Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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»Definitiv«, antwortete sie daher wieder nur knapp, doch der Trotz, den sie eigentlich mit in ihre Stimme hatte legen wollen, ging leider völlig in einem weiteren Hustenanfall unter.

Ihre drei Einpfercher tauschten wieder einen Blick. Dann ließ der Grobian sie plötzlich los und wies mit einem Kopfnicken zu dem Mädchen.

»Unsere Mum ist in der Akademie aufgewachsen und ich schätze, sie hat es dort genauso sehr gehasst wie du. Du solltest mal mit ihr reden. Vielleicht kann sie dir helfen.«

Perplex starrte Jaz ihn an. Sie hatte mit einigem gerechnet, damit allerdings nicht.

»Ich bin Ella«, stellte das Mädchen sich vor. »Das ist mein Bruder Gabriel und das ist unsere Grandma, Edna Hunt. Wir wohnen nicht weit von hier am Hampstead Heath. Wenn du bei diesem Wetter keinen trockenen Schlafplatz hast, kannst du mit zu uns kommen. Wir haben ein Gästezimmer. Und ich wette, Gabe hat recht und Mum kann dir helfen. Sie ist ziemlich gut darin.« Sie schenkte Jaz ein gewinnendes Lächeln.

Die blickte misstrauisch von einem zum anderen und hatte nicht den blassesten Schimmer, was sie davon halten sollte.

Das konnte nicht ernst gemeint sein, oder?

Das war irgendeine Falle.

»Unser Angebot steht, bis wir die Einkäufe eingepackt haben. Du kannst gehen und versuchen, weiter irgendwie alleine klarzukommen. Wir werden dich nicht aufhalten.«

Gabriel schob einen der Einkaufswagen zur Seite und eröffnete ihr so die Möglichkeit, zu flüchten.

»Oder du kommst mit zu uns, bist zumindest für heute Nacht in Sicherheit und kannst dich mal richtig ausschlafen, denn du siehst so aus, als hättest du das dringend nötig. Du kannst duschen, bekommst ein paar trockene Klamotten und wir waschen deine. Vernünftige Mahlzeiten gibt es auch und Dad kann dir sicher mit deinem Husten helfen. Er ist Arzt. Und wenn du mit Mum geredet hast, finden wir vielleicht sogar eine längerfristige Lösung, damit du vor der dunklen Jahreszeit von der Straße runterkommst. Deine Entscheidung.«

Er hielt ihren Blick noch einen Moment lang fest, dann wandte er sich ab und begann, die Getränkekästen in den Kombi zu hieven.

Jaz stand einfach nur da und hatte noch immer keine Ahnung, was sie von dieser plötzlichen Wendung halten, geschweige denn, was sie machen sollte.

Alles in ihr sträubte sich dagegen, mit irgendwelchen Fremden mitzufahren.

Andererseits packten die gerade Limo, Apfelshampoo, Schokolade, Kekse und eine riesige Tüte mit bunten Marshmallows in den Kofferraum. Das sah nicht gerade nach gefährlichen Psychopathen aus.

Der Duft von frischem Brot aus der Bäckertüte ließ ihren Magen geräuschvoll knurren. Peinlicherweise anscheinend so lauf, dass Ella es gehört hatte, denn sie fischte eine Packung Schokokekse aus dem Einkaufschaos, riss sie auf und drückte Jaz drei große Cookies in die Hand.

»Zum Abendessen machen Mum und Dad gerade Pasta mit Gemüse aus unserem Garten. Du wärst schön blöd, wenn du dir die entgehen lässt. Und glaub mir«, sie schielte bedeutungsvoll zu ihrem Bruder hinüber, »auch wenn manch einer hier auf den ersten Blick vielleicht nicht unbedingt den freundlichsten Eindruck macht, verglichen mit Geistern, Wiedergängern und arschkaltem Regenwetter ist meine Familie echt harmlos.«

Gabriel schnaubte empört und zog ihr die Beanie über die Augen. Lachend schob Ella sie zurück und revanchierte sich mit einem Knuff in seinen Magen.

