Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 13


Und hier ist das Reich von Jules, Cam und mir.« Sie waren im Dachgeschoss der alten Villa angekommen und Ella wies auf zwei Türen am Ende des Flurs. »Links ist das Zimmer von Cam, rechts das von Jules. Hinter der Tür hier vorne ist unser Bad und das hier ist meine Bude.«

Ella öffnete eine vierte Tür und knipste das Licht an. Rundum an den Wänden leuchteten Lichterketten aus weißen Sternen, bunten Blumen und kleinen Lampions auf.

Das Zimmer passte zu Ella wie die berühmte Faust aufs Auge. Es sah aus wie eine kunterbunte Mischung aus einer Schneiderei, einer Kunstwerkstatt und einem Jugendzimmer. Neben einem breiten Bett mit schnörkeligem weißen Eisenrahmen, einem Schreibtisch und mehreren Regalen voller Bücher gab es einen Tisch mit Nähmaschine und einen mit jeder Menge Kram zum Basteln sowie ein Sofa mit buntem Flickendeckenüberwurf. In weiteren Regalen, Schränken und einem Sideboard waren Stoffe, Wolle und Nähgarne untergebracht. Dosen mit Stiften, Scheren und Pinseln reihten sich an Vorratsgläser und Boxen mit bunten Perlen und Glassteinen, und es gab Tuben und Töpfchen mit so ziemlich jeder Farbe, die man sich vorstellen konnte. Keins der Möbelstücke passte zusammen, wobei das Glanzstück ein riesiges, uraltes Kleiderschrankungetüm war, das so aussah, als würde es den Übergang nach Narnia beherbergen. Ella hatte es weiß getüncht und Sonnenblumen draufgemalt. Doch obwohl in dem Zimmer so viel los war, herrschte kein Chaos und Jaz fühlte sich zwischen Büchern, alten Möbeln und kreativem Krimskrams sofort wohl.

»Cooles Zimmer. Und echt groß.« Ihr Zimmer in der Akademie hätte hier vermutlich fast zweimal reingepasst.

»Danke. Es ist das größte hier oben.«

»Und es war für Cam und Jules okay, dass du es bekommst?«

Ella zuckte die Schulter. »Ich hab einfach mehr Zeug als die beiden zusammen. Und abends sind sie oft bei mir.« Sie wies auf einen Fernseher, der auf dem Sideboard stand. »Den da haben wir gemeinsam gekauft. Am Laptop zu streamen war auf Dauer blöd und weil wir eh auf dieselben Serien stehen, haben wir unser Taschengeld zusammengeschmissen und der Fernseher steht bei mir. Dafür, dass ich das größte Zimmer bekommen hab, muss ich jetzt also Krümel im Bett ertragen. Was das angeht, sind die beiden nämlich echte Chaoten. Genauso wie er hier.«

Sie bückte sich und nahm Holmes auf den Arm. Der schwarze Familienkater war ihnen bei ihrer Besichtigung neugierig auf Schritt und Tritt durchs ganze Haus gefolgt. »Frag nicht, wie oft ich Katzenspielzeug zwischen meinen Kissen finde.«

Jaz musste schmunzeln und streichelte den kleinen Kater, der sofort mit den Pfoten nach ihren Fingern grabschte, um zu spielen. »Er ist echt niedlich.«

»Yep. Ich fürchte nur, das weiß er auch. Genauso wie Sherlock. Der hatte den unschuldigen Dackelwelpenblick auch verdammt schnell perfektioniert.«

Jaz lachte. »Wo habt ihr die drei her? Aus dem Tierheim?«

Ella nickte. »Erinnerst du dich an das schlimme Themsehochwasser Ende April? Das hat ein Tierheim in Barnes fast komplett überflutet. Damals hat Granny uns noch zu Hause unterrichtet und wir haben jeden Mittag zusammen Nachrichten gesehen. Das war sozusagen unser Politikunterricht. In den Lokalnachrichten haben sie über das Tierheim berichtet und dass dringend Helfer und Spenden gebraucht werden. Wir wollten helfen und Granny war sofort einverstanden. Sie meinte, Schulbücher und Theorie wären zwar wichtig, aber während ein paar Tagen gemeinnütziger Arbeit lernt man auch eine Menge fürs Leben.«

