Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 15


Sonntag, 8. September

Nette Hütte – wenn man auf diese alten Kästen steht.« Gabriel stoppte den Familienkombi vor einem hohen schwarzen Eisentor, das die Weiterfahrt versperrte. Dahinter lag die Auffahrt, an deren Ende das altehrwürde Haupthaus der Akademie in den grauen Himmel ragte. Der Regen gönnte sich eine Pause, doch die Wolkenberge, die sich von Westen auf die Stadt zuschoben, ließen erahnen, dass diese Pause nicht allzu lange andauern würde.

»Aussehen ist nicht alles, glaub mir«, brummte Jaz vom Rücksitz. Sie verstand die Notwendigkeit, noch einmal hierher zu fahren. Trotzdem fühlte es sich nicht gut an, wieder hier zu sein, und der Anblick des alten Gebäudes erschien ihr wie eine Last, die sich unsichtbar auf ihre Schultern legte und sie niederdrücken wollte. »Im Winter ist es in dem Bau arschkalt.«

»Na, den nächsten musst du ja zum Glück nicht mehr hier verbringen.« Wie Gabriel und Sky war Ella neugierig auf die Akademie gewesen und wollte Jaz dabei helfen, ihr Zeug zusammenzupacken.

Gabriel ließ die Scheibe des Fahrerfensters herunter und drückte den Klingelknopf der Gegensprechanlage, die in die Mauer neben dem Tor eingebaut war. Es dauerte eine kleine Weile, dann knackte es im Lautsprecher.

»Ja bitte?«

»Hier ist die Hunt-Familie. Wir würden gerne mit Cornelius Carlton sprechen.«

»Haben Sie einen Termin?«

»Nein. Aber –«

»Master Carlton ist ein vielbeschäftigter Mann. Besuche nur mit Termin, vor allem an einem Sonntag. Tut mir leid.«

Sue beugte sich auf dem Beifahrersitz vor, um sich für die Gegensprechanlage besser hörbar zu machen. »Sagen Sie ihm, Susan Hunt ist hier. Ich möchte mit ihm über Jazlin Two sprechen. Sie ist ebenfalls hier. Ich bin mir sicher, Master Carlton wird uns auch ohne Termin sehen wollen.«

»Ich frage nach. Bitte warten Sie.«

Es knackte erneut im Lautsprecher, dann herrschte Stille.

»Wie gut kennst du diesen Carlton eigentlich?«, fragte Sky. »Du nennst ihn meistens beim Vornamen. Kennt ihr euch von früher? Hier aus der Akademie?«

Sky schaffte es nicht oft zu den Versammlungen der Gilde, doch immer wenn sie dort gewesen war, hatte es keinen Kontakt zwischen ihre Mutter und dem Leiter der Akademie gegeben. Allerdings waren auf diesen Versammlungen auch immer etliche Leute, da bildeten sich unweigerlich verschiedene Interessensgruppen und es war offensichtlich, dass Carlton und ihre Mum sich in sehr unterschiedlichen Kreisen bewegten.

Sue nickte. »Cornelius war in meinem Jahrgang und der Sohn des damaligen Schulleiters. Er war ein selbstgerechter, machtgieriger Mistkerl, der ständig andere drangsaliert hat und nicht ausstehen konnte, wenn man ihm nicht genügend Respekt zollte oder er von seinen Mitschülern nicht das bekam, was er wollte.«

»Klingt ja super sympathisch.«

»Klingt vor allem so, als würde das bei der Familie in den Genen liegen«, knurrte Jaz. »Blaine, Carltons Sohn, ist genauso drauf. Der mobbt ständig andere und spielt sich als King vom Campus auf. Und als sein Vater mich nach Newfield schicken wollte, hat er großzügig angeboten, mich vorher noch zu schwängern, damit mir die Ehre zuteilwird, meine Totenbändigerfähigkeiten mit seinen zu vereinen und so besonders vielversprechenden Nachwuchs zu gebären.«

Angewidert verzog Ella das Gesicht. »Echt jetzt? Geht’s noch?«

Sue hingegen schnaubte wütend. »Wie der Vater, so der Sohn. Unglaublich. Hat dieser Blaine dich angefasst?«

»Nein. Ich schätze, mein Fluchtplan hat seine Pläne durchkreuzt.«

»Gut.« Sue wirkte erleichtert.