Jaz musste sich ein Schmunzeln verkneifen, als sie die beiden miteinander kabbeln sah – und gab sich alle Mühe, das Kribbeln in ihrem Magen zu ignorieren.

Ella hatte niedliche Sommersprossen und ihre Augen waren einfach nur der Hammer. Sie funkelten frech und strahlten in einem dunklen Türkiston, der perfekt zu ihren blaugrünen Haaren passte. Die fielen ihr in leichten Wellen bis auf die Schultern und wurden halb von der Regenbogenbeanie verdeckt. Zu der auffälligen Mütze trug sie eine schlichte olivgrüne Parkajacke, schwarze Leggins und dunkelgrüne Boots, auf die mit schwarzem Lackstift Tribalmuster gemalt waren, die perfekt zu den Linien ihres Totenbändigermals passten.

Und nicht nur ihre Augen waren der Hammer.

Für ihr spitzbübisches Lächeln galt dasselbe.

Jaz biss sich auf die Unterlippe.

Verdammt, Ella war echt süß.

Auch wenn das nicht wichtig war.

Oder es zumindest nicht sein sollte.

Jaz beobachtete sie dabei, wie sie mehrere Packungen Müsli und Frühstücksflocken in einer Tragekiste verstaute und dann einen riesigen Sack Katzenstreu und einen Karton voller Dosen mit Hunde- und Katzenfutter in den Wagen wuchtete. Als Ella wieder aus dem Kofferraum auftauchte, stemmte sie schnaufend die Hände in die Hüften und nahm Jaz mit schräggestelltem Kopf aufs Korn.

»Immer noch nicht überzeugt, mit zu uns zu kommen? Mit spontanem Vertrauen hast du es nicht so, was?« Sie kratzte sich an der Nase, schien aber keineswegs gewillt, Jaz aufzugeben. »Wie wäre es dann damit: Komm einfach mit zum Essen. Dann kannst du dich aufwärmen, mit Mum reden und Dad kann dir was gegen deinen Husten geben. Und wenn du danach wirklich nicht bei uns bleiben willst, gehst du einfach. Wir sperren dich ja nicht ein oder so. Du hast also echt nichts zu verlieren.«

Sie grinste wieder spitzbübisch und diesmal konnte Jaz nicht anders. Sie musste lächeln.

»Du bist ziemlich hartnäckig, weißt du das?«

Ellas Grinsen wurde noch ein bisschen breiter. »Yep. Und du bist nicht blöd und lässt dir die Chance bei uns entgehen, oder? Also, wie heißt du? Und ist in dem Rucksack da dein ganzer Kram drin oder musst du noch irgendwas von irgendwo holen, bevor wir diesen ätzenden Nieselregen hier hinter uns lassen und nach Hause fahren können?«

Wieder musste Jaz lächeln und gab sich geschlagen.

Ella hatte schließlich recht: Sie hatte nichts zu verlieren. Schlimmer als auf der Straße oder in der Akademie konnte es in dieser Familie auch nicht sein. Und wenn doch, würde sie eben einfach wieder verschwinden.

»Ich bin Jaz. Und der Rucksack ist alles, was ich hab.«

Kapitel 12


Jaz ließ das Wasser aus der Dusche über ihr Gesicht laufen und genoss das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen nicht mehr zu frieren.

Himmel, manche Dinge wusste man erst so richtig zu schätzen, wenn man eine Weile ohne sie hatte auskommen müssen.

Wie lange konnte sie wohl einfach hier stehen bleiben und sich berieseln lassen, bevor jemand nach ihr sah?

Noch konnte sie sich keinen rechten Reim aus diesen Leuten machen, bei denen sie so völlig unverhofft gelandet war.

Bei ihrer Ankunft hatte sie Sue und Phil kennengelernt, die gemeinsam in der Küche das Abendessen kochten. So wie sie es verstanden hatte, waren die beiden die Eltern von Gabriel, Ella, Sky und Jules. Die letzten beiden waren mit einem Connor im Wohnzimmer gewesen, der auch hier in der alten Villa wohnte. Genauso wie ein Dackel und zwei Kater, über die jeder mindestens einmal gestolpert war, als alle gemeinsam die Einkäufe durch den Nieselregen ins Haus geschleppt hatten. Doch die drei hatten unbedingt jeden Heimkehrer und Neuankömmling begeistert begrüßen müssen, nur um gleich danach neugierig alle Taschen, Kisten, Tüten, Säcke und Kartons zu inspizieren.