»Deine Grandma ist echt cool.«

»Auf jeden Fall. Und das Tierheim hatte Hilfe wirklich dringend nötig. Es war alles voller Schlamm: Zwinger, Katzenhaus, Lagerschuppen, Büros – alles war verdreckt oder zerstört. Beim Wiederaufbau konnten wir nicht viel helfen. Das mussten Handwerker machen, damit da nicht alles beim ersten Windstoß wieder in sich zusammenfällt. Aber Schlamm und Gerümpel wegräumen kann jeder.«

»Das stimmt.«

Ella kraulte Holmes zwischen den Ohren und der kleine Kater schmiegte sich wohlig an sie. »Es haben nicht alle Tiere überlebt«, sagte sie dann und bei der Erinnerung flog ein trauriger Schatten über ihr sonst so fröhliches Gesicht. »Besonders den ganz jungen ging es schlecht, weil sie noch so klein waren und es schweinekalt und überall nass war. Wir haben Holmes, Sherlock und Watson deshalb während der Aufräumarbeiten mit ein paar Decken in unser Auto gebracht, weil es da trocken und halbwegs warm war. Als wir dann abends zurück nach Hause fahren wollten, haben wir es nicht übers Herz gebracht, die drei in einen der Zwinger zu bringen, die wir saubergemacht hatten.«

Jaz musste lächeln.

Ja, das passte zu Ella.

Sie hielt dem Kitten wieder ihren Finger zum Spielen hin. »Ich wette, das Tierheim war froh um jedes Tier, das ein neues Zuhause gefunden hatte.«

»Definitiv. Es gab zum Glück viele Helfer, die Tiere während des Aufbaus aufgenommen hatten. Und viele haben ihre Pflegetiere danach behalten.«

»Ich glaube, ich hätte es auch nicht übers Herz gebracht, ein Tier wieder zurückzubringen.« Jaz kraulte Holmes unter dem Kinn, was der kleine Kater mit glücklichem Schnurren quittierte, bis ihm das Kuscheln mit den beiden Mädchen plötzlich zu langweilig wurde, als er eine leere Garnrolle auf dem Boden neben dem Papierkorb entdeckte. Mit einem Satz sprang er von Ellas Arm und tobte voller Begeisterung mit dem Spielzeug quer durch den Raum.

»Wie gesagt, nicht nur die zweibeinigen Jungs verbreiten in meinem Zimmer gerne Chaos«, meinte Ella mit einem Seufzen, als Holmes auf ihr Bett sprang und sich mit der Garnrolle einmal quer über ihre Kissen kugelte. »Aber ich liebe sie trotzdem. Egal, ob zweibeinig oder vierbeinig.«

Jaz schmunzelte. Einen Moment lang sah sie Holmes noch beim Spielen zu, dann schaute sie sich weiter in Ellas Zimmer um. Über der Lehne des Schreibtischstuhls hing ein blauer Blazer, auf dessen linker Brustseite in Weiß ein Schulwappen aufgestickt war: zwei Raben, die auf den Türflügeln eines Tores saßen. Ravencourt Comprehensive School stand darunter.

»Wie habt ihr es geschafft, dass ihr auf eine öffentliche Schule gehen dürft?«

»Es war ein jahrelanger Kampf, aber Mum und einige andere aus unserer Gilde haben sich im Stadtrat immer wieder dafür eingesetzt. Und Dad und Granny haben sich in den Schulen hier in der Umgebung dafür stark gemacht, dass uns jemand aufnimmt. Ms Carroll, unsere Direktorin, ist echt nett und hätte uns sofort genommen, aber sie musste erst Überzeugungsarbeit bei Eltern, Lehrern und Schülern leisten. Und der Stadtrat hat eine Entscheidung immer wieder hinausgezögert. Aber jetzt hat es geklappt und wir dürfen unseren Abschluss an der Ravencourt machen.«

»Und eure Mitschüler finden das okay?«

»Es gibt ein paar Idioten, aber die meisten sind in Ordnung. Eins der Mädchen aus unserem Jahrgang hat eine Art Blog, auf dem sie Videos aus ihrem Alltag zeigt. Sie hat mich gefragt, ob ich Lust hätte, ein paar Videos zu drehen und davon zu erzählen, wie es ist, eine Totenbändigerin zu sein. Um Vorurteile abzubauen und so. Zwei haben wir schon aufgenommen und die Leute fanden sie echt gut. Es gab fast nur positives Feedback. Montag wollen wir nach der Schule ein neues Video aufnehmen. Die Leute konnten Fragen schicken. Die beantworte ich dann.« Sie hob die Schultern. »Wer weiß? Vielleicht hilft das ja und im nächsten Schuljahr gibt es noch andere Schulen, die Totenbändiger aufnehmen.«

