Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 6


Hatte sie nicht.

»Ich geb dir fünfzig.« Der Typ war um die dreißig mit Ziegenbart und zurückgegelten Haaren und legte seit Jaz den Laden betreten hatte die Art von Ich-sitze-hier-am-längeren-Hebel-Haltung an den Tag, bei der Jaz am liebsten gekotzt hätte. Im Strahl. Sie hasste Menschen, die sich für was Besseres hielten oder ihre Position ausnutzten.

Gleich danach folgten Menschen, die glaubten, man könnte sie verarschen.

Daher hob sie bei dem unverschämten Angebot nur eine Augenbraue und streckte ihre Hand nach dem Briefbeschwerer aus. »Scheint so, als wäre ich hier an der falschen Adresse, denn du hast offensichtlich keinen blassen Schimmer davon, was Silber wert ist.«

Sein Gesicht verzog sich abfällig, während er die kleine Walnusshälfte in seiner Hand wog. »Du aber schon, ja? Na, dann mach mir mal ein Gegenangebot.«

»Häng an deins noch eine Null dran.«

Er lachte auf. »Mag sein, dass das Ding hier wirklich so viel wert ist. Aber ohne Nachweispapiere und angeboten von einer Totenbändigerin, bei der ich nicht davon ausgehen, dass sie schon volljährig und damit mündig für ein Geschäft in dieser Höhe ist – träum weiter. Ich geb dir hundert.«

»Netter Versuch. Vierhundert.«

Er schüttelte den Kopf. »Hundertfünfzig. Letztes Angebot.«

Jaz schüttelte ebenfalls den Kopf. »Dann kommen wir leider nicht ins Geschäft.«

Wieder streckte sie ihre Hand nach dem Briefbeschwerer aus, doch der Typ ließ ihn in seiner Hosentasche verschwinden.

»Schade. Dann noch einen schönen Abend.« Er nickte Richtung Ladentür. »Du solltest dich beeilen, es dämmert bald.«

»Ernsthaft? Du machst jetzt einen auf Arschloch?« Jaz spürte, wie die Wut in ihr hochstieg.

Er grinste schmierig. »Aber so was von.« Seine Hand glitt unter den Tresen und als sie wieder auftauchte, hielt sie eine Pistole. »Und jetzt raus, sonst erschieße ich dich. Wenn ich behaupte, du wolltest mich ausrauben und hättest mich mit deinem Totenbändigervoodoo bedroht, glaubt das jeder sofort. Also verschwinde.«

Jaz presste die Kiefer aufeinander und deutet auf die Überwachungskamera, die den Thekenbereich filmte. »Die Aufnahmen von der da werden was anderes beweisen.«

Der Typ zuckte nur unbeeindruckt mit den Schultern. »Die funktioniert nicht. Das hier ist Brixton, Süße. Hier ist fast alles im Arsch. Also mach jetzt keinen Stress und verschwinde, wenn dir dein Leben lieb ist.«

Jaz ballte die Fäuste, doch bevor sie irgendetwas antworten konnte, flog die Ladentür auf und eine ziemlich genervt wirkende Frau Ende zwanzig zerrte einen Kinderwagen samt plärrendem Baby sowie zwei Kleinkinder mit ähnlich sonniger Stimmung über die Schwelle.

»Ken, ich brauche den Ring zurück, den ich dir Samstag gebracht hab. Stan ist ausgerastet, weil der seiner Mutter gehörte. Also hab ich ihm gesagt, er soll weniger saufen und Knete für Windeln und Essen besorgen, dann bekommt er ihn wieder. Und ob du’s glaubst oder nicht – er hat tatsächlich Knete besorgt.« Sie wandte sich um und bemerkte erst jetzt, dass Ken nicht alleine im Laden war. »Oh, sorry. Störe ich?«

Jaz musste Ken zugestehen, dass er genug Anstand besaß, die Pistole verschwinden zu lassen, sobald die Kinder den Laden betreten hatten. Er würde also vermutlich keine Szene machen, solange die Familie hier war.

