Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 9


Freitag, 6. September

DEEP INTO THAT DARKNESS PEERING,

LONG I STOOD THERE WONDERING, FEARING,

DOUBTING, DREAMING DREAMS

NO MORTAL EVER DARED TO DREAM BEFORE …

Vielleicht ging er die Sache mit den verdammten Albträumen völlig falsch an.

Gedankenverloren strich Cam sich über den Arm.

Vielleicht sollte er sich nicht jeden Abend wünschen, dass sie wegblieben, sondern dass sie kamen. Wenn er sie einlud und sich ihnen ganz bewusst stellte, würde er sich dann vielleicht an sie erinnern können?

»Hey.« Evan stupste ihn mit seinem Bleistift. »Nimmst du an dieser Gruppenarbeit noch teil oder hast du dich gedanklich schon ins Wochenende verabschiedet?«

Es war Freitagnachmittag und neunzig Prozent ihrer Mitschüler waren nach Schulschluss schneller verschwunden als man gucken konnte. Der Rest hatte sich nach und nach getrollt. Cam dagegen saß noch immer mit Evan und Ella im Medienraum und erledigte die kreative Schreibaufgabe, die Mr Morris, ihr Literaturlehrer, ihnen gestellt hatte: Sie sollten sich ohne Vorgaben ein Gedicht aussuchen und um die Geschichte, die das Gedicht erzählte, eine eigene Rahmengeschichte herumschreiben. Dabei war es egal, ob das Gedicht am Anfang, in der Mitte oder am Ende ihrer Geschichte stand, es musste nur mit der Bedeutung jeder Zeile und mit seiner Gesamtaussage in ihre eigene Geschichte hineinpassen. Cam fand das eine ziemlich coole Aufgabe und noch cooler war das Gedicht, das Evan vorgeschlagen hatte: The Raven von Edgar Allan Poe, in dem ein Mann nach dem Verlust seiner Geliebten mit Trauer, dunklen Gedanken und überreizten Nerven kämpft und eines Nachts von einem unheimlichen Raben in den Wahnsinn getrieben wird.

Einige der Textzeilen sprachen Cam auf eine Weise an, wie es Gedichte nur äußerst selten schafften.

Weniger cool war, dass sie nur diesen Freitag als gemeinsamen Nachmittag gefunden hatten, um ihre Rahmengeschichte zu schreiben.

Cam verzog das Gesicht. »Sorry, nein, ich bin noch da. War nur eine verdammt lange Woche.« Er reckte sich auf seinem Stuhl und kratzte sich wieder den Arm.

Die Schnitte heilten, juckten aber wie blöde.

Evan musterte ihn. »Das glaub ich dir sofort.« Die dunklen Schatten unter Cams Augen waren nicht zu übersehen. »Und es tut mir leid, dass wir das alles nur meinetwegen heute noch machen mussten.«

»Schon okay.« Ella tippte den letzten Absatz ihrer Geschichte, den sie und Evan gerade formuliert hatten, in den Laptop. »Ist doch schön, dass deine Cousine am Wochenende heiratet.«

Evan schnaubte. »Das sagst du nur, weil du meine Familie nicht kennst. Seit Monaten gibt es kein anderes Thema mehr als diese blöde Hochzeit. Und du glaubst gar nicht, wie oft und wie lange man in unterschiedlichen Kombinationen miteinander telefonieren kann, um gemeinsam darüber zu jammern, dass es seit zwei Tagen dauerregnet.« Er verdrehte die Augen. »Als ob schönes Wetter am Hochzeitstag eine Garantie dafür ist, dass die Ehe halten wird.«

Cam grinste. »Wenn deine Familie um die Hochzeit so einen Aufstand macht, ging Petrus das ganze Tamtam vermutlich irgendwann auch auf den Keks und er lässt es deshalb jetzt schütten ohne Ende.«

»Toll«, meinte Evan ironisch. »Und warum bestraft er damit auch mich? Ich bin derjenige, der sich das ganze Gejammer nachher beim Abendessen wieder anhören muss.«

Übertrieben leidend stützte er die Ellbogen auf die Tischplatte und vergrub sein Gesicht in den Händen.