Jaz war ehrlich beeindruckt und sie fragte sich, was sie hinter den Mauern der Akademie sonst noch alles nicht mitbekommen hatte. Obwohl sie sich jedes Wochenende in London herumgetrieben hatte, hatte sie zu den Normalos kaum Kontakt gefunden. Es gab zwar verschiedene Jugendzentren, doch dort war sie bloß geduldet worden, ohne Chance, jemals in eine der Cliquen aufgenommen zu werden. Daher hatte Jaz es irgendwann aufgegeben und war lieber alleine durch London gestreift.

Auch zu anderen Totenbändigern außerhalb der Akademie hatte sie so gut wie keinen Kontakt gehabt. Dass es innerhalb ihrer Gemeinschaft Leute gab, die sich so vehement wie Sue dafür einsetzten, dass Totenbändiger und Normalos ganz selbstverständlich zusammenleben und ihren Alltag miteinander verbringen konnten, war Jaz deshalb bis heute nicht klar gewesen. Sie hatte zwar gewusst, dass nicht alle Familien ihre Kinder in die Akademie schickten, doch in der Akademie galten diese Leute als verschrobene und weltfremde Sonderlinge. Dass sie stattdessen fast so was wie Rebellen waren, die sich gegen Carlton und seine Newfield-Ideologie einsetzten und für ein Miteinander in einer großen gemeinsamen Gesellschaft in London kämpften, war eine ziemlich coole Entdeckung.

Vielleicht hätte sie mehr über all das gewusst, wenn sie bei den Versammlungen der Gilde hätte anwesend sein dürfen. Doch die Teilnahme war erst ab achtzehn erlaubt.

Jaz schlenderte durch Ellas Zimmer, weil es überall irgendwas zu entdecken gab.

Ein Briefumschlag fiel ihr ins Auge. Er steckte halb unter der Schreibtischunterlage und Ella hatte ihn über und über mit Fragezeichen in verschiedenen Schriftarten vollgekritzelt.

»Das sieht ja genial aus. Ist das ein Kunstprojekt für die Schule?«

Ella trat zu ihr und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bin letzten Monat sechzehn geworden und es ist so eine Art Familientradition, dass Mum uns dann die Namen unserer leiblichen Eltern und ihre aktuelle Adresse besorgt.« Sie fuhr mit einem Finger die Kanten des Briefumschlags nach. »Mum ist Wächterin in der Klinik, in der Gabriel und ich geboren wurden, deshalb kommt sie leicht an die Akten heran.«

 

Jaz musterte Ella von der Seite. »Aber du weißt nicht, ob du wirklich wissen willst, wer deine leiblichen Eltern sind?«

Ella hob die Schultern. »Als Gabriel damals seinen Brief bekommen hat, hat er ihn ungeöffnet zerrissen und in den Kamin geworfen. Er hat gesagt, dass Mum und Dad die einzigen Eltern für ihn sind. Er wollte nicht wissen, wer ihn gezeugt hat, denn die beiden haben ihn verstoßen und dafür verdienen sie nicht eine Sekunde seiner Aufmerksamkeit.«

»Kann ich verstehen.«

»Ja, er hat schon recht.« Gedankenversunken zeichnete Ella eins der Fragezeichen nach. »Aber irgendwie … Keine Ahnung.« Seufzend zuckte sie mit den Schultern. Dann riss sie sich vom Umschlag los und sah zu Jaz. »Was ist mit dir? Weißt du, wer deine leiblichen Eltern sind?«

Jaz schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass ich in einer Klinik in Croydon geboren und dort zurückgelassen wurde. Mehr Infos haben wir in der Akademie nicht bekommen. Aber ich glaube, ich bin da wie Gabriel. Meine Eltern wollten mich nicht, mehr muss ich über sie gar nicht wissen.«

Ella nickte.

»Was ist mit Cam?«

Dass Sky und Jules die leiblichen Kinder von Sue und Phil waren, konnte niemand übersehen. Sie hatten Sues schneeweißes Haar und Phils braune Augen geerbt und sahen einander ziemlich ähnlich. Cam dagegen hatte blaue Augen und seine Haare waren pechschwarz mit einem leichten dunkelblauen Schimmer.