Das war ihre Chance.

»Kein Problem«, sagte Jaz schnell, bevor Ken ihr dazwischenfunken konnte, und schenkte der Frau ein Lächeln. »Ich sehe mich noch um. Sie können die Sache mit Ihrem Ring gerne zuerst regeln. Scheint ja dringend zu sein.«

Die Frau erwiderte das Lächeln dankbar – bis sie plötzlich die schwarzen Linien an Jaz’ Schläfe bemerkte, die wegen ihrem Hoodie und den offenen Haaren nicht sofort ins Auge fielen.

»Oh. Du bist eine Totenbändigerin.«

»Yep.«

Die Mutter wandte sich zu ihren zwei quengelnden Kleinkindern um. »Ruhe jetzt! Das Mädchen da ist eine Hexe, die euch krank machen kann. Und wenn ihr zwei jetzt nicht endlich brav seid, sag ich ihr, dass sie genau das mit euch anstellen soll. Verstanden?«

Augenblicklich herrschte Ruhe. Selbst das Baby hatte aufgehört zu schreien. Die beiden Kleinen starrten Jaz mit großen Augen an und wichen ängstlich hinter den Kinderwagen zurück.

»Wow«, meinte Jaz. »Als Kinderschreck bin ich noch nie missbraucht worden.«

Die Mutter strich sich stöhnend die Haare aus dem Gesicht und bedachte Jaz mit einem entschuldigenden Blick. »Tut mir leid. Aber die drei rauben mir heute den letzten Nerv.« Sie nickte Richtung Ken. »Ist es wirklich okay, wenn ich rasch meinen Ring auslöse?« Sie zog ein Bündel Geldscheine aus der Hosentasche ihrer Jeans. »Geht auch ganz schnell.«

»Sicher.«

Alles, was Ken ablenkte, kam Jaz sehr gelegen, und sie trat an den Rand des Tresens, um der Mutter Platz zu machen.

Ken warf Jaz einen warnenden Blick zu, sagte aber nichts. Dann verschwand er kurz in ein Hinterzimmer, um den Ring zu holen, während die Mutter das Geld und den Pfandschein auf die Theke legte und mit Ken darüber verhandelte, ob er ihr beim Pfandkredit nicht ein bisschen entgegenkommen könnte, schließlich war der Ring ja nur zwei Tage bei ihm.

Prima. Lenk ihn ab und diskutiere gerne noch ein bisschen länger mit ihm.

Kaum dass Ken wieder hinter dem Verkaufstresen stand und mit nur mäßig verhohlener Genervtheit die Rückgabepapiere ausfüllte, ließ Jaz ihre Silberenergie in einem hauchfeinen Faden dicht über dem Boden zu ihm wandern. Das dreckige Grau des alten Linoleum bot dabei brauchbar gute Tarnung.

Ken trug alte Sneakers und Jeans. Jaz ließ ihren Silberfaden über seinen Schuh unter sein Hosenbein gleiten und stellte Hautkontakt her.

Dann begann sie, ihm seine Energie zu rauben.

Langsam.

Vorsichtig.

Nichts riskieren.

Ken durfte nichts merken, bis es zu spät war. Es waren schließlich Kinder im Laden.

Aber Jaz war gut im Energierauben. Verdammt gut. Wenn man mit einem Mistkerl wie Blaine hatte trainieren müssen, wurde man unweigerlich zum Ass.

Sie spürte ein warmes Prickeln in ihren Fingerspitzen, als sie Kens Lebensenergie durch ihren Silberfaden in sich sog. Der Tag war anstrengend gewesen und der Boost, den sie durch die zusätzliche Energie bekam, gab ihr neue Kräfte. Machte sie wieder munterer, aufmerksamer, schneller. Wie ein extra starker Kaffee kombiniert mit einem Energiedrink, der instantan wirkte.

Behutsam leitete sie noch mehr von Kens Energie in sich.

