Augenschein nahm.

»Sie haben recht«, stimmte sie Sky zu. »Das sieht tatsächlich nach der Tat eines Wiedergängers aus.«

Sky nickte. »Vermutlich ein ganz frischer. Deshalb ist er so hungrig. Er muss seinen Körper noch festigen.«

Wiedergänger entstanden, wenn Geister so viel Lebensenergie in sich aufgenommen hatten, dass aus ihrem Astralkörper wieder eine feste Gestalt wurde. Um diesen festen Körper dauerhaft zu behalten, reichte es Wiedergängern nicht, sich nur von der Lebensenergie der Menschen zu ernähren. Sie mussten außerdem ihre Organe fressen, was sie zu äußerst blutrünstigen Killern machte.

Zum Glück waren Wiedergänger eher selten. Sie entstanden nur aus sehr alten, sehr mächtigen Geistern, die über Jahre an Substanz gewonnen hatten. Da sie dafür viel Lebensenergie brauchten und deshalb entsprechend viele Menschen angriffen, wurde man meistens auf sie aufmerksam, bevor sie zu Wiedergängern wurden, und Spuks konnten sie vernichten. Ein Unheiliges Jahr begünstigte die Mutationen allerdings und ließ Geister schneller zu Wiedergängern werden.

»Das wäre dann Nummer acht seit Jahresbeginn«, grollte Thaddeus. »Und zwar alleine hier bei uns im Norden Londons.«

»Und die dunkle Zeit des Jahres kommt erst noch.« Najafi seufzte und blickte zu Sky und Gabriel. »Ich weiß, Islington ist nicht Ihr Revier, aber wir wären Ihnen sehr dankbar, wenn Sie trotzdem nach dieser Bestie suchen würden.«

»Na sicher«, meinte Gabriel sofort. »Ist ja schließlich nicht so, als würden Wiedergänger sich an Reviergrenzen halten.«

»Ich glaube, ich weiß auch schon, wo er hin ist.« Connor stand an der Wartungsleiter und leuchtete an ihr entlang die drei Stockwerke hinauf bis zum Dach. »An den Sprossen klebt Blut. Wahrscheinlich hat er aus der letzten Leiche die Innereien herausgerissen und ist damit geflohen, als die Zeugin ihn hier in der Gasse entdeckt hat.«

Dumm waren Wiedergänger nicht. Im Gegenteil. Genauso wie alte, mächtige Geister besaßen sie meist eine hinterlistige und ziemlich grausame Schläue.

»Boss?« Fragend sah Sky zu Thaddeus.

Der nickte. »Geht. Sucht dieses Drecksbiest und schickt es in die Hölle, wo es hingehört.«

Gabriel drückte ihm kurz die Schulter. Thaddeus hasste Geister und Wiedergänger. Im vorletzten Unheiligen Jahr waren seine Eltern von einem Wiedergänger zerfetzt und ausgeweidet worden, ganz ähnlich wie die drei Leichen, die hier vor ihnen lagen. Thaddeus war gerade achtzehn gewesen, als er ihre Überreste identifizieren musste. Seitdem hatte er sich dem Kampf gegen paranormale Wesen verschrieben und Gabriel war sich ziemlich sicher, dass Thad es bedauerte, nicht selbst ein Totenbändiger zu sein, um Geistern und Wiedergängern eigenhändig ihre Energie herausreißen zu können.

Thaddeus klopfte Gabriel auf die Schulter und nickte dann zu Connor und Sky, die bereits die Leiter hochstiegen. »Passt auf euch auf. Und erstattet regelmäßig Bericht.«

»Klar.« Gabriel kletterte die Leiter hinauf.

Auf dem Flachdach war es finster. Der Schein der Straßenlaternen reichte nicht bis hier herauf, doch im Licht ihrer Taschenlampen fanden sie Blutstropfen und schmierige rote Fußabdrücke, die quer über sechs Häuser hin zu einer weiteren Wartungsleiter führten, die in einem dunklen Innenhof endete.

Sie leuchteten hinab und ihre Lichtkegel erfassten einen Garten mit einer kleinen Rasenfläche, Beeten entlang der Außenmauern, einer Hollywoodschaukel, ein paar Gartenmöbeln und einem Grill. In einer Ecke stand ein kleiner Schuppen. Blutige Reste von irgendetwas, das einmal in einen Menschen gehört hatte, lagen auf dem Rasen und die drei sahen, wie sich eine dunkle Gestalt in den Spalt zwischen Schuppenwand und Hausmauer zwängte, als die Lichtkegel durch den Garten tasteten.

»Da ist er«, sagte Sky leise.

»Yep. Und er ist definitiv gerade erst entstanden, sonst würde er sich nicht so schnell vor dem Licht verstecken«, meinte Gabriel.

Geister mieden Licht, weil es sie schwächte. Außer es war das Licht des Vollmonds. Das liebten sie, weil es sie ähnlich wie die Lebensenergie der Menschen stärker machte. Wiedergänger waren dagegen nicht so lichtempfindlich. Auch sie bevorzugten zwar die Nacht und mieden den hellen Tag, doch sobald ihr Körper stark genug war, machten ihnen kurze Aufenthalte im Licht nichts mehr aus.