»Was soll mit mir sein?«, kam es von der Tür, als Cam in Ellas Zimmer trat.

»Wir reden gerade über leibliche Eltern«, erklärte Ella.

»Kennst du deine?«, fragte Jaz.

Cam lehnte sich an den Türrahmen. »Nicht wirklich. Meine Mutter war eine Totenbändigerin. Sie hat an den Grenzen des West Ends das Vergnügungsviertel bewacht und Geister ferngehalten, bevor dort alles mit Eisenzäunen und Magnesiumlaternen doppelt und dreifach abgesichert wurde. Ich war knapp vier, als sie während einer Schicht starb. Sie war alleinerziehend und ich hab keine Ahnung, wer mein Vater ist. Wahrscheinlich wusste sie es auch nicht. Ich kann mich nicht wirklich an sie erinnern, also war sie vermutlich keine Traummutter. Sie hat mich nachts alleine gelassen, wenn sie arbeiten war. Als sie nicht zurückkam, haben Nachbarn mich gefunden. Wir haben im East End gewohnt und sie haben mich in die Notfallambulanz gebracht, in der Phil ehrenamtlich arbeitet. So bin ich hier gelandet.«

Das war die offizielle Geschichte seiner Herkunft, die alle außerhalb seiner Familie erzählt bekamen, falls jemand ihm Fragen stellte.

Jules schob sich mit einer Schüssel voll bunter Marshmallows an Cam vorbei ins Zimmer und warf sich schwungvoll auf Ellas Bett. »Wollen wir zusammen was streamen?«

»Sicher.« Ella schaltete den Fernseher an. »Bist du schon müde oder hast du Lust, mitzugucken?«, fragte sie an Jaz gewandt. »Auf meinem Bett ist genug Platz für uns alle. Und Marshmallows krümeln nicht.«

Jaz musste lachen.

»Jetzt, wo du es sagst.« Jules schwang sich wieder aus dem Bett. »Ich glaube, ich hab drüben bei mir noch Chips und Kekse.«

Ella warf einen beschwörenden Blick an die Decke. »Mann, du hattest doch gerade erst Abendessen. Plus Kuchen! Wie passt da jetzt überhaupt noch irgendwas in dich rein?«

»Das sind doch bloß Knabbersachen. Die passen immer.« Jules verschwand nach nebenan, um seine Vorräte zu holen.

Cam warf sich auf den Platz, den Jules gerade freigemacht hatte, und stieß dabei prompt gegen die Schüssel mit den Marshmallows. Sofort verteilte sich die Hälfte der kleinen bunten Teile über Ellas Bettdecke.

Ella rollte mit den Augen. »Einsammeln, sofort! Wehe, ich finde davon heute Nacht eins in meinem Bett!«

Holmes sprang zu Cam und beschnüffelte neugierig eins der Marshmallows. Vorsichtig stupste er mit seiner Pfote dagegen, fegte es dann von der Decke und sprang begeistert hinterher.

Wieder verdrehte Ella die Augen und wandte sich zu Jaz um. »Ich hab vollstes Verständnis dafür, wenn du dir die Chaoten hier nicht antun und lieber Ruhe in deinem Zimmer haben willst.«

»Und mir das hier entgehen lassen?« Grinsend schüttelte Jaz den Kopf und warf sich zu Cam aufs Bett, was einige der Marshmallows, die er gerade zurück in die Schüssel getan hatte, wieder herauspurzeln ließ. »Niemals.« Sie steckte sich eins der kleinen Schaumzuckerdinger in den Mund. »Streamen klingt super. Welche Serien suchtet ihr denn so?«

Kapitel 14


Im Erdgeschoss war der Rest der Familie nach dem Abendessen von der Küche ins Wohnzimmer umgezogen.