»Sieh es positiv«, versuchte Cam ihn aufzumuntern. »Es gibt bestimmt leckeres Essen, wenn sie die Feier so gut durchgeplant haben. Und Hochzeitstorte.«

»Ein schwacher Trost.« Mit einem abgrundtiefen Seufzen tauchte Evan wieder aus seinen Händen auf. »Ich würde am Wochenende jedenfalls bedeutend lieber in London bleiben. Die Gesellschaft hier ist viel reizvoller.« Er warf einen spitzbübischen Blick zu Cam. »Und leckeres Essen gibt es hier auch. Ich kann dir gerne mal ein paar meiner Favoriten zeigen, wenn du willst. Auf was stehst du denn so? Gibt es Sachen, die du besonders gerne magst? Oder müssen wir auf irgendwelche Allergien oder Unverträglichkeiten aufpassen?«

Hinter dem Laptopbildschirm biss Ella sich auf die Lippen, um nicht zu offensichtlich zu grinsen, als sie den Blick sah, mit dem Evan Cam anschaute. Still vergnügt tippte sie die Schlusssätze.

»Ehm, nein – ich –«

Ein Klopfen an der Tür des Medienraums rettete Cam davor, weiterreden zu müssen.

Mr Fisher, der Hausmeister der Ravencourt Comprehensive School, kam zu ihnen herein. »Tut mir leid ihr drei, aber es ist gleich sechs und ich muss euch so langsam hier rausschmeißen.«

»Kein Problem«, sagte Ella sofort. »Wir sind fertig. In fünf Minuten sind wir hier weg.«

»Gut. Dann schließe ich schon mal die Seitentüren ab und wir treffen uns vorne am Haupteingang.«

»Okay. Danke, dass wir hier arbeiten durften.« Evan begann seine Sachen in seinen Rucksack zu stopfen.

»Kein Problem.« Der Hausmeister zog einen dicken Schlüsselbund aus seiner Hosentasche und verschwand damit klimpernd auf dem Gang.

»Wie weit bist du?«, fragte Evan an Ella gewandt. »Ich kann die Geschichte heute Abend zu Ende schreiben, wenn noch was fehlt. Gibt mir eine hervorragende Entschuldigung, um die gemeinsame Abendessenszeit knapp zu halten, wenn mir das Hochzeitsgelaber zu viel wird.«

»Sorry, aber die Ausrede wird nicht funktionieren. Ich hab den Text fertig. Lenore hat ihren Tod nur vorgetäuscht und den Raben zum Ich-Erzähler geschickt, um ihn in den Wahnsinn zu treiben.« Ella fuhr den Laptop herunter. »Ich hab euch den Text zugeschickt, dann kann ihn jeder von uns noch mal gegenlesen und Änderungen vorschlagen.«

»Perfekt. Dann hab ich ja doch eine Ausrede.« Evan griff nach seiner Tasche und stutzte, als sein Blick zufällig auf Cams Ärmel fiel. Am linken Unterarm war das Hemd voller kleiner Blutflecken. »Hey, was ist mit deinem Arm? Hast du dich verletzt?«

Shit.

Verärgert über sich selbst wischte Cam über den Ärmel, änderte damit an den Flecken aber natürlich gar nichts.

Warum mussten die blöden Hemden der Schuluniform auch weiß sein? Zuhause trug er nur schwarz, da fiel es nicht weiter auf, wenn er an den Schnitten kratzte. Aber in der Schule musste er echt besser aufpassen.

»Das sind bloß Kratzer vom Spielen mit unserem Kater«, tat er es ab und nahm seinen Rucksack. »Er ist noch ein Kitten und ziemlich ungestüm. Deshalb fließt manchmal ein bisschen Blut, weil er seine Kräfte noch nicht einschätzen kann. Aber er meint es nicht böse.«

Gedanklich entschuldigte er sich bei Holmes, fand die Ausrede mit den Katzenkratzern aber eigentlich ziemlich genial.

»Klingt nach einem kleinen Tiger«, meinte Evan, als die drei den Medienraum verließen.

»Eigentlich ist er eher ein Panther.«

Evan deutete zur Klotür. »Willst du dich waschen?«

»Quatsch. Es sind nur Kratzer und das Hemd geht sowieso in die Wäsche. Und Mr Fisher sollte nicht noch länger auf seinen Feierabend warten.«

Sie holten ihre Jacken aus den Spinden und verabschiedeten sich vom Hausmeister, der am Haupteingang auf sie wartete und die Schule abschloss, nachdem alle das Gebäude verlassen hatten.

Kalter Wind blies ihnen entgegen und Regen fiel in dichten Schleiern auf London herab. Es war erst sechs Uhr und trotzdem schon recht dunkel. Die Magnesiumlaternen auf dem Schulhof brannten bereits, genauso wie die Straßenlampen.