Es hatte Jaz überrascht, wie vorbehaltlos man sie willkommen geheißen hatte – trotz ihres Versuchs, Edna zu bestehlen. Doch als Jaz erneut zugegeben hatte, dass sie aus der Akademie weggelaufen war, hatte Sue nur verständnisvoll genickt und gesagt, dass Jaz über Nacht bleiben konnte und erst mal duschen gehen sollte. Sky hatte ihr T-Shirt, Pullover, Jogginghose und ein Paar dicke Socken geliehen und Ella hatte ihr das Gästezimmer und das Bad gezeigt.

Jetzt stand Jaz hier unter der Dusche und versuchte zu begreifen, was genau da eigentlich in der letzten Stunde passiert war.

Sie hatte keine Ahnung, ob sie diesen Leuten hier wirklich trauen konnte. Aber sie war zu hungrig, zu müde und ihr steckte diese verdammte Erkältung in den Knochen. Hierzubleiben, selbst wenn es nur zum Duschen, Aufwärmen und Essen war, klang da einfach zu verlockend. Und wenn sie danach das Gefühl hatte, dass das alles hier doch zu suspekt war, konnte sie ja immer noch gehen.

Dann traf sie jedoch plötzlich ein ganz anderer Gedanke und ihr wurde trotz des warmen Wassers eiskalt.

Was, wenn man sie mit der Freundlichkeit und dem Angebot der heißen Dusche nur in Sicherheit wiegen wollte?

Was, wenn Sue und Phil längst in der Akademie angerufen hatten, um sie abholen zu lassen?

Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus und sie drehte abrupt das Wasser ab.

Was, wenn gleich Master Carlton unten auf sie wartete oder irgendwer, der sie direkt nach Newfield bringen sollte?

In Rekordzeit trocknete Jaz sich ab und schlüpfte in die trockenen Klamotten. Sie raffte ihr eigenen Zeug zusammen, eilte aus dem Badezimmer – und wäre auf dem Flur fast mit einem dunkelhaarigen Jungen zusammengeprallt.

Himmel, diese alte Villa war zwar echt groß, aber wie viele Leute lebten denn hier?!

Er war ungefähr so alt wie sie, aber ein Stück kleiner und sehr schmal. Er trug Sportkleidung und war nass vom Regen. War er bei diesem Sauwetter etwa joggen gewesen?

Er musterte sie, schien aber nicht überrascht, eine Fremde in seinem Zuhause vorzufinden, also hatten die anderen ihm wohl schon von ihr erzählt.

 

»Tut mir leid, ich –«, begann sie und wollte sich an ihm vorbeischlängeln, doch als ihre Blicke sich trafen, lag in seinem etwas, das Jaz tief ins Herz traf.

Er war eine verwandte Seele.

Er wusste, dass man bei Menschen misstrauisch sein musste.

Und er hatte sie mit einem Blick durchschaut.

»Keine Sorge. Niemand hier wird dich verraten«, versicherte er. »Sue, Phil und Granny sind echt okay. Wenn sie sagen, sie helfen dir, dann machen sie das auch. Und da Gabriel dich nicht sofort umgebracht hat, als du versucht hast, Grannys Tasche zu klauen, wird er es jetzt auch nicht mehr tun«, fügte er hinzu und deutete auf die feuchten Klamotten, die sie wie einen Schutzpanzer gegen ihre Brust drückte. »Die Waschmaschine ist im Hauswirtschaftsraum unten neben der Küche. Herzlich willkommen bei uns.«

Er schenkte ihr ein kleines Lächeln, dann lief er weiter zur nächsten Treppe, die zum Dachgeschoss hinaufführte.

»Ehm … danke«, rief Jaz ihm stirnrunzelnd hinterher. »Und wer bist du?«

»Cam.«

Er verschwand im obersten Stockwerk.

Unschlüssig blickte Jaz ihm nach und hörte Schritte auf der unteren Treppe.