»Okay, ich will kein Spielverderber sein«, begann Connor, »und ja, Jaz scheint ganz in Ordnung. Aber denkt ihr, wir können ihr wirklich vertrauen?« Er deutete auf den Briefbeschwerer, der vor Sue auf dem Couchtisch lag. »Offensichtlich hat sie den gestohlen, als sie aus der Akademie weggelaufen ist. Woher wollen wir wissen, dass sie hier bei uns heute Nacht nicht dasselbe tut?«

»Das wissen wir nicht.« Edna hatte das Feuer im Kamin in Gang gebracht und setzte sich in ihren Lieblingssessel. »Aber ich habe ein ganz gutes Bauchgefühl bei dem Mädchen und mein Bauchgefühl hat mich schon einmal nicht getäuscht.« Sie lächelte zu Sue. »Außerdem wüsste ich nicht, dass wir hier irgendwo kostbare Briefbeschwerer herumliegen hätten und Familienjuwelen oder teures Silberbesteck gibt es auch nicht. Selbst wenn Jaz heute Nacht also verschwinden und irgendwas mitnehmen sollte, wäre es nichts wirklich Wertvolles. Und größere Dinge wie unseren Fernseher könnte sie nicht wegschaffen.«

»Wenn sie uns die Autoschlüssel klaut, schon«, gab Connor zu bedenken.

»Das halte ich für ziemlich unwahrscheinlich«, sagte Phil. »Ein gestohlenes Auto ist viel zu auffällig und man würde sie damit schnell finden. Jaz ist nicht dumm. Ich glaube nicht, dass sie so was riskieren würde.«

»Außerdem wage ich zu bezweifeln, dass sie überhaupt fahren kann.« Sue nahm einen Schluck aus ihrer Teetasse. »Weltliche Dinge wie der Führerschein stehen bestimmt immer noch nicht auf dem Lehrplan der Akademie.«

»Glaubst du eigentlich, dass Jaz die Wahrheit gesagt hat, als sie meinte, dass sie in ihrem Training schon mal gegen einen Wiedergänger gekämpft hat?«, fragte Sky. »Das wäre immerhin echt gefährlich. Oder war das nur Prahlerei?«

Sue schüttelte den Kopf. »Nein. Ich traue es Cornelius durchaus zu, dass er seine Schüler auch gegen Wiedergänger antreten lässt. Zu meiner Schulzeit war das Training ziemlich hart. Damals war noch Cornelius’ Vater der Schulleiter und sein Motto war: Sind die Geister zu stark, bist du zu schwach. Während meiner Zeit dort sind vier Schüler umgekommen und etliche andere waren nach besonders grausamen Trainingseinheiten so traumatisiert, dass sie nicht mehr am Unterricht teilnehmen konnten.«

Schockiert starrten Sky, Connor und Gabriel sie an, doch Sue nickte nur bitter.

»Nur, weil man als Totenbändiger geboren wird, heißt es nicht automatisch, dass man auch die Konstitution besitzt, sich Geistern entgegenzustellen. Viele halten den Druck, ihr Leben dabei riskieren zu müssen, nicht aus. Das wurde aber von Seiten der Schulleitung nicht geduldet. Wer zu schwach oder zu ängstlich war, wurde aus dem Training aussortiert und stattdessen niederen Arbeiten zugeteilt wie Housekeeping, Küche, Hausmeisterei oder den Versorgern, die sich um Obst- und Gemüseanbau, Tiere und Einkäufe kümmerten.«

»Das klingt aber ziemlich stark nach Stigmatisierung«, meinte Connor. »Bekam man wenigstens noch mal eine zweite Chance?«

Sue seufzte. »Nur sehr selten. Es wurde einfach viel zu viel Wert auf das Potenzial des Tötens und Vernichtens gelegt, das unsere Kräfte mit sich bringt. Dass wir zu einem gewissen Grad aber auch heilen können und sich diese Fähigkeit mit Erforschung und Training mit Sicherheit noch verbessern ließe, dem schenkte man in der Akademie so gut wie gar keine Beachtung. Und so wie sich das bei Jaz vorhin angehört hat, hat sich daran bis heute nichts geändert. Das ist eine Schande, denn ich wette, dadurch geht bei den vermeintlich Schwachen unglaublich viel Potenzial verloren.«

»Nach allem, was Jaz erzählt hat, klingt es so, als würden sie die Schwachen jetzt auf diese Newfield-Farm schicken«, sagte Sky. »Besonders die Mädchen. Zum Nachwuchszeugen. Wundert mich nur, dass sie Jaz auch dorthin schicken wollten. Wenn sie gegen Wiedergänger antreten kann, sollte sie doch eigentlich genügend Mut und Stärke mitbringen.«

»Wahrscheinlich war sie zu unbequem«, brummte Gabriel. »Außerdem wissen wir ja nicht, ob in Newfield wirklich nur schwächere Totenbändiger leben. Wenn Carlton und seine Leute mehr Totenbändiger heranzüchten wollen, hoffen sie ja sicher auf starken Nachwuchs. Dann wäre es sinnvoll, wenn es in Newfield auch starke Totenbändiger gäbe. Vielleicht war das auch ein Grund, warum Carlton Jaz dorthin schicken wollte.«