»Lasst uns einzeln runtersteigen«, schlug Connor vor. »Die anderen zwei halten die Hütte im Licht, damit das Biest nicht entkommen oder vorschnell angreifen kann.«

 

Sie wechselten die Magazine in ihren Waffen. Um Wiedergänger zu erledigen, brauchte es Kugeln aus Silber.

Gabriel stieg als Erster in den Garten hinab, während Sky und Connor den Schuppen vom Dach aus mit ihren Taschenlampen beleuchteten. Er suchte sich eine sichere Position am anderen Ende des Rasens, zog seine Waffen und schaltete seine Lampe an.

Sky kletterte als Nächste hinab. Sobald sie unten angekommen war, ihre Waffen gezogen und den Schuppen mit ihrem Lichtkegel ins Visier genommen hatte, folgte Connor.

Aus dem Schatten zwischen Schuppen und Hauswand drang ein Kratzen und Schaben, dann Fauchen und Knurren.

»Beeil dich«, drängte Sky. »Ich glaube, das Biest ist noch längst nicht satt. Und es wird langsam unruhig.«

Rasch streifte Connor den Rucksack ab und holte eine der Silberboxen samt Aktivator heraus. Er wollte die Box gerade in eine günstige Position bringen, als eine der Hintertüren geöffnet wurde, die aus den umliegenden Häusern in den Garten führten.

»Was zum Teufel ist hier los?«, blaffte eine Männerstimme. »Was macht ihr in unserem Garten?«

Innerlich verdrehte Connor die Augen und zog seine Dienstmarke vom Gürtel.

»Sir, wir sind von der Metropolitan Police.« Er hielt die Marke so, dass der Mann sie im Licht, das von der Tür aus auf den Rasen fiel, sehen konnte. »Spuk Squad. Sie haben einen Wiedergänger in Ihrem Garten. Bitte treten Sie zurück ins Haus und schließen Sie die Tür. Wir kümmern uns –«

»Wiedergänger? Zum Teufel!« Krachend warf der Mann die Tür zu.

»– darum«, beendete Connor den Satz.

»Nicht gerade höflich, aber wenigstens geht er uns nicht auf den Sack,« befand Gabriel schulterzuckend, als Connor die Silberbox in Position schob.

Doch er hatte sich zu früh gefreut.

Die Hintertür wurde erneut aufgerissen und trotz Warnung erschien der Mann wieder auf der Treppe, in seiner Hand eine Pistole.

»Wo ist das verfluchte Biest?« Wild fuchtelte er mit der Waffe hin und her.

»Sir! Stecken Sie die Pistole weg und treten Sie zurück ins Haus!«, fuhr Gabriel ihn an.

»Von einem Totenbändiger muss ich mir nichts sagen lassen, Jungchen!«, gab der Alte zurück. »Laut neuer Waffengesetzgebung darf jeder Bürger in London sein Haus und sein Leben mit Waffengewalt gegen paranormale Wesen verteidigen!«

Gabriel unterdrückte nur mühsam einen gepfefferten Kommentar. Er hatte keine Lust, sich von diesem durchgeknallten Alten eine Kugel einzufangen. Das verdammte Waffengesetz, das zu Beginn des Unheiligen Jahres im Stadtrat verabschiedet worden war, hatte bisher nur Ärger gemacht und der einzige Grund, warum nicht halb London schießwütig durch die Gegend ballerte, war, dass Silberkugeln verdammt teuer waren. Außerdem boten Auraglues nur in Verbindung mit Silberboxen einen echten Schutz und beides zusammen war für die normale Bevölkerung zum Glück absolut unerschwinglich.

Pech war, dass sich der verfluchte Wiedergänger ausgerechnet im Garten eines Mitbürgers verstecken musste, der sich eine Silberwaffe geleistet hatte und diese jetzt unbedingt benutzen wollte.

»Bitte, Sir«, übernahm Connor wieder.

Er war in ihrem Team für die Kommunikation mit der Bevölkerung zuständig. Zum einen, weil er keine schwarzen Linien an seiner Schläfe trug und die meisten Bürger lieber mit jemandem sprachen, der kein Totenbändiger war. Zum anderen war er ein Mensch mit schier unendlichen Geduldsreserven. Hätte Gabriel sich mit all den Idioten auseinandersetzen müssen, die ihnen bei ihren Einsätzen immer wieder über den Weg liefen, hätte es am Ende ihrer Schichten vermutlich oft mehr Geister im Norden Londons gegeben statt weniger.

»Treten Sie zurück ins Haus und lassen Sie uns bitte unsere Arbeit machen. Ich versichere Ihnen, wir haben alles unter Kontrolle und geben Ihnen Bescheid, sobald die Gefahr gebannt ist.«

»Nichts da, Junge! Ich habe diese Pistole doch nicht umsonst gekauft!«

Gabriels Hände krallten sich um seine eigenen Waffen. Wie Sky hielt er in der einen seine Dienstwaffe, geladen mit den Silberkugeln. Auf ihr saß die Taschenlampe, deren Licht den Wiedergänger aber vermutlich nicht mehr lange einschüchtern würde. In der anderen Hand hatte er die Auraglue schussbereit.

Und jetzt gerade wünschte er sich dringend noch eine dritte Hand für seinen Taser, um diesen verdammten Alten ausschalten zu können.