»Oh cool, du bist schon fertig.« Ella winkte sie zu sich. »Komm runter und bring dein Zeug mit. Wir stecken es in die Waschmaschine. Und bis Cam geduscht hat, checkt Dad dich schnell durch, damit wir was gegen deinen Husten machen können.«

Jaz zögerte.

Doch diese Familie hatte sie in ihr Haus gelassen und wollte ihr helfen, obwohl sie eine völlig Fremde war. Dafür hatten sie einen Vertrauensvorschuss verdient, oder nicht? Wachsam konnte sie ja trotzdem bleiben.

Sie gab sich einen Ruck und lief die Treppe hinunter.

Eine Viertelstunde später saßen alle in der Küche an einem Tisch aus schwerem Holz, der so aussah, als hätten an ihm schon einige Generationen zusammen gegessen. Doch nicht nur der Tisch war ziemlich vintage, für den Rest der Küche galt dasselbe. Ofen und Landhausschränke knarzten und hatte etliche Jahre auf dem Buckel, auf einem Regal stapelten sich Tassen, von denen kaum mal zwei optisch zusammenpassten, und auf den beiden Fensterbänken standen buntbemalte Blumentöpfe, in denen Kräuter wuchsen. Zwei Türen mit abgegriffenen Messingknäufen führten in eine Vorratskammer und den Hauswirtschaftsraum. Alles wirkte ein bisschen chaotisch und zusammengewürfelt, schien aber trotzdem genau deshalb hierher zu gehören und strahlte Gemütlichkeit aus.

Jaz schob sich eine weitere Gabel Gemüsepasta in den Mund.

Das hier war Lichtjahre entfernt von der sterilen Ordnung, die sie aus der Akademie kannte.

Das hier war ein richtiges Zuhause.

Sie betrachtete die Leute am Tisch.

Die wirkten genauso wild zusammengewürfelt wie ihr Haus. Und sie schienen keinen müden Penny auf Vorurteile oder gesellschaftliche Erwartungen zu setzen.

Phil hatte eine Totenbändigerin geheiratet und seine Mutter hatte damit offensichtlich kein Problem. Und Sky war mit Connor zusammen, der ebenfalls kein Totenbändiger war und trotzdem hier mit etlichen von ihnen unter einem Dach lebte. Es schien überhaupt keine Rolle zu spielen.

Jaz fand das großartig.

Während die anderen besprachen, was dringend im Garten erledigt werden musste, bevor bei diesem miesen Wetter alles Mögliche vergammelte, ließen sie Jaz ihre Pasta essen. Ella lächelte ihr hin und wieder zu und Edna forderte sie zwischendurch immer wieder auf, sich mehr von Pasta und Salat zu nehmen, doch sonst ließ man sie in Ruhe und das rechnete Jaz ihnen hoch an – auch wenn klar war, dass diese Ruhe nicht ewig währen würde.

Man verschonte sie bis zum Nachtisch. Der bestand aus einem riesigen Marmorkuchen mit dunkler Glasur und bunten Schokolinsen. Nachbarn hatten ihn als Dankeschön vorbeigebracht, weil Ella und Cam deren Kinder gestern Abend vor einem Schatten gerettet hatten.

Jemand bedankte sich bei Totenbändigern …

Wenn man Jaz das vor einer Woche in der Akademie erzählt hätte, hätte sie geglaubt, man wollte sie verarschen. Jetzt hier am Tisch dieser Familie, klang es zwar immer noch schräg, aber nicht nach zu lebhafter Fantasie.

Und es machte ihr Ella und Cam noch sympathischer.

Während die beiden den Kuchen schnitten und verteilten, kochte Edna eine Kanne Salbeitee. Der würde gegen Jaz’ Halsschmerzen und ihren Husten helfen. Phil hatte sie vor dem Essen untersucht, außer einer Erkältung aber zum Glück nichts Schlimmeres festgestellt. Und laut Edna würden sie Husten und Halsweh mit ihren Hausmitteln ganz schnell wieder in den Griff bekommen – auch wenn der Sirup, den sie Jaz hatte schlucken lassen, geschmacklich optimierungswürdig war.