Gabriel musterte seine Mutter einen Moment lang aus schmalen Augenschlitzen. »Was meinst du damit: Wie der Vater, so der Sohn? Hat dieser Carlton dich angefasst, als ihr hier zusammen auf der Akademie wart?«

Sue atmete tief durch.

Das reichte Gabriel bereits als Antwort. »Ernsthaft? Dieses Arschloch hat dich vergewaltigt?!«

Sky und Ella starrten entsetzt zu ihrer Mutter.

»Mum?«

Sue schüttelte den Kopf. »Nein. Er hat es versucht, aber bitter bereut. Er hatte vorher widerliche Andeutungen gemacht und ich konnte mir denken, was er vorhat, als ich nein gesagt hab. Als er mich dann packen wollte, war ich vorbereitet und hab ihm auf einen Schlag so viel Lebensenergie genommen, dass er drei Tage lang bewusstlos war, obwohl sein Vater und ein paar andere ihm immer wieder Lebensenergie zurückgegeben haben.«

»Sehr gut.« Tiefste Genugtuung lag in Gabriels Stimme. »Auch wenn ich wette, dass die drei Tage Knock-out seine einzige Bestrafung waren, stimmt’s?«

Sue nickte bitter. »Ich bekam dafür für jeden Tag, den er bewusstlos war, eine Woche in der Arrestzelle.«

Gabriels Hände krallten sich um das Lenkrad und seine Gesichtsmuskeln zeigten deutlich, was er davon hielt.

Jaz dagegen war nicht sonderlich überrascht. »Was passierte, als du aus dem Arrest herausgekommen bist?«

»Während meiner Zeit in der Zelle hatten die Sommerferien begonnen«, antwortete Sue. »Damit war meine Schulzeit offiziell beendet. Ich hatte meinen Abschluss, war achtzehn und konnte gehen. Und das hab ich gemacht. Noch am selben Tag.«

»Und sie haben dich einfach gehen lassen?«

»Sie haben mir zur Strafe für meine Tat all meine Ersparnisse abgenommen, aber ja, dann haben sie mich gehen lassen. Ich glaube, sie wollten mich möglichst schnell loswerden, damit ich nicht herumerzählen konnte, was passiert war. Nicht, weil sie Angst hatten, dass bekannt wird, dass Cornelius versucht hatte, mich zu vergewaltigen, sondern weil ich stärker gewesen war als er. Diese Schmach sollte nicht publik werden. Offiziell lag Cornelius damals drei Tage mit einem üblen Magen-Darm-Virus flach. Und da ich sowieso ständig wegen irgendwas im Arrest saß, hat sich keiner groß gewundert, dass ich mal wieder in der Zelle hocken musste.«

Sie verschwieg ihren Kindern Hass und Wut, die Cornelius ihr bei ihrem Abschied entgegengebracht hat – und seine Drohung, dass sie eines Tages bitter bereuen würde, ihn abgewiesen und fast getötet zu haben.

Sue schloss kurz die Augen und verdrängte die Erinnerung daran, wie kurz davor sie damals gestanden hatte, ihm tatsächlich das Leben zu nehmen. Wie verführerisch es gewesen war, Hass, Wut und Angst nachzugeben.

Eine Hand legte sich auf ihre Schulter. »Es tut mir leid, was du hier durchmachen musstet.« Ella sah durch das Eisentor zur Akademie hinüber. »Und danke, dass ich nicht hier aufwachsen musste.«

»Ja«, murmelte Gabriel ebenfalls. »Danke, Mum.«

Sue lächelte, drückte Ellas Hand und klopfte Gabriel liebevoll auf den Oberschenkel. »Alles andere hätte ich nicht übers Herz gebracht.«

Gabriel nickte knapp. Sue war gerade zwanzig gewesen, als seine leiblichen Eltern ihn in der Klinik zurückgelassen hatten. Gabriel hatte Sue und Phil immer dafür bewundert, so jung bereits die Verantwortung für ein Kind zu übernehmen. Noch dazu eines, das nicht ihr eigenes war. Auch wenn er gewusst hatte, dass seine Mum ein großes Herz besaß und sie nicht glücklich in der Akademie gewesen war, verstand er jetzt zum ersten Mal wirklich, wie sehr sie diesen Ort hassen musste und warum sie ihre Kinder von hier fernhielt. Die Vorstellung, dass Ella oder Cam hier hätten aufwachsen müssen, war unerträglich. Und Gabriel war sich ziemlich sicher, dass es Tote gegeben hätte, hätte er selbst hier leben müssen.

