Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Wieder sah Thaddeus zwischen seinen Freunden hin und her. »Wie gesagt, ich weiß, ich bitte euch um sehr viel. Aber der Junge hat niemanden, ihr seid fantastische Eltern und diese Familie hält zusammen wie Pech und Schwefel. Nach allem, was der Kleine durchgemacht haben muss, hat er ein Zuhause wie dieses hier verdient, und ich weiß, dass er bei euch in Sicherheit wäre.«

Sue und Phil tauschten einen Blick und sahen dann zu Edna. Doch bevor die etwas sagen konnte, erklang eine Stimme vom Durchgang zum Flur.

»Wir können ihn nicht wegschicken.«

Alle fuhren herum und Phil seufzte, als sein Ältester ins Wohnzimmer kam, jenen sturköpfigen Ausdruck im Blick, den er in den letzten Monaten perfektioniert hatte.

»Wie lange hast du uns schon belauscht?«, fragte er den Elfjährigen und fühlte sich zu müde und ausgelaugt, um die eigentlich nötige Vaterstrenge in Blick und Stimme zu legen.

»Lange genug, um zu wissen, dass ein Irrer dem Kleinen wehgetan hat, weil er ein Totenbändiger ist.« Gabriel trat ans Sofa und betrachtete den bewusstlosen Jungen. Sofort ballte er wütend die Fäuste. »Er ist noch so klein. Warum hassen die Leute uns so sehr? Wir haben niemandem etwas getan!«

Sue stand aus ihrem Sessel auf und zog ihren Sohn in ihre Arme. Zärtlich streichelte sie ihm durch die vom Schlaf zerzausten Haare und fuhr mit dem Daumen über die schwarzen Linien an seiner Schläfe.

»Weil viele Menschen dumm sind und das fürchten, was sie nicht verstehen. Und sie vorverurteilen lieber andere, statt sich mit ihren eigenen Fehlern und Unzulänglichkeiten auseinanderzusetzen.«

Gabriel löste sich aus ihrer Umarmung, lehnte sich aber an sie und schaute von ihr zu seinem Dad und seiner Grandma. »Ihr werdet ihn nicht wegschicken, oder? Ella und mich habt ihr auch aufgenommen. Und Thad hat gesagt, der Kleine hat niemanden. Wo soll er denn dann hin? In die Akademie? Mum, du hasst die Akademie!«

Die drei Erwachsenen tauschten erneut einen Blick und waren sich wortlos einig.

»Nein«, sagte Sue entschieden. »Er kommt ganz sicher nicht in die Akademie. Er wird bei uns bleiben.«

Erneut ballte Gabriel die Fäuste, aber diesmal nicht aus Wut, sondern um mit ihnen triumphierend in die Luft zu boxen. »Yes!«

Sue fasste ihren Sohn bei den Schultern und drehte ihn zu sich um, damit sie ihm in die Augen sehen konnte. »Aber du hast gehört, was Thad gesagt hat. Niemand darf wissen, wer der Kleine wirklich ist. Das heißt, du darfst niemandem erzählen, was du heute Nacht hier gehört hast, verstanden?« Sie maß ihn mit ernstem Blick.

Gabriel nickte gewissenhaft. »Ja, ich weiß. Und ich verspreche, ich passe auf, dass ihm keiner mehr wehtut.« Dann wandte er sich zu dem Kleinen um. »Darf ich ihm was von meiner Lebensenergie geben, damit er schnell wieder gesund wird?«

Sue lächelte gerührt und gab ihm einen Kuss auf den strubbeligen Hinterkopf. »Okay. Aber ich zähle. Bis zehn, dann trennst du die Verbindung zwischen euch wieder.«

»Bis elf! Ich bin elf. Für jedes Jahr eine Sekunde. Das schaffe ich.«

Wieder musste Sue lächeln. »Okay. Bis elf. Aber keine Sekunde länger. Wenn der kleine Mann morgen aufwacht, braucht er einen großen Bruder, der fit ist, klar?«

Grinsend hob Gabriel den Daumen. »Glasklar.«

Dann setzte er sich neben seinen neuen kleinen Bruder und legte eine Hand auf seine Stirn und eine auf sein Herz.