Sue nickte seufzend. »Ich fürchte, das ist ein guter Punkt. Und wenn Jaz ihm immer wieder Ärger gemacht hat, wollte Cornelius sie aus London verbannen, bevor sie ihm womöglich öffentlich Ärger macht, denn den kann er besonders jetzt nicht gebrauchen. Er hat in der Gilde etliche Anhänger um sich geschart, die genau wie er der Meinung sind, dass es an der Zeit ist, sich nicht länger von den Unbegabten unterdrücken zu lassen.«

»Unbegabte?« Fragend runzelte Connor die Stirn.

»Menschen, die keine Totenbändiger sind«, erklärte Sue. »Für Cornelius und seine Anhänger sind Leute wie du, Phil oder Edna unbegabte Schwächlinge, weil ihr keine Kräfte besitzt, mit denen ihr euch gegen Geister schützen oder sie töten könnt. Und dabei beziehen sie das Töten nicht nur auf die Geister. Sie denken, Totenbändiger sind die stärkere Rasse, deshalb sollten wir uns nicht länger vom Rest der Bevölkerung unterdrücken lassen, nur weil die Unbegabten in der Mehrheit sind.«

»Okay.« Connors Stirnrunzeln war noch tiefer geworden. »Auch wenn ich absolut verstehen kann, dass ihr genug von Ausgrenzung und Diskriminierung habt, aber das, was dieser Cornelius da plant, klingt echt übel.«

Wieder nickte Sue. »Es gibt in der Gilde zwar auch viele, die ein friedliches Miteinander aller in unserer Gesellschaft wollen, doch selbst die Gemäßigten rechnen es Cornelius hoch an, dass er erreicht hat, dass der Stadtrat nächsten Monat darüber abstimmt, ob die Gilde der Totenbändiger einen Sitz im Rat bekommt. Sie wollen allerdings nicht, dass Cornelius diesen Sitz an sich reißt. Die nächsten Versammlungen werden daher ziemlich spannend werden.«

Sky blickte zu Gabriel. »Ich denke, wir sollten zusehen, dass wir unsere Schichten so legen, dass wir in Zukunft wieder häufiger an den Versammlungen teilnehmen können. Wenn da über jemanden wie Cornelius Carlton abgestimmt wird, will ich mitreden. Und wenn wir Thad und dem Commander sagen, worum es geht, ist das sicher kein Problem.«

Gabriel nickte. »Wenn der Stadtrat dem Sitz für unsere Gilde zustimmt, gibt es dann einen gemäßigten Gegenkandidaten zu Carlton?«

Sue hob die Schultern. »Es gibt ein paar, die es machen würden und sicher auch gut darin wären, doch keiner von ihnen ist so bekannt und hat so viel Einfluss wie Cornelius.« Sie seufzte. »Aber zuerst müssen wir es ja überhaupt schaffen, dass der Stadtrat einem Sitz für uns zustimmt. Auf der Versammlung am nächsten Freitag sollen Repräsentanten gewählt werden, die mit den anderen Gilden sprechen, um sie zu überzeugen, für uns zu stimmen.«

»Na, dann solltest du dich definitiv für einen dieser Posten aufstellen lassen«, sagte Sky. »Du arbeitest im Krankenhaus und deine Klinikleitung steht voll hinter dir. Ich wette, sie unterstützen dich dabei, die Gilde der Mediziner zu überzeugen, für unseren Sitz zu stimmen. Krankenhäuser arbeiten schließlich schon seit ewigen Zeiten mit Totenbändigern zusammen und wissen die Arbeit von euch Wächtern zu schätzen. Die Gilde der Mediziner gewinnst du sicher ganz leicht für uns.«

»Und wir reden mit unserem Commander«, bot Gabriel an. »Der kann dir mit Sicherheit ein Gespräch beim Commissioner besorgen. Die Gilde der Ordnungshüter davon zu überzeugen, dass wir Totenbändiger einen Sitz im Stadtrat verdienen, dürfte auch schaffbar sein. Dafür leisten wir in den Spuk Squads zu wertvolle Arbeit für die Stadt, besonders jetzt im Unheiligen Jahr.«

 