Sue wandte sich zum Rücksitz um und schenkte Jaz ein aufmunterndes Lächeln. »Keine Sorge. Ich verspreche dir, für dich wird sich das Thema Akademie – und Newfield – heute auch erledigen.«

»Ja, allerdings.« Finster blickte Gabriel zum Gebäude hinüber. »Eigentlich sollte man den ganzen Laden dicht machen.«

Sky seufzte. »Aber wo sollen dann die ungewollten Kinder hin? Und wo sollen sie zur Schule gehen, solange Totenbändiger noch nicht überall auf öffentliche Schulen gehen dürfen? Wo sollen die Kids lernen, wie ihre Kräfte funktionieren? Solange die Gesellschaft sich nicht ändert, brauchen wir ein Internat wie die Akademie.«

Sue nickte. »Die Akademie an sich ist auch nicht das Problem. Das Problem sind die Schulleitung und die Einstellungen, die die Lehrkräfte haben.«

»Yep, sehe ich genauso.« Sky warf ihrer Mum über den Rückspiegel einen vielsagenden Blick zu. »Noch ein Grund mehr, dass du um eine Führungsposition in der Gilde und den Sitz im Stadtrat kämpfen solltest. Mit genug Einfluss kannst du sicher dafür sorgen, dass sich auch hier in der Akademie einiges ändert.«

Sue lachte auf, doch bevor sie etwas antworten konnte, knackte es im Lautsprecher der Gegensprechanlage und die Torflügel schwangen auf.

»Master Carlton empfängt Sie.«

»Wie überaus großzügig von ihm«, knurrte Gabriel sarkastisch und ließ den Wagen anrollen. »Ich kann es kaum erwarten, diesen großartigen Menschen persönlich kennenzulernen.«

Kapitel 16


Susan. Wie angenehm, dich mal in einem kleineren Rahmen zu treffen.« Cornelius Carlton empfing sie mit weltmännischem Lächeln in seinem Büro. Er trug einen teuren Anzug mit Schuhen, die auf Hochglanz poliert waren, und seine dunklen Haare waren makellos zurückgegelt. »Bei den Versammlungen der Gilde bin ich immer so eingespannt, dass ich bisher leider nie die Zeit für ein paar persönliche Worte mit dir gefunden haben.«

 

Während er hinter seinem edlen Schreibtisch hervortrat, sah er in die Runde und bedachte alle außer Jaz mit einem ähnlichen Lächeln wie Sue.

»Und wie schön, dass du gleich mit einer ganzen Entourage hier ankommst, um Jazlin zurückzubringen. Einige deiner Kinder, nehme ich an? Ich habe gehört, du hast mittlerweile etliche zusammengesammelt.« Er fixierte sich wieder auf Sue, nachdem er besonders Gabriel und Sky einer eingehenden Musterung unterzogen hatte. »Traust du dich etwa nicht alleine hierher?«

Seine Augen blitzten herausfordernd, doch Sue ließ sich nicht provozieren.

»Sparen wir uns doch den Smalltalk, Cornelius. Wir wissen beide, dass wir keine guten Erinnerungen an unser letztes Zusammentreffen in einem privateren Rahmen haben, nicht wahr?« Sie bedachte ihn mit einem zynischen kleinen Lächeln, wurde dann aber sofort wieder sachlich. »Also kommen wir gleich zum Punkt. Ich bin keinesfalls hier, um Jaz zurückzubringen. Sie will nicht länger hier in der Akademie leben, sondern stattdessen in meiner Familie. Deshalb möchte ich, dass du mir ihre Unterlagen aushändigst: Geburtsurkunde, Übergabepapiere der Klinik, ihre bisherigen Zeugnisse und falls vorhanden ärztliche Untersuchungsbefunde – einfach alles.« Sie deutete kurz zu Jaz und Ella, die Rucksäcke und eine Reisetasche bei sich trugen. »Während du die Unterlagen zusammensuchst und mir die Vormundschaft für Jaz überträgst, holen die zwei Jaz’ übrige Sachen aus ihrem Zimmer. Oder hast du die schon einpacken und wegräumen lassen?«

Cornelius’ Augenbrauen waren während Sues Ansage nach oben gewandert. »Und du denkst, ich würde deinen Forderungen nachkommen, weil …?« Der spöttische Unterton in seiner Stimme war nicht zu überhören.