»Na toll.« Grummelnd zog Evan sich die Kapuze seiner Regenjacke über.

Die drei rannten über den Schulhof zur Straße und suchten Schutz unter dem Häuschen der Bushaltestelle.

»Kommst du sicher nach Hause?«, fragte Cam. »Gibt es überall Straßenlaternen auf deinem Weg?«

Evan nickte. »Sind allerdings nicht die Zuverlässigsten. Sobald es Stromschwankungen im Netz oder Probleme mit der Versorgung gibt, fällt die Beleuchtung bei uns gerne mal aus.«

»Und dagegen macht keiner was?« Ella runzelte die Stirn. »Das kann doch echt gefährlich sein.«

Evan hob die Schultern und verfiel in einen sarkastischen Zitierton. »Die Stadtwerke bitten um Verständnis, dass es in einer so großen Stadt wie London manchmal zu Engpässen kommen kann, und sie an erster Stelle sicherstellen müssen, dass öffentliche Gebäude wie Krankenhäuser, Pflegeheime, Schulen und Kindergärten sowie wichtige Straßenzüge und andere Orte des öffentlichen Interesses einwandfrei versorgt werden. Ach ja, und selbstverständlich die Viertel der Schönen und Reichen«, fügte er spöttisch hinzu. »Aber das steht natürlich nicht in den tollen Mitteilungen, die man uns Durchschnittsbürgern in den ganz normalen Wohnvierteln jedes Jahr vor der dunklen Jahreszeit zuschickt. Bekommt ihr die nicht?«

»Nope«, antwortete Ella. »Jedenfalls nicht, dass ich wüsste. Aber in unserer Straße gibt es auch keine Laternen. Vielleicht liegt es daran.«

»Jetzt echt? Wo wohnt ihr denn?«

»In einer kleinen Sackgasse direkt am Wald vom Hampstead Heath. Die ist zu unbedeutend, als dass die Stadt dort Geld in eine Straßenbeleuchtung investieren würde.«

»Aber wenn eure Straße direkt am Wald liegt, ist das doch echt gefährlich, oder nicht?« Verwundert schüttelte Evan den Kopf. »Habt ihr dann nicht ständig zur Dämmerzeit Geister bei euch?«

Ella wischte sich einen Regentropfen von der Nase. »Manchmal. Aber unsere Häuser sind alle mit Eisenzäunen geschützt, deshalb machen Geister meistens einen Bogen um uns und verlassen den Wald an anderen Stellen.«

 

»Meistens?« Evan hob eine Augenbraue. »Meistens heißt nicht immer.«

»Von den stärkeren Geistern traut sich schon hin und wieder einer in unsere Straße.« Doch Cam zuckte bloß mit den Schultern. »Aber dadurch ist der Wald ein cooles Trainingsgelände.«

Jetzt wanderte auch Evans zweite Augenbraue in die Höhe und er sah zwischen Ella und Cam hin und her. »Trainingsgelände? Das heißt, ihr geht da raus und übt das Geistervernichten?«

»Ja klar«, antwortete Cam, als wäre das selbstverständlich. »Bloß, weil wir unsere Fähigkeiten haben, heißt das ja nicht, dass wir auch automatisch damit umgehen können. Das ist wie beim Sport. Man muss trainieren. Und je öfter man es macht, desto besser wird man.«

»Wow«, meinte Evan sichtlich beeindruckt. »Darüber hab ich mir ehrlich gesagt noch nie Gedanken gemacht. Kann ich da mal mitkommen? Ich würde wahnsinnig gerne sehen, wie du ein paar Geister plattmachst.«

Cam schüttelte den Kopf. »Nein. Das ist zu gefährlich.«

Ella verdrehte innerlich die Augen.

Himmel, manchmal schnallte Cam echt gar nichts.

»Nicht unbedingt.« Sie spießte einen bedeutungsschweren Blick in ihren Bruder, den dieser allerdings nur mit einem verständnislosen Stirnrunzeln quittierte.

Jungs, echt ey.