Dafür mochte sie den bunten Schal, den Ella ihr ausgeliehen hatte. Er roch gut und sah genauso fröhlich aus wie seine Besitzerin.

Als alle mit Kuchen versorgt waren, ergriff Sue das Wort.

»Okay, Jaz. Dann erzähl uns jetzt mal, was los ist.«

Da war er also, der Moment, der unweigerlich hatte kommen müssen.

Jaz blickte in die Runde und hatte keine Ahnung, wo sie anfangen sollte.

Sue schien das zu merken und schenkte ihr ein ermutigendes Lächeln. »Nenn uns erst mal deinen richtigen Namen. Jaz ist doch sicher nur eine Abkürzung, oder?«

Jaz nickte. »Von Jazlin. Offiziell heiße ich Jazlin Two.«

»Two?« Das Lächeln in Sues Gesicht wurde bitter. »Sie haben an ihrem Vorgehen also nichts geändert. Ich war auch eine Two.«

Jaz musterte sie einen Moment. Wenn Sue Bescheid wusste, bedeutete das, dass Gabriel und Ella die Wahrheit gesagt hatten. Sue war wirklich selbst in der Akademie gewesen.

»Was bedeutet das?«, fragte Jules. »Wofür steht Two?«

Sue seufzte. Kurz sah sie zu Jaz, dann zu ihrem Sohn. »Die Babys, die aus Kliniken in die Akademie gebracht oder von Müttern dort abgegeben werden, werden durchnummeriert. So bekommen sie ihren Nachnamen. Jedes Jahr im Januar fangen sie mit der Zählung von vorne an. Ich war in meinem Geburtsjahr das zweite Baby, das in die Akademie kam. Und bei Jaz war es offensichtlich genauso.«

»Wow, wie liebevoll«, meinte Sky ironisch.

Sue verzog das Gesicht. »Und ich fürchte, viel liebevoller wird es auch nicht.« Sie blickte wieder zu Jaz. »Wie alt bist du?«

»Siebzehn.«

»Dann hättest du nur noch dieses Schuljahr dort überstehen müssen, um deinen Abschluss zu bekommen?«

Jaz nickte.

Sue betrachtete sie einen Moment lang und schien mit eigenen Erinnerungen zu kämpfen. Dann schüttelte sie sie jedoch ab und konzentrierte sich auf die Gegenwart. »Okay, sag uns, was passiert ist, dass du es dort nicht mehr länger ausgehalten hast.«

Jaz atmete tief durch, gab sich einen Ruck und erzählte.

»Die bauen in Yorkshire ein Dorf und drängen junge Mädchen dazu, dort hinzuziehen und möglichst schnell Nachwuchs zu produzieren, damit die Rasse der Totenbändiger wächst und gedeiht?« Gabriels Nasenflügel weiteten sich, als er wutschnaubend die Luft einsog. »Ernsthaft?! Daran ist so vieles falsch, ich weiß gar nicht, worüber ich mich zuerst aufregen soll!«

Jaz hob die Schultern. »Laut Anya und Drew sind alle freiwillig und gerne dort. Für viele ist es eine Zuflucht, weil sie in der Gesellschaft Außenseiter sind. Und in der Akademie haben sie uns das Ganze bloß in zuckersüßen Regenbogenfarben schmackhaft gemacht. Es wurde niemand gezwungen, dorthin zu gehen. Außer mir.« Sie presste kurz die Kiefer aufeinander. »Keine Ahnung, warum es Master Carlton so wichtig ist, mich nach Newfield zu schicken. Vermutlich hatte er genug davon, mich ständig in den Arrest zu sperren und findet, jetzt sollte sich mal jemand anderes mit mir herumärgern. Oder er denkt, in Newfield hab ich einfach keine Zeit zum Ärger machen, wenn ich mich tagsüber um die Grundschulkids und ihren Unterricht kümmern und abends für meinen eigenen Abschluss lernen muss.«

»Okay, bei dem Pensum bleibt tatsächlich nicht viel Zeit für Rebellion«, meinte Sky sarkastisch.

»Und wenn sie dann noch dafür sorgen, dass du schwanger wirst …« Connor schüttelte den Kopf.