Sue blieb trotzdem weiter ruhig. »Weil Jaz alt genug ist, selbst zu entscheiden, wo und wie sie leben möchte. Und dass dieser Ort nicht länger die Akademie ist, hat sie durch ihr Weglaufen sehr anschaulich deutlich gemacht.«

Cornelius blickte kurz zu Jaz, seufzte dann übertrieben und schlenderte zurück hinter seinen Schreibtisch.

»Du magst recht damit haben, dass die Akademie nicht der richtige Ort für Jazlin ist. Sie war schon immer aufmüpfig und unberechenbar. Ihre Kräfte sind im obersten Spektrum, aber sie kontrolliert sich nicht ausreichend und das ist gefährlich. Besonders, weil sie eine Einzelgängerin ist, die es während der gesamten Zeit, die sie hier bei uns lebte, nicht geschafft hat, engere Bindungen zu ihren Mitschülern einzugehen.«

Jaz ballte die Fäuste und musste sich arg zusammenreißen, um das Versprechen zu halten, das Sue ihr abgenommen hatte: sich nicht reizen zu lassen.

Doch das war gerade verdammt schwer.

»Dass Jaz in der Akademie nicht richtig aufgehoben ist, haben wir schon selbst erkannt«, fuhr Carlton fort und sorgte damit nur dafür, dass Jaz sich noch mehr zusammenreißen musste, um nicht vor Wut zu platzen. »Deshalb wollen wir sie nach Newfield schicken. Eine neue Gemeinschaft mit neuen Aufgaben – wir sind bereit, ihr dort eine zweite Chance zu geben.«

»Es ist ja wirklich ganz herzerwärmend, wie rührend Sie um das Wohlergehen Ihrer Schüler besorgt sind.« Gabriel beschränkte seinen Spott nicht nur auf subtilen Unterton, sondern ließ ihn gleich Klartext sprechen. »Aber Jaz will nicht auf diese Farm. Trifft sich also hervorragend, dass wir ihr eine Alternative bieten können, die ihr deutlich besser gefällt. Und keine Sorge: Wenn Jaz bei Ihnen aufmüpfig gewesen ist, wird sie bei uns bestens in die Familie passen. Also händigen Sie meiner Mutter jetzt bitte alle Unterlagen aus, die Sie von Jaz haben.«

»Sonst was?« Cornelius bohrte seinen Blick in Gabriel und in seiner Stimme lag plötzlich schneidende Kälte.

»Sonst werden wir nächste Woche in der Gildenversammlung zur Sprache bringen, dass du Jaz gegen ihren Willen nach Newfield bringen lassen wolltest, und dafür plädieren, dass man auf der Farm vielleicht mal nachsieht, bei wie vielen der Bewohnern dort das auch der Fall gewesen ist«, antwortete Sue genauso eisig. »Besonders, bei jungen Mädchen, denen man erzählt, wie toll Schwangerschaften sind und welch wertvollen Beitrag sie leisten, wenn sie dafür sorgen, dass unser Gemeinschaft wächst. Ich glaube nicht, dass das gut ankäme – weder in unserer Gilde noch in der breiten Öffentlichkeit – jetzt, da du möglichst viele Leute von dir überzeugen willst, um den Sitz im Stadtrat zu bekommen. Willst du das also wirklich riskieren? Oder gibst du mir einfach die Unterlagen und unterschreibst die Übertragung der Vormundschaft?«

Cornelius lächelte selbstgefällig und schüttelte den Kopf. »Jazlin ist eine respektlose, unkontrollierbare Unruhestifterin. Jedes zweite Wort aus ihrem Mund ist gelogen und sie ist eine Diebin. Ich glaube nicht, dass unsere Gemeinschaft schlecht von mir denken wird, wenn ich bereit bin, einem Mädchen wie ihr in Newfield eine neue Chance zu geben.«

»Die Anschuldigung bezüglich des Diebstals bezieht sich vermutlich hierauf?«

Sue zog den kleinen Briefbeschwerer aus ihrer Jackentasche und legte ihn auf den protzigen Schreibtisch.