Thaddeus sah noch einen Moment lang zu, wie Sue ihrem Ältesten Anweisungen gab, dann stand er auf und blickte zu Phil. »Ich muss zurück zum Tatort.«

Phil nickte und begleitete seinen Freund zur Haustür. »Halte uns auf dem Laufenden.«

»Natürlich. Ich komme wieder her, sobald ich kann.«

Bevor Thad über die Türschwelle trat, drückte Phil ihm die Schulter. »Pass auf dich auf. Die Kinder waren noch viel zu klein, um die Geister von all diesen Toten bändigen zu können. Sei also vorsichtig. In diesem Herrenhaus muss es vor Geistern jetzt nur so wimmeln.«

Thaddeus schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Wie, nein?«, hakte Phil stirnrunzelnd nach.

»Ich habe keine Ahnung, warum, aber trotz all der Toten gab es am Tatort nicht einen einzigen Geist.«

Kapitel 1


Dreizehn Jahre später

1. September

Ein Sonntagabend

Camren Hunt starrte in den Spiegel und zwei dunkelblaue Augen starrten zurück – aus einem schmalen Gesicht mit bleicher Haut, umrahmt von einem schwarzen Haarschopf, der sich nie richtig bändigen ließ, völlig egal, was er damit anstellte. Manche Totenbändiger wurden mit krassen Haarfarben geboren. Sue hatte schneeweißes Haar, das sie an Sky und Jules weitervererbt hatte. Ellas Haare hatten einen blaugrünen Farbton. Gabriels dagegen waren einfach nur dunkelblond, doch er hatte einen Freund, dessen Haare zartrosa und himmelblau waren.

Cam fuhr sich durch seinen eigenen struppigen Haarschopf und war froh, dass ihm so ein Farbwunder erspart geblieben war. Ella behauptete zwar steif und fest, dass seine Haare nicht einfach nur pechschwarz waren, sondern im Sonnenlicht einen mitternachtsblauen Schimmer hatten, doch ganz ehrlich, den hatte er noch nie gesehen.

Aber solange seine Haare nicht rosa und hellblau waren, war ihm alles egal.

Nur nicht auffallen.

Er betrachtete sich prüfend.

Er sah weder besonders gut noch schlecht aus.

Normal halt.

Durchschnittlich.

Für seine geschätzten siebzehn Jahre war er eher klein und laut Granny zu dürr, doch das war okay. Besser, als ein muskelbepackter Riese mit rosablauen Haaren. Klein und dürr konnte man unsichtbar in der Menge untertauchen. Oder zumindest hätte er das gekonnt, wenn da nicht die schwarzen Linien an seiner linken Schläfe gewesen wären. Die machten es ihm unmöglich, morgen, an seinem ersten Schultag in einer öffentlichen Schule, unsichtbar zu bleiben.

Bei jedem Totenbändiger zeichneten die Linien ein etwas anderes Muster und manche trugen sie rechts, andere links, doch immer gingen sie von der Schläfe aus und schlängelten sich hinunter bis zum Ohr.

Sie zu verstecken, war strengstens verboten.

Trotzdem gab es immer wieder Totenbändiger, die es taten. Auch wenn sich in den letzten Jahren in London einiges zum Besseren geändert hatte, gab es noch immer zu viel Ablehnung und dumme Vorurteile. Entgegen der Vorstellungen mancher ihrer Mitbürger ernährten Totenbändiger sich nämlich weder von der Energie der Toten noch von der der Lebenden. Sie brauchten die gleiche Nahrung wie alle anderen Menschen und für die mussten sie Geld verdienen. Genauso wie für die Miete, denn auch wenn Totenbändiger den Geistern und Wiedergängern nicht so schutzlos ausgeliefert waren wie der Rest der Bevölkerung, waren sie weder immun gegen sie noch unsterblich, was ein sicheres Zuhause äußerst erstrebenswert machte. Und dafür brauchte man einen Job. Doch es gab nur wenige Arbeitgeber, die Totenbändiger einstellten, deshalb blieb vielen oft keine andere Wahl, als ihre Zeichen zu verstecken, um Geld verdienen zu können.

Cam hatte noch keine Ahnung, wie er später sein Leben finanzieren wollte. Aber er wusste definitiv, dass er sein Zeichen dafür nicht verstecken würde. Früher oder später flog es immer auf und die Strafe dafür waren bis zu sechs Wochen Gefängnis. In eine enge Zelle gesperrt zu werden, war schlimmer als zu hungern oder auf der Straße leben zu müssen. Allein die bloße Vorstellung, irgendwo eingesperrt zu sein, ließ ihm schon kalten Schweiß ausbrechen und es fühlte sich an, als würde irgendetwas seine Brust zusammenquetschen und ihn kaum atmen lassen.