Diesmal beschränkte Ella sich nicht bloß auf ein innerliches Augenrollen. »Wir könnten Connor fragen, ob er Evan seine Silberweste leiht. Damit wäre er gut genug geschützt. Connor ist ein Normalo wie du«, fügte sie erklärend für Evan hinzu. »Er wohnt bei uns und arbeitet zusammen mit unseren älteren Geschwistern in einer Spuk Squad der Metro Police. Für seine Einsätze hat er eine Silberweste, die ihn vor Geisterberührungen schützt. Er leiht sie dir bestimmt, wenn wir sagen, dass du mal zum Training mitkommen willst.«

»Cool!« Evan schien ehrlich begeistert. »Ich bin gespannt. Ich hab noch nie einen Geist aus der Nähe gesehen, geschweige denn, wie einer gebändigt wird. Ich kenne das nur aus den Berichten und Videos, die man immer mal wieder in den Medien sieht.«

»Na ja«, meinte Cam. »Die meisten Menschen wollen ja auch eher nichts mit Geistern zu tun haben und machen eigentlich einen Bogen um sie.«

Evan grinste verschmitzt. »Ich bin aber nicht wie die meisten Menschen. Hast du das noch nicht gemerkt?«

Der Blick, mit dem er Cam dabei ansah, gefiel Ella ziemlich gut. Cam dagegen schien nur verwirrt und planlos, was er darauf erwidern sollte.

Zum Glück bogen aber gerade ihre Busse von der Kreuzung ein. Schnell zogen die drei sich wieder ihre Kapuzen über und stellten sich ans Halteschild.

»Hast du eine Taschenlampe dabei?«, fragte Ella. »Wenn bei euch ständig die Straßenbeleuchtung ausfällt, können wir sonst auch mit dir fahren und dich heimbringen.«

»Nee, alles gut. Ich hab immer eine Lampe dabei.« Evan knuffte ihr freundschaftlich gegen die Schulter. »Aber danke, dass du dir Sorgen um mich machst.«

»Hallo? Ist doch wohl klar. Komm gut heim und ich hoffe, du hast am Wochenende zumindest ein bisschen Spaß auf der Hochzeit.«

Evan verzog das Gesicht. »Ich wage es zu bezweifeln.« Er blickte zu Cam. »Aber dafür machen wir nächstes Wochenende irgendwas Cooles, ja? Bis Montag!«

Die Busse hielten und Evan stieg in den ersten, der in eins der umliegenden Wohngebiete fuhr. Ella und Cam nahmen den zweiten Richtung Hampstead Heath.

Im Bus war es voll und stickig und Cam war froh, als sie nach schier endlosen zwanzig Minuten endlich an ihrer Haltestelle ankamen. Es regnete immer noch, deswegen sparten sie sich den Umweg zur Ampel und flitzten waghalsig quer durch den Feierabendverkehr über die Hauptstraße.

»Okay«, begann Ella, als sie in eine der ruhigeren Seitenstraßen einbogen, die zu den Wohnvierteln führten, und sie allein waren. »Da Subtext offensichtlich nicht so deine Stärke ist, spare ich mir die Mühe, dich subtil auf den Weg der Erkenntnis zu führen und rede Klartext, okay?«

»Hä?«

»Du merkst schon, dass Evan versucht, mit dir zu flirten, oder?«

Cam verzog das Gesicht und seufzte. »Ja, ich – weiß nicht, warum er das tut. Er kennt mich doch eigentlich gar nicht.«

Ungläubig schüttelte Ella den Kopf. »Echt jetzt? Mann, aber genau darum geht es doch! Man trifft jemanden, mag ihn, findet ihn süß und will ihn kennenlernen. Deshalb flirtet man. In der Hoffnung dabei herauszufinden, ob man zusammenpasst und ob vielleicht mehr daraus werden könnte.«

Cam schüttelte den Kopf. »Aber ich will nichts von Evan. Ich will –« Er brach ab und kickte im Laufen unwirsch Wasser aus einer Pfütze.

Ein Kombi fuhr an ihnen vorbei, als sie die letzte Straßenlampe passierten, und bog zwanzig Meter vor ihnen in den Crescent Drive ab.

Ella seufzte. »Hey, ich weiß, dass du lieber mit Jules zusammen wärst, und ich sag ja auch nicht, dass das nicht vielleicht auch möglich wäre. Irgendwann, in zehn Jahren oder so. Du bedeutest Jules verdammt viel. Aber im Moment will er einfach andere Sachen als du. Dir ist doch klar, dass er und Stephen heute nicht bloß zusammen an der Gedichtgeschichte für Mr Morris arbeiten. Und du weißt auch, dass Jules in den Sommerferien was mit Alan und Lisa aus seiner Clique im Park hatte. Also warte nicht auf ihn. Und zieh dich nicht so sehr von allen zurück. Du hängst in den letzten Wochen viel zu oft alleine in deinem Zimmer herum oder verschwindest zum Joggen. Ich weiß, du stehst nicht so auf Menschen, aber dieses viele Alleinsein tut dir nicht gut.«

Cam grub seine Hände tief in die Jackentaschen und schwieg.