Sue lächelte gerührt und leerte ihre Teetasse. »Ich fühle mich sehr geehrt, dass ihr in mir solch eine Kämpferin für unsere Rechte seht –«

»Hallo?!«, fiel Gabriel ihr ins Wort, bevor sie weitersprechen konnte. »Das bist du doch auch! Du hast mit Dad und Granny jahrelang dafür gekämpft, dass wir zur Schule gehen dürfen.«

Seine Mutter verzog das Gesicht und fuhr sich müde über die Augen. »Ja, und es hat fast zwanzig Jahre gedauert, bis wir Erfolg hatten.«

»Aber ihr habt es geschafft«, sagte Sky stolz. »Und als Repräsentantin der Gilde hättest du sicher mehr Einfluss und mehr Leute hinter dir, die dich unterstützen, wenn du jetzt weiterkämpfst. Ich finde wirklich, du solltest dich aufstellen lassen. Und wenn du Erfolg hast und es dir Spaß macht, dann kandidiere auch als Gegenkandidatin zu Carlton. Du wärst im Stadtrat genau die Richtige für uns.«

»Ja, sehe ich auch so«, stimmte Connor zu.

»Definitiv«, nickte Gabriel.

Sue sah zwischen den dreien hin und her und lächelte wieder gerührt. »Also … wie gesagt, ich fühle mich sehr geschmeichelt. Und auch wenn mich die Aufgabe reizen würde – es geht nicht. Die Arbeit als Repräsentantin wird nicht bezahlt und ich wage zu bezweifeln, dass wir für den Sitz im Stadtrat entlohnt werden. Ich wäre zwar bereit, dafür meine Freizeit zu opfern, aber die würde ja nicht reichen. Und in der Klinik Stunden zu kürzen, ist nicht drin. Eher im Gegenteil. Wenn Jaz bei uns bleibt, werden unserer Haushaltskasse ein paar Überstunden guttun. Es geht also nicht, weil ich einfach nicht die nötige Zeit in die Arbeit für die Gilde stecken kann.«

»Also was das Finanzielle angeht, zahle ich ab jetzt mehr in die Haushaltskasse«, verkündete Gabriel.

Sofort schüttelten Sue und Phil die Köpfe, doch Gabriel ließ sie nicht zu Wort kommen.

»Nein. Das, was ihr bisher von mir und Sky annehmt, – selbst das, was ihr von Connor nehmt, – ist ein Witz. Dass wir Jaz hier bei uns aufnehmen, war eine Familienentscheidung und die sollten wir auch als Familie tragen – und nicht nur ihr zwei alleine.«

»Aber –«

»Nein, Mum. Du hast vorhin gesagt, dass du dir geschworen hast, anderen zu helfen, weil Granny und Grandpa dir damals geholfen und eine Chance gegeben haben.« Gabriel hob die Schultern. »Für mich gilt genau das Gleiche. Hättet du und Dad mich nicht aufgenommen, wäre ich in der Akademie gelandet und nach allem, was ich über diesen Laden bisher gehört habe, bin ich mir ziemlich sicher, dass das nicht gut für mich ausgegangen wäre. Also lasst mich was zurückgeben. Da ich allerdings ein ziemlich lausiger Vater wäre, sollte ich wohl besser keine ungewollten Totenbändigerbabys adoptieren. Aber ich kann finanziell helfen. Sicher werden wir auch dann keine riesigen Sprünge machen können, aber es sollte reichen, damit du keine Überstunden machen musst.«

»Gabe hat recht, Mum.« Sky hatte ihre Finger mit Connors verschränkt. »Connor und ich zahlen ab jetzt auch mehr. Du gibst seit Jahren alles für uns, also lass uns jetzt mal etwas zurückgeben. Vielleicht passt es dann ja und du kannst dich doch als Repräsentantin aufstellen lassen. Ich finde, du wärst super dafür und wenn du Lust darauf hast und es versuchen willst, dann solltest du es machen.«

Sue musste sichtlich schlucken.