Der schob der Mutter die Papiere zum Unterschreiben hin und ließ sich von ihr auf einen niedrigeren Pfandkredit runterhandeln. Vermutlich, um sie schneller wieder loszuwerden. Er nahm ihr Geld, zählte es kurz durch und drückte ihr dann ein kleines Plastiktütchen mit ihrem Ring in die Hand.

»Nächstes Mal gibt’s keinen Nachlass, klar? Und diesmal gab’s ihn nur, weil Stan und ich alte Kumpel sind. Auch klar?«

»Ja sicher«, war die genervte Antwort. »Nächstes Mal soll Stan den Scheiß hier sowieso selbst machen. Los, Kinder. Macht die Tür auf und dann raus hier. Und kein Quengeln oder Plärren! Sonst bleibt ihr heute Nacht draußen bei den Geistern. Kapiert?« Sie manövrierte den Kinderwagen zur Tür und wuchtete ihn über die Schwelle.

Kaum hatten Mutter und Kinder ihnen den Rücken zugekehrt, wollte Ken wieder nach seiner Pistole greifen, doch es war zu spät.

Jaz beschränkte sich nicht mehr auf sanftes Rauben, sondern riss mit aller Kraft an seiner Lebensenergie. Entsetzen trat in sein Gesicht, als er plötzlich zu schwach war, um sich auf den Beinen zu halten, und keuchend zu Boden ging. Jaz entzog ihm noch mehr Energie, bis er sich nicht mehr rühren konnte, dann trat sie um den Tresen herum und kniete sich neben ihn.

Panik lag in seinem Blick. Seine Augen waren das Einzige, das er noch bewegen konnte. Selbst Sprechen ging nicht mehr.

»Keine Sorge. Ich töte dich nicht.« Jaz trennte die Verbindung zu ihm. »Ich nehme mir nur das zurück, was mir gehört.« Sie fasste in seine Hosentasche und zog den Briefbeschwerer heraus. »Und eine kleine Entschädigung dafür, dass du mich bestehlen wolltest und mich mit einer Pistole bedroht hast.«

Sie richtete sich wieder auf und nahm das Pfandgeld vom Tresen. Siebenunddreißig Pfund. Mehr war der Ring von Stans Mutter anscheinend nicht wert. Oder Ken hatte die Mutter und seinen Kumpel übers Ohr gehauen.

Jaz steckte das Geld ein und blickte hinunter zu ihm. Ken starrte hasserfüllt zurück, war sonst aber zu geschwächt, um irgendeinen Muskel zu rühren.

»War nett, mit dir Geschäfte zu machen«, meinte sie ironisch. »Ich glaube allerdings, wir sehen uns trotzdem nie wieder. Schlaf am besten. So regenerierst du dich am schnellsten. Und wenn du nach dem Aufwachen die übelsten Kopf- und Gliederschmerzen deines Lebens hast, denk daran, zu Totenbändigern in Zukunft netter zu sein. Wir stehen nämlich nicht so darauf, wenn man uns verarschen will oder Waffen auf uns richtet. Schönes Leben noch, Ken!«

Sie schenkte ihm ein letztes, zuckersüßes Grinsen, dann lief sie zur Ladentür. Dort drehte sie das Öffnungsschild auf Closed, schlüpfte ins Freie und verschwand zügig zwischen den Leuten, die auf dem Brixton Market noch schnell ein paar letzte Einkäufe erledigen wollten, bevor die Dämmerung einbrach. Adrenalin und gestohlene Energie pulsierten durch ihren Körper und sie fühlte sich, als könnte sie Bäume ausreißen. Oder einen Marathon quer durch sie Stadt laufen. In Rekordzeit.

 

Doch Jaz wusste, dass sie diesem Hochgefühl nicht trauen durfte. Gestohlene Energie war wie ein Rausch, doch wenn man sich mit ihr verausgabte, musste man dafür teuer bezahlen. Wäre sie wirklich quer durch die Stadt gerannt, weil sie sich gerade vorkam wie Supergirl, würde sie sich morgen wie durchgekaut und ausgespuckt fühlen. Und das konnte sie sich nicht leisten.