»Ganz ehrlich, Leute? Aus dem Laden wäre ich auch abgehauen.« Ella hatte die Kuchenteller eingesammelt und in die Spülmaschine geräumt. Jetzt trat sie hinter die Stühle, auf denen ihre Eltern saßen, schlang ihrer Mum und ihrem Dad einen Arm um die Schultern und gab Sue einen Kuss auf die Wange. »Danke, dass du mich mit zu euch genommen hast.« Dann küsste sie die Wange ihres Dads. »Und danke, dass du mich sofort behalten wolltest.«

Liebevoll strich Phil ihr über den Arm. »Wir sind dankbar, dass wir dich vom Schicksal geschenkt bekommen haben. Immerhin wäre es ohne dich nur halb so bunt und fröhlich bei uns.«

Wieder spürte Jaz dieses warme Kribbeln, als sie Ella beobachtete, während sie noch mal Wasser für eine weitere Kanne Tee aufsetzte. Über ihrer schwarzen Leggins trug sie einen hellblauen Pullover in Oversize, dessen Halsausschnitt asymmetrisch geschnitten war und eine ihrer schmalen Schultern herausgucken ließ, und ihre Boots hatte sie gegen dicke Ringelsocken getauscht, die perfekt zu ihrer Regenbogenbeanie passten.

»Wenn du deinen Abschluss schon hättest, was wären dann deine Pläne?«, fragte Sue und riss Jaz damit aus ihren Gedanken heraus.

»Ich wollte hier in London auf die Polizeischule gehen und später in einer Spuk Squad arbeiten.«

»Cool. Gut zu wissen, dass wir Nachwuchs bekommen – in ein paar Jahren.« Da Jaz verständnislos die Stirn runzelte, fügte Gabriel hinzu: »Sky, Connor und ich bilden eine Spuk Squad hier auf dem Revier in Camden.«

»Echt?« Jaz musterte die drei überrascht. »Das ist ja genial! Denkt ihr, die würden mich in der Polizeischule auch nehmen, wenn ich mein Abi parallel zur Ausbildung mache? Ich wollte mir eigentlich einen Job suchen, damit ich mir ein Zimmer leisten kann, und dann den Abschluss im Homeschooling machen. Aber wenn ich schon auf die Polizeischule gehen könnte, könnte ich in deren Wohnheim wohnen und alles wäre viel einfacher.«

»Braucht man denn überhaupt das Abi, um zur Polizei zu gehen?«, fragte Jules. »Reicht nicht auch die mittlere Reife? Die hast du ja schon.«

»Jein.« Gabriel goss sich noch einen Tee ein, als Ella die Kanne auf den Tisch stellte. »Eigentlich reicht die mittlere Reife, Totenbändiger nehmen sie aber nur mit Abi. Ist mal wieder eine der vielen netten Ungleichbehandlungen. Deshalb konnte Matt damals nicht mit Sky und mir die Ausbildung machen.«

»Was für ein Scheiß!«, schimpfte Jules.

»Yep. Ist in Jaz’ Fall aber egal, denn sie nehmen Bewerber erst mit achtzehn und das gilt für alle.«

Jaz tat es mit einem Schulterzucken ab. »Schon okay. Was ist denn aus eurem Freund geworden? Was hat er gemacht, als er nicht auf die Polizeischule gehen durfte?«

»Er arbeite als freischaffender Geisterjäger. Er hat sich in den letzten Jahren ein kleines Team zusammengestellt und sie nehmen Aufträge von Privatpersonen oder Firmen an.«

Interessiert setzte Jaz sich auf. »Was für Aufträge?«

Gabriel hob die Schultern. »Bosse engagieren sie als Schutzbegleitung, wenn sie abends Termine haben. Besonders im Winter, wenn es schon früh dunkel wird. Makler oder Firmen buchen sie, um alte Gebäude oder lange ungenutzte Lagerhallen zu inspizieren und von Geistern zu reinigen, wenn sich dort welche eingenistet haben. Außerdem beraten sie Privatpersonen beim Schutz von Häusern und Grundstücken und treiben Geister aus, wenn schon einer Ärger macht. Solche Sachen halt.«