Seine Abneigung gegen geschlossene Räume war so schlimm, dass er selbst Nebeltage, an denen es zu gefährlich war, das Haus zu verlassen, nur schwer aushielt. Phil hatte ihm erklärt, dass seine Klaustrophobie vermutlich daher rührte, dass man ihn als kleines Kind in einer engen Kiste eingesperrt hatte. Irgendein Irrer hatte ihn und fünf andere Kinder gefangen gehalten und gequält, weil er Totenbändiger hasste. Gefasst worden war der Mistkerl leider nie.

Cam schaute sich im Spiegel in die Augen und versuchte wie so oft, irgendeine Erinnerung an damals zu finden.

Doch da war nichts.

Selbst an die erste Zeit hier bei den Hunts konnte er sich kaum erinnern.

Sue, Phil und Granny hatten ihm erzählt, dass er lange mit einer schweren Lungenentzündung krank gewesen war und schreckliche Angst gehabt hatte. Doch wovor er sich so sehr gefürchtet hatte, wusste Cam nicht. Selbst damals hatte er es nicht sagen können. Auch nicht, wenn er nachts schreiend aufgewacht war.

Irgendwann waren diese Träume zum Glück seltener geworden und quälten ihn nur noch bei Nebel oder Vollmond. Und garantiert in jeder Unheiligen Nacht. Immer, wenn die Toten rastloser und gefährlicher waren als ohnehin schon, machte ihn das unruhig und das schien seine Albträume zu begünstigen. Er konnte sich noch immer nicht daran erinnern, was er träumte. Er wachte zwar nicht mehr schreiend auf, dafür aber meist nassgeschwitzt und mit solcher Todesangst, dass er in den ersten Momenten nach dem Aufwachen wie gelähmt war.

Absolut ätzend.

Vor allem, weil der Mist wieder deutlich schlimmer geworden war.

Seit Beginn dieses verfluchten Unheiligen Jahres suchten die Albträume ihn wieder häufiger und ohne erkennbares Muster heim. Schlafen war die Hölle und die Schatten unter seinen Augen verrieten das ziemlich schonungslos.

 

Auch die verdammte Unruhe, die er sonst nur in Unheiligen Nächten spürte, war in den letzten Monaten ein zu häufiger Begleiter, der sich oft nur durch drastische Maßnahmen abschütteln ließ.

Aber hey, es hatte ja niemand behauptet, dass das Leben was für Weicheier war.

Seufzend drehte Cam den Wasserhahn auf und klatschte sich ein paar Ladungen kaltes Wasser ins Gesicht. Mit nassen Fingern fuhr er sich durch die Haare, änderte damit an ihrer Strubbeligkeit allerdings rein gar nichts. Sie standen jetzt bloß in andere Richtungen ab. Pechschwarz und kein bisschen mitternachtsblau.

Er schnitt sich selbst eine Grimasse, zog sein Handtuch vom Haken und trocknete sein Gesicht.

Es hätte wahnsinnig geholfen, wenn der Sommer nicht so kalt und verregnet gewesen wäre. Ein bisschen Sonnenbräune und schon wären die dämlichen Schatten unter seinen Augen jetzt vielleicht nicht ganz so auffällig.

Vielleicht sollte er sich von Sky oder Ella einen Eyeliner ausleihen. Dann konnte er auf coolen Gothic Boy machen. Da er eh nur schwarze Klamotten trug, wäre der Rest der Verwandlung wahrscheinlich gar nicht so schwer.

Mit der Schuluniform, die er ab morgen tragen musste, funktionierte der tolle Plan allerdings nicht wirklich und hätte ihn vermutlich eher wie einen trashigen Zombie aus irgendeinem peinlichen B-Movie aussehen lassen.

Außerdem war er einfach kein Goth.

Und er wollte auch gar keiner sein.

Er wollte einfach nur, dass man ihn morgen in Ruhe ließ.

Es klopfte.

»Ja?«

Gabriel streckte seinen Kopf zur Tür herein. »Hey Kleiner, will ich wissen, was du hier drin so ewig machst?«

Gabriel war der Einzige, der ihn noch Kleiner nennen durfte. Weil es nie abwertend gemeint war. Es war eher wie ein Spitzname, der haften geblieben war, weil Kleiner sein Name gewesen war, bevor Cam einen richtigen bekommen hatte.