Sie bogen in den Crescent Drive ein, an dessen Ende ihr Zuhause lag und der Wald des Heath begann. Der Kombi hatte in der Einfahrt ihres Nachbarhauses geparkt und im Licht der Scheinwerfer sahen die beiden, wie Linda Archer aus dem Wagen stieg und durch den Regen zum Garagentor eilte. Die Hintertür des Autos ging auf und ein kleiner Junge kletterte heraus, gefolgt von einem Mädchen.

Sam und Lily.

Ella passte manchmal auf die zwei auf.

Sam sprang vergnügt in eine Pfütze, die sich auf der Einfahrt gebildet hatte, und Lily machte sofort begeistert mit.

»Hör zu«, begann Ella. »Ich weiß, du brauchst immer ein bisschen, bis du anderen Leuten vertraust. Und das ist völlig okay. Aber gibt Evan eine Chance. Du musst ja nicht gleich wild mit ihm rumknutschen oder Sex haben, wenn das nicht dein Ding ist. Aber trefft euch doch einfach mal außerhalb der Schule und verbringt ein bisschen Zeit miteinander.« Sie rempelte ihren Bruder liebevoll an. »Wer weiß, was dann passiert?«

Cam verzog das Gesicht, doch seine Antwort blieb ihm im Hals stecken, als Sam und Lily plötzlich panisch aufschrien. Erschrocken sah er zur Einfahrt.

Ein schwarzer Schatten schoss aus der Dunkelheit und stürzte sich auf die Kinder.

Kapitel 10


Der Schatten hüllte die beiden Kleinen ein und erstickte augenblicklich ihre Schreie. Dafür schrie jetzt Linda auf und stürzte die Einfahrt hinunter.

Ella und Cam rannten los.

»Linda, nein! Bleib zurück!«

»Lily! Sam!« Linda war völlig hysterisch, blieb zum Glück aber auf Abstand zum Geist. »Helft ihnen! Bitte! Holt sie da raus!«

Schon im Rennen bündelte Cam seine Energie.

Der Schattengeist war riesig. Sicher gute zweieinhalb Meter. Grob bildete er menschliche Umrisse, doch er war breiter, seine Konturen waberten und er schien aus nichts als undurchdringlicher Schwärze zu bestehen.

Von Sam und Lily war nichts mehr zu sehen.

Cam warf einen hastigen Blick zu Ella. »Wir reißen ihn auseinander, okay?«

Sie nickte knapp. Silbernebel wirbelte angriffsbereit um ihre Finger.

»Jetzt!« Cam ließ seine Energie auf den Schatten los.

Nebelfäden verästelten sich wie ein vielzackiger Blitz und krallten sich in die Schwärze. Auf der anderen Seite des Geistes tat Ella dasselbe, dann zerrten beide an der Todesenergie des Schattens.

Cam merkte sofort, wie stark ihr Gegner war – und die reine, pure Lebensenergie, die er den beiden Kindern raubte, machte ihn noch stärker.

Unbändige Wut rauschte durch Cams Körper. Er hasste dieses Drecksbiest dafür, dass es sich an unschuldigen Kinder vergriff, die sich kein bisschen wehren konnten.

Cam zerrte mit aller Kraft, die in ihm war. Spürte kaum die eisige Kälte, als die Todesenergie in seinen Körper drang. Hass und Wut brodelten so heiß, dass sie sie niederrangen und neutralisierten. Voller Genugtuung sah Cam, wie der Schatten allmählich durchscheinend wurde.

Das Biest wurde schwächer.

Cam konnte Sam und Lily in seinem Inneren sehen. Sie schwebten einen knappen Meter über dem Boden in der Schwärze und schienen bewusstlos zu sein.

Hoffentlich.

Sie durften nicht tot sein.

Sie waren noch so jung. Erst drei und fünf.

Ihre Leben durften einfach noch nicht vorbei sein, bloß weil dieser beschissene Geist sie erwischt hatte!

Wieder zerrte Cam mit aller Macht.

Seine Hände brannten vor Kälte, als er noch mehr Todesenergie in sich hineinzog. Er spürte den Zorn des Schattens, fühlte, wie die Kreatur dem Ende bewusst versuchte, den Spieß umzudrehen und Cam seine Energie zu rauben.