»Cool. Denkst du, er kann in seinem Team noch jemanden gebrauchen?«, fragte Jaz. »Ich bin ziemlich gut im Geisterbändigen. Im Training hab ich sogar schon mal einen Wiedergänger vernichtet. Nicht ganz alleine, aber im Team. Ich bin wirklich gut. Das kann ich ihm gerne beweisen. Und er müsste mir auch nichts zahlen. Wenn er irgendwo einen Schlafplatz und eine warme Mahlzeit am Tag für mich hat und ich neben der Arbeit Zeit bekomme, um mein Abi zu machen, helfe ich ihm und seinen Leuten gerne.«

»Ich glaube, wir hätten da einen besseren Vorschlag«, schaltete Sue sich ein, bevor Gabriel antworten konnte. Sie blickte kurz zu Phil und Edna und beide nickten.

»Welchen?« Eigentlich fand Jaz ihre eigene Idee ziemlich klasse – vorausgesetzt natürlich, dieser Matt spielte mit und gab ihr eine Chance.

»Du bleibst bei uns. Du kannst deinen Abschluss machen und dich im nächsten Jahr bei der Polizeischule bewerben. Wir haben Kontakte, mit denen es sicher kein Problem sein wird, dass du dort aufgenommen wirst.«

 

Verdattert starrte Jaz erst Sue an, dann Phil und Edna.

Das war … zu schön, um wahr zu sein.

Oder?

Ella lächelte mitfühlend, als sie Jaz’ perplexes Gesicht sah. »Komm schon. Sag ja. Dann könntest du mit Jules, Cam und mir zur Schule gehen. Das wäre genial!«

Ungläubig blickte Jaz von einem zum anderen. »Ihr geht auf eine ganz normale Schule?«

»Yep, seit dieser Woche. Ist ziemlich cool«, antwortete Ella. »Und ich wette, unsere Direktorin ist einverstanden, dass du auch an die Ravencourt kommst. Sie ist echt nett.«

Jaz blickte zu Sue und Phil. »Ich – ich würde Ihr Angebot wirklich gerne nehmen, aber was wollen Sie denn an Miete für das Zimmer haben? Ich hab noch keinen Job und ich weiß nicht, wie schnell ich einen finde. Allerdings … « Sie zog den Briefbeschwerer aus der Hosentasche und legte ihn auf den Tisch. »… könnte ich Ihnen den hier solange als Pfand geben.«

Vielleicht war das Ding jetzt ja doch noch zu etwas gut.

»Wow.« Connor nahm die kleine Walnusshälfte und begutachtete sie. »Das ist echtes Silber.«

»Wo hast du das her?«, wollte Phil wissen.

Jaz mied seinen Blick. »Aus der Bibliothek der Akademie.«

»Also ist es gestohlen.«

Noch immer wich Jaz seinem durchdringenden Blick aus und zuckte gespielt unbekümmert die Schultern. »Kein Mensch brauchte das Ding dort. Es lag da bloß so rum.«

Sue atmete tief durch. »Es ist trotzdem Stehlen.«

Jaz verzog das Gesicht, behielt einen weiteren Kommentar aber lieber für sich. Das hier war eine unglaubliche Chance und die wollte sie sich nicht vermasseln.

»Du musst uns für das Zimmer nichts zahlen«, sagte Phil. »Auch nicht fürs Essen oder dafür, dass du die Waschmaschine benutzen darfst. Das Einzige, was wir von dir erwarten, ist, dass du hier im Haushalt und im Garten ein paar Pflichten übernimmst – so wie wir anderen auch.«

»Außerdem gibt es ein paar Regeln.« Sue nahm den Briefbeschwerer an sich. »Es wird nichts mehr gestohlen oder sonst irgendwas angestellt, das dir Ärger mit der Polizei einbringen könnte. Außerdem setzt du deine Kräfte niemals ein, um einem Menschen zu schaden. Du drohst auch niemandem damit. Sollte dich jemand angreifen, darfst du dich natürlich verteidigen, aber niemals so, dass du denjenigen tötest. Wenn diese Regeln für dich in Ordnung sind, würden wir uns freuen, wenn du bei uns bleibst.«

Jaz musste heftig schlucken. »Ich – weiß nicht, was ich sagen soll«, brachte sie schließlich mühsam hervor.