Wie immer sah Gabriel verdammt gut aus – auf seine typisch lässig coole Art. Mit Jeans, Longsleeve, Boots und seiner schwarzen Lederjacke, ohne die er nie das Haus verließ.

»Ich übe schon mal für morgen, wenn ich mich vor den Mobbern der Schule auf dem Klo verstecken muss«, gab Cam sarkastisch zurück. »Ich hab nämlich keine Lust, mich in den nächstbesten Müllcontainer werfen zu lassen, weil irgendwelche Vollidioten die Vorstellung nicht ertragen können, dass jetzt ein paar Totenbändiger mit auf ihre Schule gehen.«

Gabriel hob eine Augenbraue. »Wow. Es geht doch nichts über eine optimistische Erwartungshaltung.«

»Optimismus ist total out. Der wurde eh immer überbewertet. Realismus mit einem ordentlichen Schuss Zynismus – das ist das Must-have, wenn man mit dem Leben klarkommen will.«

Blitzschnell nahm Gabriel ihn in den Schwitzkasten und strubbelte ihm durch die Haare. »Es erfüllt mein Herz immer wieder mit unbändiger Freude, zu sehen, wie du zu einem echten Sonnenschein heranwächst.«

Geschickt befreite Cam sich aus dem Griff mit ein paar Tricks, die Gabe ihm bei ihrem Selbstverteidigungstraining beigebracht hatte.

»Gut gemacht.« Anerkennend klopfte Gabriel ihm auf die Schulter. »Siehst du, du musst dich morgen nicht auf dem Klo verstecken. Wehr dich, wenn dir jemand blöd kommt.«

Sicher. Kommt bestimmt super an, wenn einer der Totenbändiger-Freaks gleich am ersten Tag in eine Schlägerei gerät. Vermutlich überlebe ich dann nicht mal bis zum Mittagessen.

Laut sagte Cam: »Musst du nicht zur Nachtschicht?«

Der abrupte Themenwechsel ließ Gabriel die Stirn runzeln, doch er ging trotzdem darauf ein. »Yep. Aber bevor ich mich um unsere ungeliebten paranormalen Mitbürger kümmere, wollte ich dir noch schnell viel Spaß für deinen ersten Schultag wünschen.«

»Ich glaube, unsere Definitionen von Spaß liegen Lichtjahre auseinander.«

Gabriel betrachtete ihn einen Moment lang und ließ seine flapsige Art dann fallen. »Hey, das wird schon. Das, was morgen passiert, ist ein riesiger Schritt für ein gemeinsames Miteinander ohne Angst und Diskriminierung. Stell dir nur mal vor, dass ein Totenbändigerkind, das morgen geboren wird, in ein paar Jahren ganz selbstverständlich mit allen anderen Kindern eingeschult werden kann, weil du, Jules und Ella bewiesen habt, dass gemeinsam unterrichtet zu werden, keine Gefahr darstellt. Damit bist du Teil von etwas unglaublich Wichtigem.«

Cam seufzte. »Ja, schon klar. Ich finde es ja auch super, dass Sue, Phil und Granny sich so für die Rechte der Totenbändiger einsetzen. Und für uns.«

»Aber?«

»Aber ich bin nicht scharf darauf, einer der Beweise zu sein, der zeigen soll, dass wir total harmlos und keine Gefahr für die Allgemeinheit sind.«

»Aber du bist total harmlos und keine Gefahr für die Allgemeinheit.«

Missmutig wandte Cam sich ab und kickte gegen den Korb, in dem sie ihre dreckige Wäsche sammelten. »Das weißt du nicht.«

Gabriel fasste ihn an der Schulter. »Hey, sieh mich an.«

Widerwillig drehte Cam sich zu ihm um und hob den Blick.

»Kein Vierjähriger kann zig Leuten die Kehlen durchschneiden. Schon gar nicht, ohne sich mit Blut zu besudeln. Oder wenn er in eine Holzkiste eingesperrt ist. Klar?« Er bohrte seinen Blick in Cams. »Ich hab dich in der Nacht gesehen, als du zu uns gekommen bist. Du warst nur Haut und Knochen und so krank und schwach, dass du tagelang nur geschlafen hast. Und deine Muskeln waren von der verdammten Holzkiste so verkümmert, dass du dich kaum auf den Beinen halten konntest, als du endlich aufgewacht bist. Du hättest niemandem irgendetwas antun können. Weder mit einem Messer noch mit deinen Kräften. Also rede dir nicht irgendwelchen Schwachsinn ein, verstanden?«

Eine Antwort blieb Cam erspart, weil sich draußen auf dem Flur Schritte näherten.