Vergiss es!

Grimmig presste er die Kiefer aufeinander.

Er würde dieses verfluchte Biest garantiert nicht gewinnen lassen!

Ihm gegenüber kämpfte Ella genauso entschlossen.

Gemeinsam mussten sie es einfach schaffen!

Wieder zerrte Cam eine Woge Todesenergie in sich hinein, löschte sie mit seinem silbernen Leben, griff nach noch mehr Tod – und plötzlich riss der Schatten auseinander.

Ella und Cam stolperten zurück, als ihre Silbernebel auf einmal ins Leere griffen, und Sam und Lily fielen reglos auf die regennasse Einfahrt.

Der Geist war zerfetzt.

Sie hatten es geschafft!

Ein paar letzte schwarze Schwaden zerfaserten ins Nichts, doch dafür hatte weder Cam noch Ella einen Blick übrig. Sie stürzten zu den beiden Kinder, legten ihre Hände auf ihre Stirn und suchten nach der Lebensenergie der Kleinen.

»Was ist mit ihnen?« Völlig aufgelöst kauerte Linda sich neben sie.

»Sind sie –« George brach ab, unfähig, den Satz zu Ende zu sprechen.

Cam hatte gar nicht mitbekommen, dass er aufgetaucht war. Er musste im Haus gewesen sein und die Schreie seiner Familie gehört haben.

»Lily lebt.« Ella hatte ihre Hände um die Stirn der Fünfjährigen gelegt.

»Sam auch. Aber nur noch gerade so.«

Die beiden Eltern keuchten erleichtert auf.

»Bitte, könnt ihr ihnen helfen?«, schluchzte Linda.

Cam schickte bereits Lebensenergie in Sam, konnte sich aber nicht gut genug konzentrieren, weil er gleichzeitig die Umgebung absuchte.

Wenn hier ein verdammter Geist gelauert hatte, konnte es auch noch andere geben.

»Klar«, sagte Ella sofort. »Aber wir müssen ins Haus. Geister lieben Kinder und wir sind hier sechs Leute auf einem Haufen. Wenn wir hierbleiben, locken wir noch mehr Biester an.«

»Verdammt, natürlich! Kommt rein!«

Rasch nahm George seine Tochter auf den Arm, Linda ihren Sohn und sie hetzten ins Haus.

Cam wollte hinterhereilen, spürte aber, wie ihm beim Aufstehen schwindelig wurde, sodass er es langsamer angehen lassen musste, als ihm lieb war. Ella half ihm auf und sie stolperten so schnell sie konnten hinter George und Linda her ins Wohnzimmer der Familie.

Sam und Lily brauchten sie.

Wenn der Schatten sie zu sehr geschwächt hatte, bestand auch jetzt noch die Gefahr, dass ihre Herzen aufhörten zu schlagen.

»Was können wir tun?«, fragte George hektisch, als er Lily auf dem Sofa abgelegt hatte.

»Ruft bei uns zu Hause an und sagt Mum und Dad, dass sie herkommen sollen.« Ella hockte sich neben Lily.

Cam tat dasselbe bei Sammy, den Linda ans andere Ende des Sofas gelegt hatte. Der Kleine war kreidebleich. Hastig zog Cam den Reißverschluss von Sams Jacke auf, ließ seine linke Hand unter den Pullover des Kleinen gleiten und legte sie auf sein Herz. Mit der rechten berührte er wieder Sammys Stirn. Dann schloss er die Augen und blendete alles andere um sich herum aus.

 

Der Körper unter seinen Händen war eiskalt. Aber da war ein Herzschlag. Nur ganz schwach, doch das war alles, was Cam brauchte. Er bündelte seine eigene Lebensenergie und schickte sie zu Sammys Herz. Legte jede Menge Wärme hinein, um die Kälte zu vertreiben, und strich mit den Fingern sanft über Sammys Stirn. Er dachte an Sonnenschein, heißen Kakao mit bunten Marshmallows und warme Kuscheldecken vor einem fröhlich knisternden Kaminfeuer. Die Bilder schickte er Sam, in der Hoffnung, dass der Kleine merkte, dass jetzt etwas Gutes passierte und er keine Angst mehr haben musste. Und plötzlich spürte er, wie Sammys Herz kräftiger zu schlagen begann.

Cam wurde fast schwindelig vor Erleichterung.

Er hatte es geschafft!

Rasch schickte er mehr von sich durch Herz und Stirn des Kleinen.