Liebevoll schlang Phil seinen Arm um sie und zog sie an sich. »Ich bin absolut derselben Meinung.« Er küsste ihre Schläfe. »Wenn du das machen willst, dann mach es. Finanziell schaffen wir das schon irgendwie. Ich kann freitags wieder hier im Health Centre arbeiten –«

»Nein«, sagte Sue sofort. »Dein Ehrenamt im East End ist wichtig und –«

»Es ist nicht wichtiger, als sich für eure Rechte stark zu machen und jemandem wie diesem Cornelius die Stirn zu bieten. Und ich will die Arbeit in der Notfallambulanz ja nicht aufgeben. Ich kann dort Wochenendschichten übernehmen. Das regle ich schon.«

»Und ich werde zusehen, dass ich auch noch irgendwas finde, um etwas zur Haushaltskasse beizusteuern«, erklärte Edna vom Kaminsessel aus.

Phil schüttelte den Kopf. »Nein Mum, das musst du nicht. Du hast dich jahrelang um die Kinder gekümmert und dafür gesorgt, dass sie die bestmögliche Ausbildung bekommen. Du hast jetzt auch mal etwas Zeit für dich verdient.«

Edna schnaubte. »Wehe, du degradierst mich jetzt zu einer tatterigen Rentnerin! Nicht mit mir, mein Sohn, nicht mit mir! Ohne Aufgabe fällt mir hier die Decke auf den Kopf. Sobald der Garten abgeerntet und alles eingekocht und eingelagert ist, bin ich niemand, der den ganzen Herbst und Winter nur strickend vorm Kamin sitzen kann. Und das weißt du auch. Ich brauche etwas zu tun, also kann ich mir auch etwas suchen, bei dem ich was dazuverdienen kann.« Sie sah zu ihrer Schwiegertochter. »Wenn du dich also zur Repräsentantin aufstellen lassen willst, um diesem Cornelius auf die Füße zu treten – nur zu!«

Sue musste lächeln. Sie nahm Phils Hand in ihre, gab ihm einen Kuss und schaute dann in die Runde.

»Danke. Für eure Worte, für eure Unterstützung – für alles. Das bedeutet mir wirklich viel. Ich verspreche, ich überlege mir die Sache mit der Repräsentantin, und frage in der Klinik mal nach, wie flexibel ich Schichten tauschen könnte. Danach sehen wir dann weiter.«

»Klingt gut.« Zufrieden stand Gabriel von der Couch auf. »Der Abend ist noch jung, ich fahre ins Mean & Evil, kommt ihr mit?« Er wandte sich zu Sky und Connor um.

Sky streckte sich und schüttelte gähnend den Kopf. »Die Woche war echt anstrengend und ich freue mich jetzt ehrlich gesagt einfach nur auf eine heiße Dusche, mein Bett und irgendeinen Film, in dem die Welt völlig in Ordnung ist.«

Gabriel verzog das Gesicht, als hätte er in eine extrasaure Zitrone gebissen. »Was ist mit dir?« Er sah zu Connor.

Der grinste. »Ich nehme das, was Sky nimmt. Mit ihr zusammen.«

Gabriel schnaubte, gönnte den beiden aber ihr Glück. »Dann viel Spaß. Wir sehen uns morgen.«

Er ging in den Flur und nahm seine Lederjacke vom Garderobenhaken.

»Ich hoffe, du hast das vorhin nicht ernst gemeint.« Sue war ihm gefolgt.

Gabriel zog sich die Jacke über. »Was meinst du?«

»Dass du ein lausiger Vater wärst.« Sie trat zu ihm, richtete seinen Jackenkragen und sah ihrem Ältesten dabei fest in die Augen. »Das stimmt nämlich kein bisschen. Für deine Geschwister bist du der beste große Bruder, den dein Vater und ich uns für sie wünschen könnten.«

Gabriel lächelte geschmeichelt, schüttelte jedoch gleichzeitig den Kopf. »Ein Bruder ist aber nicht dasselbe wie ein Vater.«

»Aber es zeigt dein Potenzial.« Sue zog ihn zu sich herab und küsste seine Stirn. »Und ich bin mir sicher, du wirst deine Meinung ändern, wenn du deinen Herzensmenschen gefunden hast.«

Wieder schüttelte Gabriel den Kopf und ein trauriger Schatten flog über sein Gesicht. »Mum, ich glaube nicht, dass ich der Typ für Herzensmenschen bin. Nicht mehr.«

Sue zog ihn an sich und schloss ihn in ihre Arme. »Irgendwann wirst du es wieder sein. Da bin ich mir ganz sicher«, sagte sie leise und drückte ihn kurz, aber fest an sich. Dann ließ sie ihn los und schob ihn mit einem ermutigenden Lächeln zur Tür. »Hab einen netten Abend. Und grüße die Reapers.«