»Es war natürlich nicht in Ordnung, dass Jaz ihn mitgenommen hat. Aber solltest du sie vor der Gilde wirklich dafür anklagen wollen, wirken sich die Umstände, dass sie ihn genommen hat, als sie von diesem Ort fliehen wollte, mit Sicherheit mildernd aus. Genauso, dass sie ihn heute freiwillig, ohne dazu aufgefordert werden zu müssen, zurückgegeben hat. Somit ist der Akademie keinerlei Schaden entstanden. Und solltest du auf eine Entschuldigung bestehen, ist Jaz dazu ebenfalls bereit.«

Cornelius warf einen giftigen Blick von ihr zu Jaz.

»Aber da wir gerade dabei sind«, schaltete sich nun auch Sky ins Gespräch ein. »Wenn Jaz eine so schreckliche Person ist, wie Sie es hier gerade darstellen, warum ist es Ihnen dann so wahnsinnig wichtig, sich weiter mit ihr abzugeben? Sollten Sie nicht froh sein, dass Sie sich nicht länger mit ihr herumärgern müssen? Meiner Mutter die Vormundschaft für sie zu geben, ist da doch eigentlich die beste Lösung – für beide Seiten. Es sei denn, Sie können nicht verlieren. Oder können Sie es nicht ertragen, die Macht, die Sie über einen jungen Menschen haben, abzugeben? Dann verlassen Sie sich darauf: Sollten die Leute in der nächsten Gildenversammlung das nicht von alleine sehen, werden Gabriel, ich und ein paar unserer Freunde schon dafür sorgen, dass es alle verstehen.«

Cornelius’ Augen blitzten, als er Sky eingehend musterte. Etwas Wölfisches, Hungriges lag in seinem Blick. »Du bist unverkennbar die Tochter deiner Mutter.«

»Und darauf bin ich stolz. Also übergeben Sie ihr Jaz’ Unterlagen und übertragen Sie ihr die Vormundschaft.«

»Nein.« Die schneidende Kälte war zurück in seinem Blick.

»Dann werde ich auf der nächsten Gildenversammlung nicht nur öffentlich machen, wie du mit Jaz umgehst, ich werde auch erzählen, auf welche Weise du mich kurz vor unserem Abschluss dazu überreden wolltest, einen wertvollen Beitrag für unsere Gemeinschaft zu leisten, weil die Vereinigung unserer Fähigkeiten sagenhaften Nachwuchs hervorgebracht hätte.« Sue bohrte ihren Blick in seinen.

Einen Augenblick lang verzerrte Wut sein Gesicht, dann lachte Cornelius jedoch bloß abfällig auf. »So einer Schande würdest du dich wirklich aussetzen, nur um ein Mädchen bei dir aufzunehmen, das du kaum kennst? Ich glaube nicht.«

»Welche Schande?«, fragte Sue völlig ruhig. »Du hast versucht, mich zu vergewaltigen, nachdem ich dich zurückgewiesen hatte. Und als ich mich gegen deinen Angriff verteidigt habe, war ich die deutlich Stärkere von uns beiden, denn es warst du, der für ganze drei Tage im Koma gelandet ist, nicht ich. Ich sehe hier Scham und Schande also nur auf einer Seite und das ist nicht meine. Damals hätten die Leute das vielleicht noch nicht so gesehen. Aber heute? Willst du es wirklich darauf ankommen lassen?«

Cornelius presste seine Lippen zu zwei schmalen Linien zusammen.