Komm schon, Sammy! Du musst wieder aufwachen!

Es war ein unglaubliches Gefühl, jemandem Lebensenergie zu schenken. Cam merkte zwar, dass es ihn auslaugte, doch es tat seiner Seele gleichzeitig unfassbar gut und er konnte fühlen, wie es Sam immer besser ging, wie er wieder stärker wurde und –

»Cam, das ist genug.«

Er fuhr heftig zusammen, als Sues Stimme plötzlich direkt neben ihm erklang, und riss die Augen auf.

Böser Fehler.

Heftiger Schwindel hob die Welt um ihn herum aus den Angeln. Alles schien zu schwanken. Grelle Lichtpunkte flackerten vor seinen Augen und mörderische Kopfschmerzen bohrten sich durch seine Schläfen.

Er keuchte auf.

»Schon okay. Du bist nur erschöpft.« Beruhigend strich Sue ihm über die Schulter und legte ihre Hand über Cams, die noch immer auf Sammys Stirn lag. »Trenn die Verbindung zwischen euch.«

»Nein«, murmelte Cam. »Er muss wieder aufwachen.«

»Das wird er«, versprach Sue. »Aber du hast jetzt genug für ihn getan, den Rest übernehme ich.« Liebevoll zauste sie ihrem Sohn durch die regennassen Haare. »Du hast ihm das Leben gerettet, aber jetzt musst du an dein eigenes denken. Also lass ihn los. Ich sorge dafür, dass Sammy aufwacht.«

Cam spürte eine Welle von Übelkeit und merkte, wie er zitterte.

Sue hatte recht.

Sein Körper warnte ihn davor, dass seine Energiereserven zur Neige gingen.

Er schloss die Augen. Sam wollte ihn nicht loslassen, was es nur umso schwerer machte, die Verbindung zu trennen.

Aber es musste sein.

Sanft, aber bestimmt löste Cam sich von dem Kleinen und ließ seinen Silbernebel verebben. Er öffnete seine Augen wieder und wollte seine Hände zurückziehen, um Sue Platz zu machen, damit sie Sammy helfen konnte. Doch seine Arme schienen plötzlich Tonnen zu wiegen.

»Gabriel.« Sue warf einen kurzen Blick zu ihrem Ältesten.

Zwei Hände packten Cam unter den Armen und Gabriel zog ihn von der Couch fort. Cam hätte dagegen protestiert, doch die Bewegung ließ seine Kopfschmerzen explodieren und er brauchte all seine verbliebene Kraft, um die Übelkeit in Schach zu halten. Es wäre megapeinlich gewesen, wenn er George und Linda vor den Kamin gekotzt hätte.

»Atme langsam und gleichmäßig.« Gabriel lehnte Cam gegen einen der Kaminsessel und legte ihm eine Hand auf die Stirn. »Es wird gleich besser.« Er nahm Cams Hand. »Nimm dir alles, was du brauchst.«

Die Berührungen gaben Wärme und Cam merkte plötzlich, wie verflixt kalt ihm war. Er fühlte die Energie, die Gabriel ihm versprach, blockte ihn aber trotzdem ab und ließ die Verbindung nicht zu.

»Musst du heute Nacht noch arbeiten?«, fragte er matt. »Dann darfst du mir keine Energie geben. Das wäre zu gefährlich.«

Gabriel schnaubte. »Kleiner, was glaubst du wohl, was mir wichtiger ist? Du oder mein Job?« Bedeutungsvoll bohrte er seinen Blick in Cams. »Aber keine Sorge. Ich hab frei. Wir haben diese Woche so viele Doppelschichten geschoben, dass der Commander uns erst am Montag wiedersehen will. Also wehr dich nicht und lass mich dir helfen.«

Cam gab nach und ließ die Verbindung zu. Gabriel behielt seine Hand auf Cams Stirn, bis Kopfschmerzen und Schwindel verschwunden waren, dann zog er sie zurück, hielt aber mit der anderen weiter Cams Hand und half ihm, seine Kräfte zu regenerieren.

Müde lehnte Cam den Kopf gegen das Sitzkissen des Sessels und schaute zu Sammy hinüber. Sue kniete neben der Couch und hatte ihre Hände auf Herz und Stirn des Kleinen gelegt, um ihm beim Aufwachen zu helfen. Am anderen Ende der Couch hockte Phil bei Lily und hatte die Kleine gerade untersucht. Die Fünfjährige war bereits wieder wach, schmiegte sich in die Arme ihre Mum und grinste, als Phil ihr erklärte, dass planschen in der Badewanne die beste Medizin gegen Geisterkälte war, außerdem eine große Portion Abendessen, danach kuscheln mit Mum und Dad und eine heiße Milch mit Honig.