»Gabe? Wir müssen los.« Sky steckte ihren Kopf zur Tür herein. Wie immer standen ihre kinnlangen Haare wuschelig in alle Richtungen ab wie Büschel schneeweißer Ausrufezeichen. Sie trug enge schwarze Jeans, ein helles Top, Boots und die dunkelrote Cordjacke, die Ella ihr genäht hatte. Ihren Augen hatte sie einen dicken schwarzen Lidstrich verpasst und bei ihr sah es kein bisschen wie trashiger Zombie aus, sondern einfach nur cool.

»Oh, sorry, störe ich gerade einen wichtigen Brüder-Moment?«, fragte sie, als sie Gabe und Cam zusammen sah.

Gabriel dolchte seinen Blick noch einen Moment länger in Cam, dann klopfte er ihm auf die Schulter und schüttelte den Kopf. »Nein. Wir waren gerade fertig.«

»Prima. Dann lass jetzt mal die große Schwester ran.« Sky schob Gabriel zur Seite und zog Cam in ihre Arme. »Ich wünsch dir für morgen alles und nichts.«

Unvermittelt musste Cam lächeln.

Alles, was dich glücklich macht.

Nichts, was dich verzweifeln lässt.

Es war das, was sich die Menschen gegenseitig zur Julzeit, der dunkelsten und gefährlichsten Zeit des Jahres, wünschten.

Sky hatte verstanden, was dieser verdammte Schulanfang für ihn bedeutete.

Dankbar erwiderte er die Umarmung.

»Kopf hoch, okay?« Sie gab ihm einen flüchtigen Kuss auf die Stirn. »Sonst kann niemand deine hübschen Augen sehen. Und ich wette, mit denen wirst du in den nächsten Wochen so einige Herzen erobern.« Sie zwinkerte vielsagend.

Cam verzog das Gesicht.

Ja, klar. Funktionierte bei Jules ja auch ganz wundervoll – nicht.

Er strafte seine Schwester mit einem ironischen Blick.

Lachend boxte Gabriel ihm gegen die Schulter. »Okay, und falls das mit dem Herzen erobern nicht funktioniert, funkle sie einfach alle in Grund und Boden. Den Blick hast du nämlich perfekt drauf.«

Connor klopfte an die offen stehende Tür. »Hey Cam, alles Gute für morgen.« Er lächelte aufmunternd und nickte bedeutungsvoll Richtung Gabriel. »Und was immer dieser Chaot dir an tollen Ratschlägen mitgegeben hat – mach das Gegenteil.«

Empört wollte Gabriel einen passenden Kommentar zurückschießen, doch bevor er irgendwas sagen konnte, fuhr Connor ihm über den Mund und scheuchte ihn und Sky zur Tür.

»Spar dir den Atem, wir müssen los. Sonst kommen wir zu spät.«

Sky wandte sich zu ihm um, gab Connor einen Kuss und schnappte sich dabei den Autoschlüssel aus seiner Hand. »Nicht, wenn ich fahre.«

Kapitel 2


Egal zu welcher Tages- oder Nachtzeit, das Polizeirevier von Camden glich immer einem quirligen Ameisenhaufen. Einsatzteams kamen und gingen, Verdächtige wurden verhört, Zeugen befragt und überführte Täter warteten auf den Abtransport ins Gefängnis.

Geleitet wurde das Revier von Commander Jonathan Pratt, einem energiegeladenen Mitfünfziger, der zu den besten Polizisten ganz Londons zählte. Seit einer Schießerei, bei der ihn eine Kugel in den Rücken getroffen hatte, saß er im Rollstuhl und hatte deshalb den Dienst auf der Straße quittieren müssen. Jetzt ging er dafür ganz in seiner Rolle als Leiter des Camdener Polizeireviers auf und führte seine Leute mit harter, aber fairer Hand.

»Hi Betty!«

Gabriel, Connor und Sky stürmten zum Empfangstresen, an dem eine ältere Polizistin mit Argusaugen den Eingang des Reviers bewachte und sowohl für die Mitarbeiter als auch für die Besucher den Begrüßungszerberus gab.