»Und wer weiß, wer sich dann womöglich noch meldet?«, fuhr Sue ungerührt fort. »Dass sowohl ich als auch Jaz genötigt werden sollten, wertvollen Nachwuchs zu zeugen – das könnte immerhin auch nur die Spitze des Eisbergs sein.«

In Cornelius’ Augen tobte die Wut. »Nichts davon kannst du beweisen. Es steht nur dein Wort gegen meines. Und wer genießt wohl mehr Ansehen und Vertrauen in unserer Gemeinschaft? Du oder ich?«

»Mag sein«, meinte Sue leichthin. »Trotzdem wird es für Unruhe sorgen, selbst wenn viele es vielleicht nur als böses Gerücht abtun. Das kann dich wertvolle Stimmen kosten. Und um dich bei deinen eigenen Worten zu nehmen: Willst du das wirklich riskieren – für ein Mädchen wie Jaz?«

Sie zog einen Umschlag aus ihrer Tasche und legte ihn neben den Briefbeschwerer auf den Schreibtisch.

»Unterschreib die Übertragung der Vormundschaft. Der Brief wurde von meinem Kontakt beim Jugendamt aufgesetzt, der alle Vermittlungen von ungewollten Totenbändigerbabys in den letzten Jahren für mich und ein paar andere Klinikwächter rechtlich hieb und stichfest gemacht hat. Und ja, er ist auch ein Totenbändiger. Es mag dich überraschen, aber es gibt in unserer Gemeinschaft so einige, die daran arbeiten, dass möglichst wenige Kinder unter deinen Fittichen landen. Unterschätze uns also nicht.«

Sie dolchte ihren Blick noch einen Moment länger in seinen, dann wandte sie sich zu Jaz und Ella um. »Geht und holt Jaz’ Sachen. Wir sind hier gleich fertig.«

Die beiden nickten knapp und Ella folgte Jaz hinaus auf den Flur.

»Wow.« Jaz blies die Backen auf und ließ die Luft raus. »Deine Mum ist unglaublich.«

»Ja, sie hasste Leute, die ihre Machtposition ausnutzen.« Ella folgte Jaz den Gang entlang. »Und Carlton ist ein widerliches Arschloch. Und gruselig. Ich bin froh, dass Gabriel und Sky mitgekommen sind und Mum nicht mit ihm allein sein muss. Nicht, dass Mum sich nicht wehren könnte, aber mit Gabriel und Sky an ihrer Seite, traut dieser Mistkerl sich hoffentlich erst gar nichts.«

Jaz nickte. »Ich hab Carlton schon oft herablassend und wütend gesehen, aber so wie er deine Mum gerade angesehen hat … Ich glaube, er hasst sie wirklich. Aber deine Mum rockt. Und zwar mächtig.«

Ella lächelte stolz. »Ja, das tut sie. Beeilen wir uns trotzdem, okay? Ich glaube, es ist ganz gut, wenn wir hier so schnell wie möglich verschwinden können.«

Kapitel 17


Warum ist hier eigentlich kein Mensch?«, wunderte Ella sich, als sie in einen weiteren leeren Flur einbogen. »Für eine Schule ist hier ziemlich wenig los. Sieht eher aus wie ein Museum oder wie diese Schlösser und Herrenhäuser, die man besichtigen kann.«

»Es ist Sonntagnachmittag. Die Hälfte der Schüler hier sind Externe, die bei ihren Eltern oder anderen Verwandten wohnen. Die kommen nur zu den Schulstunden her. Und die Internen sind in der Stadt unterwegs oder sie hängen in ihren Zimmer ab und zocken oder streamen irgendwas. Wir dürfen die Laptops, die wir für den Schulunterricht von der Akademie bekommen, auch privat nutzen. Solange wir keinen Ärger machen, ist den Betreuern egal, was wir treiben. Im Trakt der jüngeren Kids ist vermutlich mehr los. Und im Trainingsraum. Aber ich bin ehrlich gesagt ganz froh, wenn uns keiner über den Weg läuft. Das hält nur auf.«

Sie stoppte vor einer Tür. »Das hier ist mein Zimmer – war mein Zimmer.«

Jaz trat ein – und nichts war mehr so, wie sie es verlassen hatte. Sarahs Zimmerseite war leer und auf Jaz’ Seite herrschte Chaos. Ihr Schrank stand offen und all ihre Kleider lagen am Boden. Die Schubladen von Kommode und Schreibtisch waren herausgezogen und man hatte ihre Schulsachen und Unterwäsche durchwühlt. Das Bett war durcheinander und ihre Bücher und Comics waren von den Regalen gefegt worden. Jetzt lagen sie geknickt und zerfleddert zwischen Bettdecke und Kopfkissen.