»Au ja, Honigmilch will ich nachher auch«, seufzte Ella sehnsüchtig.

Sie saß auf einem flauschigen Teppich neben dem Sofa und lehnte sich an ihre große Schwester. Sky hatte den Arm um sie gelegt und hielt Ellas Hand, doch Cam sah keinen Silbernebel zwischen den Fingern der beiden. Anscheinend brauchte Ella keine fremde Energie, um ihre Kräfte zu regenerieren. Sie sah zwar ein bisschen blass aus und war regendurchnässt, wirkte ansonsten aber völlig munter und kein bisschen so, wie Cam sich gerade fühlte – als hätte er einen stundenlangen Marathon hinter sich, gleichzeitig eine Matheklausur geschrieben und wäre am Ende von einem Boxprofi als Ganzkörper-Punching-Bag missbraucht worden.

Wie machte Ella das?! Das war absolut unfair!

George kniete bei Sue und keuchte erleichtert auf, als Sammy sich zu regen begann und die Augen öffnete.

»Hey, kleiner Mann, da bist du ja wieder.« Lächelnd strich Sue ihm über die strubbeligen Haare und trennte die Verbindung zwischen ihnen.

Sammy blinzelte sie verwirrt an und wirkte noch ziemlich benommen. Eingeschüchtert sah er zu den ganzen Leuten, die um ihn herum im Wohnzimmer versammelt waren und streckte seine Ärmchen zu seinem Daddy aus. Mit Tränen in den Augen zog George seinen Sohn an sich und setzte sich mit ihm zu Linda und Lily auf die Couch.

»Danke«, sagte er tief bewegt zu Sue, blickte dann aber vor allem zu Cam und Ella. »Ihr habt unseren Kindern das Leben gerettet.« Er drückte Sammy fest an sich und strich Lily über den Kopf. »Ich weiß nicht, wie wir das jemals wiedergutmachen können.«

»Das müsst ihr gar nicht«, winkte Ella ab. »Ist doch klar, dass wir geholfen haben.«

Phil begann behutsam, Sammy durchzuchecken, der ihn mit großen Augen musterte und sich an seinen Dad kuschelte.

»Was genau ist denn überhaupt passiert?«, fragte Connor, der am Fenster stand und den Garten im Auge behielt.

»Ich hab Lily vom Turnen abgeholt«, erzählte Linda. »Normalerweise fahre ich mit dem Wagen immer direkt in die Garage, besonders dann, wenn es schon dunkel ist. Wir haben ein elektrisches Tor und Bewegungsmelder, die im Inneren der Garage für Licht sorgen. Und von der Garage aus kann man direkt in den Hauswirtschaftsraum gehen. Es ist eigentlich wirklich alles abgesichert.«

»Seit gestern Abend funktioniert jedoch die Elektrik im Garagentor nicht mehr«, fuhr George fort. »Ich weiß nicht, was kaputtgegangen ist, aber das Tor lässt sich nur noch manuell öffnen. Ich hab heute Morgen bei der Firma angerufen, die können allerdings erst am Montag jemanden schicken.« Er schnaubte. »Und natürlich herrscht ausgerechnet jetzt Weltuntergangswetter da draußen und es ist früher dunkel geworden als sonst.«

»Ich hab den Wagen in der Einfahrt geparkt, um das Tor aufzumachen, und den Kinder gesagt, dass sie im Auto bleiben sollen, bis wir in der Garage sind«, sagte Linda. »Aber Sam kann sich mittlerweile alleine aus seinem Kindersitz befreien und da er Regen und Pfützen liebt, ist er aus dem Wagen geklettert und Lily ist ihm hinterher. Das habe ich aber nicht mitbekommen, weil ich mit dem Schloss am Garagentor zu kämpfen hatte.« Sie schluckte hart und zog ihre Tochter fest an sich. »Ich hab nur gehört, wie die beiden plötzlich geschrien haben. Und dann – dann war da dieses riesige schwarze Ding. Wie aus dem Nichts. Es hat sich auf sie gestürzt und sie umschlungen.« Wieder musste sie schlucken und kämpfte sichtlich mit den Tränen. »Es ging alles so schnell. Ich – ich konnte nichts tun.«