»Die Sergeants Hunt und Fry.« Mit hochgezogener Augenbraue schüttelte Betty den Kopf. »Mal wieder gerade so auf den letzten Drücker pünktlich zum Dienst eingecheckt.« Sie vermerkte die Ankunft der drei in ihrem Computer.

»Das lag nur an den ganzen Sonntagsfahrern, die heute Abend unterwegs waren«, verteidigte Sky sich und war eigentlich sehr stolz darauf, dass sie es trotz dieser Schnecken auf den Straßen noch pünktlich hergeschafft hatten.

»Na, wow. Diese Entschuldigung hab ich ja schon ewig nicht mehr gehört«, meinte Betty sarkastisch. »Ich sollte mir ein Bingofeld mit typischen Ausreden zulegen und sobald ich eine Reihe voll habe, schuldet ihr mir Tee, Sandwiches und Scones. Und zwar die guten von Fred’s. Nicht irgendeinen ungenießbaren Fließbandmüll.«

»Ehm … Granny lässt dich schön grüßen«, lenkte Gabriel das Gespräch schnell in eine andere Richtung und schenkte ihr ein charmantes Lächeln. »Sie freut sich auf euer Squashspiel am Dienstag.«

»Lenk nicht ab, junger Mann! Die Bingo-Idee ist brillant.« Eifrig gab Betty etwas in ihren Computer ein. »Und dieses Lächeln ist bei mir sinnlos«, schob sie hinterher, doch alle drei sahen, dass ihre Mundwinkel verräterisch zuckten. »Aber bestellt eurer Granny einen lieben Gruß zurück. Ich freue mich auch.«

Sie betätigte den Buzzer, der die Tür in der schusssicheren Glasfront öffnete, die den Empfangsbereich vom Rest des Reviers trennte. Panzerglas hielt irdische Kugeln ab, eiserne Schwellen an den Türen und Gitter vor den Fenstern schützten gegen paranormale Eindringlinge. Das Revier war gut gesichert und in den knapp drei Jahren, in denen Gabriel und Sky hier arbeiteten, hatte es noch nie irgendwelche Zwischenfälle gegeben. Thaddeus Pearce, der beste Freund ihres Vaters, hatte sich damals für sie stark gemacht. Die Polizei hatte zwar eigene Mittel und Wege, Geister und Wiedergänger einzufangen und unschädlich zu machen, doch Totenbändiger mit an Bord zu haben, wenn man Tatorte von Gewaltverbrechen untersuchen musste, war ein ungemeiner Vorteil. Frisch entstandene Geister zu eliminieren war für einen Totenbändiger keine große Herausforderung und so sparte ihr Einsatz eine Menge Steuergelder, denn die Mittel zum Einfangen und Vernichten von Geistern waren sündhaft teuer.

Fast jedes Polizeirevier in der Stadt hatte eine Einheit, die sich um Angriffe von Geistern und Wiedergängern kümmerte. London war kein einfaches Pflaster. Viele Menschen auf engem Raum, da stieg die Anzahl der Toten, die durch Verbrechen oder Unfälle gewaltsam aus dem Leben gerissen wurden, stetig an. Geister entstanden, die ebenfalls Menschen töteten und so für noch mehr Geister sorgten. Dem konnte man nur mit genügend Personal entgegenwirken, daher hatte die Polizei schließlich die Zustimmung des Stadtrates bekommen, auch Totenbändiger für diese Aufgabe einstellen zu dürfen.

Seitdem waren fast drei Jahre vergangen und mittlerweile arbeitete in beinahe jeder Spuk Squad mindestens ein Totenbändiger. Es war ein harter Kampf gewesen, doch die meisten Polizisten hatten ihre Totenbändiger-Kollegen inzwischen schätzen gelernt oder respektierten sie zumindest insoweit, als dass sie froh waren, sich nicht selbst mit den Geistern und Wiedergängern herumschlagen zu müssen, die die Bürger von London bedrohten.

 

Connor, Sky und Gabriel traten durch die Glastür in den Hauptraum des Polizeireviers. Hinter dem Empfangstresen lag das zentrale Großraumbüro der Innendienstler, die Recherchen für die einzelnen Teams betrieben, jede Menge Papierkram für die Bosse erledigten und, falls nötig, die verschiedenen Einheiten und Einsätze koordinierten. Treppen führten hinauf zu den Büros der einzelnen Abteilungen und hinunter zu Arrestzellen, Verhörräumen und Ausrüstungskammer.