»Diese verdammten …« Wütend pfefferte Jaz Rucksack und Reisetasche zu Boden.

Ella trat neben sie und strich ihr mitfühlend über den Rücken. »Wahrscheinlich wollten sie nachsehen, ob ihnen irgendwas verrät, wohin du verschwunden bist.«

»Für Carlton mag das stimmen«, fauchte Jaz. »Blaine, Asha und Leroy waren aber mit Sicherheit einfach nur geil darauf, meine Sachen zu durchwühlen und irgendwas mitgehen zu lassen.«

 

Ella streifte den Rucksack von ihrer Schulter und hockte sich vor das Kleiderchaos. »Wir stecken die Klamotten zu Hause alle in die Waschmaschine. Dann sind sie nicht mehr eklig begrabscht.« Sie begann Shirts, Pullover und Jeans in ihren Rucksack zu stopfen.

»Pass auf, dass du kein Teil der Schuluniform einpackst. Ich will nicht, dass Carlton mir noch mal vorwerfen kann, ich hätte was geklaut.«

»Aye aye.« Ella fischte zwei Schulröcke und ein paar weiße Blusen aus dem Haufen und warf sie zur Seite. »Falls dein Herz aber überraschenderweise an schwarzen Faltenröcken und weißen Stehkragenblusen hängen sollte, nähe ich dir gerne ein paar eigene.«

Grinsend sah sie hoch zu Jaz, die Unterwäsche und Socken aus einer der Kommodenschubladen zusammenraffte. Ein warmes Kribbeln fuhr in Jaz’ Bauch und ließ die Wut darüber, dass man ihre Sachen durchwühlt hatte, schlagartig zweitrangig werden.

Himmel, wie machte Ella das?

Die schien zum Glück nichts von Jaz’ Gefühlschaos gemerkt zu haben, denn sie stopfte bloß die letzten Shirts in den Rucksack, stand dann auf und warf einen Blick in die andere Zimmerhälfte.

»Scheint so, als wäre deine Mitbewohnerin wirklich mit nach Newfield gegangen, was?«

Schreibtisch und Regale waren leer, das Bett abgezogen. Außer der pastellfarbenen Wand erinnerte nichts mehr daran, dass Sarah noch vor einer Woche hier gelebt hatte.

Jaz nickte knapp. »Yep.«

»Tut mir leid.« Im Vorbeigehen strich Ella ihr kurz über den Arm und begann dann, die Comichefte glattzustreichen, die zerknittert auf dem Bett lagen. »Standet ihr euch nahe?«

Jaz hob die Schultern. »Wir waren zu verschieden, um richtige Freundinnen zu sein. Sarah ist ziemlich verträumt und lebt irgendwie in ihrer eigenen kleinen Welt. Aber ich mochte sie und wir kamen hier gut miteinander klar.« Seufzend stopfte sie die letzten Socken in die Tasche. »Sie fand die Idee von Newfield total klasse und ich hoffe, sie wird dort glücklich.«

Ella nickte still. Dann deutete sie auf die Bücher. »Sind das alles deine oder muss ich bei denen auch aufpassen, dass ich nichts einpacke, was der Akademie gehört?«

»Nein, die gehören mir. Die Comics auch, obwohl die ziemlich hinüber aussehen.« Unwirsch nahm Jazz ein völlig zerfleddertes Heft vom Bett auf und warf es dann zurück.

»Die hier sehen noch ganz gut aus.« Ella packte drei Hefte, die nur leicht zerknittert waren, in den Rucksack. »Und die anderen können wir vielleicht kleben.«

Sie wollte die rausgerissene Seiten einsammeln, doch Jaz schüttelte den Kopf.