»Vielleicht, dass du dich an die Regeln hältst, hier mit uns Haushalt und Garten rockst und bei uns bleibst?«, schlug Ella grinsend vor.

Unvermittelt musste Jaz ebenfalls grinsen. »Ja, ich würde gerne hierbleiben.« Sie blickte wieder zu Sue und Phil. »Und natürlich halte ich mich an die Regeln und helfe hier mit. Aber warum sind Sie so nett zu mir?«, fragte sie dann. »Sie kennen mich doch gar nicht.«

»Aber ich war in einer ähnlichen Situation wie du, als ich in deinem Alter war«, antwortete Sue. »Ich habe es in der Akademie zwar ausgehalten, bis ich achtzehn war und meinen Abschluss hatte, aber damals waren die Zeiten für Totenbändiger noch viel schwieriger als heute. Niemand hat mir einen Job oder ein Zimmer gegeben. Genau wie du musste ich mich auf der Straße durchschlagen und wurde bei einer ähnlichen Aktion erwischt wie du heute. Zum Glück von Menschen, die mir eine Chance gegeben haben und ohne die ich vermutlich untergegangen wäre.«

Sie streckte ihre Hand über den Tisch und drückte Ednas.

Edna schüttelte bloß den Kopf und erwiderte Sues Händedruck liebevoll.

»Ich hab mir damals geschworen, selbst Chancen zu geben, wenn ich helfen kann.« Sue blickte wieder zu Jaz. »Und ich glaube, du hast eine verdient.«

In Jaz’ Hals steckte ein dicker Kloß und ihre Stimme klang ziemlich kratzig, als sie leise »Danke« murmelte.

Sue lächelte. »Okay, ich denke, damit haben wir erst mal alles Wichtige geklärt. Morgen fahren wir zur Akademie und holen deine Papiere und den Rest deiner Sachen. Das bisschen, was du in deinem Rucksack dabeihast, kann ja nicht alles sein, was du besitzt, oder?«

Sofort schüttelte Jaz alarmiert die Kopf. »Nein, ich gehe auf gar keinen Fall in die Akademie zurück! Was, wenn Master Carlton mich dann dort behält? Meine Sachen sind mir egal!«

»Aber wir brauchen deine Papiere, um dich an der Ravencourt anmelden zu können. Und wir sollten den hier zurückbringen, bevor Cornelius dich wegen des Diebstahls anzeigt.« Sue nahm den kleinen Briefbeschwerer an sich, mit dem Connor noch immer herumspielte.

Jaz schnaubte und sah alles andere als glücklich aus.

Sue schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln. »Keine Sorge, wir kriegen das schon hin. Wir fahren morgen Nachmittag, dann kannst du dich erst mal ausschlafen, und ich hab Zeit, vorher noch ein paar Dinge zu regeln, damit nichts schiefgehen kann, wenn wir dich offiziell zu uns holen. Vertrau mir, okay?«

Genau das war das Problem. Vertrauen war nicht leicht. Und es ging nicht einfach so.

Jaz sah zu Cam. Der erwiderte ihren Blick und wieder sah sie in seinen Augen, dass er ganz genau wusste, was in ihr vorging. Er sagte nichts, hielt nur still ihren Blick und nickte.

Jaz atmete tief durch. Dann schaute sie zurück zu Sue. »Okay. Und – danke.« Sie sah von Sue zu Phil und Edna. »Für alles.«

Phil schüttelte abwinkend den Kopf. »Dafür nicht. Willkommen in unserem Zuhause.«

Zuhause …

Schon wieder war da dieser blöde Kloß in ihrem Hals und Jaz musste heftig schlucken.

Mann, was war denn los mit ihr? So verdammt rührselig war sie doch sonst nicht.

Sie fuhr zusammen, als Ella plötzlich ihre Hand nahm und sie vom Stuhl zog. »Apropos Zuhause. Komm. Ich zeig dir jetzt erst mal den Rest vom Haus.«