Sky wollte sich gerade zur Treppe wenden, um in den ersten Stock hinaufzusteigen, als eine Stimme sie zurückhielt.

»Hey, Sky! Wow! Du siehst heute ja wieder echt heiß aus.« Einer der jüngeren Innendienstler lehnte sich breitbeinig in seinem Schreibtischstuhl zurück, fasste sich in den Schritt und zwinkerte ihr bedeutungsschwer zu.

Sky rang sich ein müdes Lächeln ab. »Wow, Theo. Prince Charming. Wie immer.«

»Tja, wer kann, der kann. Heute mal Lust auf ein bisschen Spaß nach der Schicht?«

Er war hartnäckig, das musste sie ihm lassen. Trotzdem ging er ihr mit seinen plumpen Anmachversuchen mittlerweile tierisch auf den Keks.

»Hatte ich das jemals? Was genau braucht es, damit du endlich schnallst, dass ich mit Connor zusammen bin? Seit ungefähr einem Jahr. Er wohnt sogar bei mir und meiner chaotischen Familie. Viel ernster kann eine Beziehung kaum sein. Also, was brauchst du noch, um das zu kapieren? Eine Leuchtreklame? Oder soll ich es dir irgendwo eintätowieren?«

Theo blickte kurz zu Connor, hob dann aber nur leichthin die Schultern. »Ich hab kapiert, dass ihr zusammen seid. Na und? Ist doch kein Problem, oder? Ihr Totenbändiger treibt es doch mit jedem. Männlich, weiblich, inter, trans, fluid und was immer da draußen noch so rumläuft – ist euch doch alles egal. Also könnten wir zwei ja auch mal …«

Er bedachte sie mit einem Lächeln, das er vermutlich für unwiderstehlich hielt, und machte ein paar eindeutige Hüftbewegungen.

Sky rollte die Augen und fragte sich, warum ausgerechnet sie diesen widerlichen Trottel auf den Pfad der Erkenntnis führen musste. Sie stiefelte zu seinem Schreibtisch, kickte seinen Papierkorb zur Seite und setzte sich halbschräg auf die Tischplatte.

»Okay, erst mal: Bravo, Theo, gut gemacht.« Sie deutete auf seinen Computer. »Du hast erfolgreich gegoogelt, dass Totenbändiger pansexuell sind.«

Er grinste breit. »Oh, yeah. Und das klingt echt heiß.« Lüsternd ließ er seinen Blick über ihren Körper wandern.

»Nur leider hast du dabei überhaupt nichts verstanden.«

»Hä?«

Sie änderte ihren Tonfall, als würde sie mit einem unterbelichteten Dreijährigen sprechen. »Ja, Gender ist uns völlig egal und ja, das bedeutet, wir können prinzipiell mit jedem Spaß haben. Und das haben etliche Totenbändiger auch. Genauso wie manch andere Queers oder Heteros stehen einige von uns auf unverbindlichen Sex. Aber, Überraschung! Manche von uns ticken auch völlig anders. Die stehen nicht auf schnellen Sex, sondern auf feste Beziehungen. Ich zum Beispiel. Welche Genitalien ein Mensch hat, ist mir schnuppe, aber ich steh total auf Treue und Verlässlichkeit. Und ich verliebe mich in den Charakter, die Persönlichkeit und die Seele eines Menschen. Da steh ich voll drauf und wenn die passen, dann macht mich das so richtig an. Und weißt du, das ist genau der Grund, warum aus uns beiden selbst dann nichts werden würde, wenn du der letzte Mensch auf Erden wärst. Dein Charakter ist nämlich unterirdisch, deine Persönlichkeit widerlich und deine Seele hab ich noch nie gesehen.« Sie bohrte ihren Blick in seinen. »Message jetzt angekommen?«

Wutschnaubend sprang Theo von seinem Stuhl auf. »Bitch!«

»Gut, das nehme ich mal als ein Ja.« Sky rutschte vom Schreibtisch und stieß ihm ihren Finger gegen die Brust. »Und spar dir in Zukunft deine dämlichen Sprüche, klar?«

Damit ließ sie ihn stehen, ging zu Connor und schnappte sich dessen Hand.

Als sie gemeinsam die Treppen hinaufstiegen, rief Theo ihnen hasserfüllt hinterher: »Connor, dir ist schon klar, dass dieses Miststück dich irgendwann in den Wind schießt, weil du alleine ihr nie ausreichen wirst?«

Mitleidig schüttelte Connor den Kopf. »Der schnallt es wirklich nicht.«

Sky drückte seine Hand. »Solange die wichtigen Leute es schnallen, ist mir scheißegal, was so ein Vollidiot wie Theo denkt.«

Sie ignorierten ihn entsprechend und stiegen weiter die Treppe hinauf.