»Lass es. Ich bin keine Sammlerin. Was kaputt ist, bleibt hier.«

»Okay. Cam liest auch Comics. Und er hat viele alte Hefte von Gabriel bekommen. Er leiht dir bestimmt welche, wenn du magst.«

»Cool.«

Jaz wandte sich ihrem Schreibtisch zu. Das meiste darauf war Schulkram: ihr Laptop, Bücher, selbst Blöcke, Hefter und Stifte bekamen die Internen von der Akademie gestellt. Nichts davon wollte sie mitnehmen. In ihrer neuen Schule würde sie neue Bücher bekommen und sie hatte noch genügend Geld übrig, um sich neue Hefte und Schreibkram zu kaufen. Bis sie einen Nebenjob fand, würde das reichen.

Ihr Blick fiel auf einen schwarzen Kugelschreiber mit aufgedruckten Totenköpfen. Der gehörte ihr. Sarah hatte ihn ihr zum Geburtstag geschenkt. Jaz fischte ihn aus dem Chaos, ignorierte den Rest und half Ella mit den Büchern.

»Na sieh mal an, wer zurück ist.«

Sie waren fast mit Packen fertig, als die Stimme an der Tür die beiden herumfahren ließ.

Sofort kochte die Wut wieder hoch, doch Jaz zwang sich, ruhig zu bleiben. Sie wollte einfach nur von hier verschwinden. Sich vorher noch mal mit Blaine anzulegen, weil er ihre Sachen durchwühlt hatte, schien da keine besonders gute Idee zu sein.

»Nicht für lange.« Sie stopfte die letzten Bücher in die Reisetasche und zog den Reisverschluss mit mehr Wucht als nötig zu. »Eigentlich sind wir schon so gut wie wieder weg.« Jaz schwang sich ihren Rucksack über die Schulter und nahm die Tasche. »Also tu einfach so, als hättest du uns gar nicht gesehen.«

Blaine hob eine Augenbraue. »Das glaubst du nicht wirklich, oder?« Dann nahm er Ella ins Visier und betrachtete sie von oben bis unten. »Und wen haben wir hier? Wer ist dieses kleine Ding?«

»Ding?« Ella musterte ihn ebenfalls von oben bis unten. »Lass mich raten, du bist Carltons Sohn. Du hast recht, Jaz. Das Arschlochgen ist in der Familie wirklich nicht zu übersehen.«

In Blaines Augen blitzte es gefährlich auf und er trat einen drohenden Schritt auf Ella zu. Sofort ließ Jaz ihren Silbernebel wie eine Peitschensehne aus ihrer Hand auf ihn zu schnellen und stoppte nur wenige Zentimeter von seinem Herz entfernt.

»Du bleibst, wo du bist, und rührst sie nicht an.«

Blaine hatte seine Energie im selben Moment wie Jaz gerufen und sein Silbernebel wirbelte um seine Hände.

»Willst du dich wirklich mit mir duellieren?«, fragte er hämisch. »Wegen dieses kleinen Miststücks? Stellst du etwa Besitzansprüche an die Kleine?«

Jaz schickte ihren Nebel noch ein Stück weiter, bis er den Stoff von Blaines Pullover berührte. »Nein. Ich bin ja nicht wie du. Oder wie dein Vater. Über den hab ich heute übrigens ein paar sehr interessante Dinge erfahren. Zum Beispiel, dass Ellas Mum ihn bei ihrem Abgang aus diesem Laden hier für drei Tage ins Koma befördert hat. Und glaub mir, ich finde dich so scheiße, ich schaff bei dir locker auch vier. Und solltest du Ella und mich nicht sofort gehen lassen, mach ich sogar fünf daraus.«

Sie stellte sich das Ende ihres Nebels wie die Spitze einer messerscharfen Klinge vor und ließ sie durch den Stoff seines Pullovers dringen, bis sie seine Haut berührte.

»Ella, geh auf den Flur.« Jaz ließ Blaine nicht aus den Augen.

Ella schulterte ihren Rucksack, nahm Jaz die Reisetasche ab und zwängte sich an Blaine vorbei.

Der bedachte sie mit einem heimtückischen Lächeln und ließ seinen Silbernebel verschwinden. »Okay, ich lass euch gehen.« Dann wandte er sich wieder Jaz zu. »Für heute.« Kalter Hass stand in seinen Augen, als er seinen Blick in ihren bohrte. »Aber wir sehen uns wieder. Versprochen.«