Gabriel sah den beiden hinterher und schlenderte dann zu Theos Schreibtisch.

»Hey, Horny. Da du ja bei Sky offensichtlich nicht landen kannst, wie wäre es denn nach der Schicht mit uns beiden?« Er zwinkerte ihm verschwörerisch zu. »Ich bin für unverbindlichen Spaß gerne mal zu haben und ich könnte Dinge mit dir anstellen, von denen du bisher nicht mal in deinen kühnsten Träumen fantasiert hast.« Er ließ seinen Blick über Theos Körper wandern und leckte sich provozierend über die Lippen. »Na? Wie wär’s?«

Angewidert wich Theo vor ihm zurück. »Spinnst du? Mann, ich steh nicht auf Kerle! Also guck weg und hör auf, mich so anzugraben. Das ist ekelhaft!«

Schlagartig änderte sich Gabriels Gesichtsausdruck. »Ach? Du findest es ekelhaft, wenn dich jemand mit widerlichen Blicken auszieht?« Schneidende Kälte lag in seiner Stimme. »Na, dann weißt du ja jetzt, wie Sky sich gerade gefühlt hat. Oder jede andere Frau, bei der du deine abartige Anmachtour ablässt.«

»Du bist ein verdammtes Arschloch«, fauchte Theo.

»Au contraire, das Arschloch bist du. Und wenn du meine Schwester noch einmal blöd anmachst oder auch nur ansatzweise schräg in ihre Richtung guckst, mach ich dich fertig, klar?«

Theo hob eine Augenbraue. »Ernsthaft, du willst mir drohen?«

»Auf jeden Fall.«

Sofort kehrte Theos Selbstsicherheit zurück und ein niederträchtiges Lächeln umspielte seine Lippen. »Du weißt, dass ich dich dann jetzt erschießen kann, du Freak. Jeder darf einen von deiner Sorte töten, wenn er sich von ihm bedroht fühlt. Völlig straffrei.«

Gabriel erwiderte das Lächeln unbeeindruckt. »Natürlich. Aber dir ist schon klar, dass ich zum Geist werde, wenn du mich tötest, ja? Bist du schon mal gegen den Geist eines Totenbändigers angetreten? Ach nein, warte. Hast du überhaupt schon mal gegen einen Geist gekämpft? Wahrscheinlich nicht, oder? Wird schließlich seine Gründe haben, warum du Sesselfurzer den sicheren Innendienst gewählt hast.« Er bedachte Theo mit einem letzten abschätzigen Blick, dann stand er vom Schreibtisch auf und lief zur Treppe, ohne sich noch einmal umzudrehen. »Schöne Schicht noch, Theo.«

»Leck mich!«

»Nein, ich denke nicht. Ich stehe zwar auf unverbindlichen Sex, aber das heißt noch lange nicht, dass ich nicht wählerisch bin.«

Gabriel stieg die Stufen in den ersten Stock hinauf und öffnete die Tür zu dem Büro, das er sich mit Sky und Connor teilte. Vier Schreibtische standen sich jeweils zu zweit gegenüber. Außerdem gab es ein paar Aktenschränke und ein Sideboard mit Kaffeemaschine, Wasserkocher und einem kleinen Kühlschrank. Einen der Arbeitsbereiche teilten sich Connor und Sky, über die anderen beiden Tische hatte Gabriel sich großzügig ausgebreitet. Angeblich sollten sie irgendwann eine Verstärkung ins Team bekommen, doch bisher ließ die auf sich warten. Die Begeisterung von Absolventen der Polizeiakademie, sich den Einheiten zur Bekämpfung von paranormalen Bedrohungen anzuschließen, hielt sich in Grenzen. Kaum einer meldete sich freiwillig für den Dienst bei den Spuk Squads. Nicht einmal die Aussicht, schon nach einem Jahr auf den Rang eines Sergeants befördert zu werden, konnte locken. Der Job der Spuks galt als gefährlich, ständige Nachtdienste machten ihn unattraktiv und es gab immer noch zu viele Menschen, denen die Vorstellung nicht gefiel, eng mit Totenbändigern zusammenarbeiten zu müssen.