Deshalb lief sie bloß bis zur Bahnstation, flitzte drei Stufen auf einmal nehmend die Treppe zu den Bahnsteigen hinauf und erwischte mit einem Sprint noch einen Zug, der sie Richtung Norden über die Themse bringen würde. Dort wollte sie sich ein Versteck für die Nacht suchen und überlegen, wie es ab morgen mit ihr weitergehen sollte.

Kapitel 7


Charing Cross Station war laut und bunt und eins der Tore zum Vergnügungsviertel des West Ends. Plakate machten Werbung für Theaterstücke, Clubs, Discos und Bars, Leute in Kostümen verteilten Werbeflyer und Gutscheine, Musik plärrte, auf zwei großen Leinwänden liefen Kinotrailer und blinkende Neonpfeile mit Adults only wiesen den Weg zur Rotlichtmeile.

Doch man wurde nicht nur mit akustischen und visuellen Eindrücken erschlagen, sobald man in Charing Cross aus dem Zug stieg. Der Bahnhof war auch voller Essensgerüche in allen Variationen von herzhaft bis süß. Nicht alles war ihr Fall, trotzdem lief Jaz das Wasser im Mund zusammen und ihr Magen knurrte so heftig, dass es schon fast wehtat. Trotzdem war sie nicht bereit, die überteuerten Preise der Imbissbuden in der Bahnhofshalle zu zahlen.

Sie verließ das Gebäude und ignorierte die Hinweisschilder, die zu den typischen Touristenzielen wie Trafalgar Square, Covent Garden, den Museen und Galerien, Theatern oder Multiplexkinos führten. Stattdessen nahm sie die kleineren Seitengassen Richtung Themse und fand einen Sandwichladen, der in einem Kühlregal reduzierte Waren anbot, die kurz vor dem Verfallsdatum standen. Jaz kaufte zwei Sandwiches und zwei Wasserflaschen und lief damit hinunter zum Victoria Embankment. Dort gab es einen kleinen Park am Fluss, in dem es ruhiger war.

Sie wollte jetzt keinen Trubel, keine Musik oder blinkendes Neonlicht. Auch keine anderen Menschen, die sie entweder schräg anguckten, weil sie eine Totenbändigerin war, oder weil es zu dämmern begann und Jugendliche dann gefälligst zu Hause zu sein hatten. Die Sperrstunde für alle unter achtzehn begann um zweiundzwanzig Uhr. In der dunklen Jahreszeit sogar noch früher. Nach der Sperrstunde durften Minderjährige sich nur noch in Begleitung von Erwachsenen in öffentlichen Bereichen aufhalten.

Jaz hatte keine Ahnung, ob diese Regel auch für jugendliche Totenbändiger galt, denn immerhin konnte sie sich gegen Geister deutlich besser zur Wehr setzen als irgendein Erwachsener ohne Totenbändigerkräfte. In der Akademie galten aber dieselben Sperrzeiten und auch wenn Jaz keinem Streit, der nötig war, aus dem Weg ging, vermied sie Ärger, der sich nicht lohnte. Gegen Sperrzeiten zu rebellieren, war ihr nie sonderlich lohnenswert erschienen.

Wie erhofft war im Park nichts los. An einem Montagabend trieben sich vermutlich nur Touristen im West End herum und die zog es in die Restaurants, Bars, Kinos oder Theater. Vielleicht lag es aber auch daran, dass die Menschen verinnerlicht hatten, Parks zu Dämmerzeiten zu meiden, weil sie in der Stadt oft die einzigen Orte waren, an denen Geister sich tagsüber verstecken konnten.

Allerdings nicht hier im West End. Hier gab es so viele Magnesiumlaternen, eiserne Zäune und ebensolche Skulpturen und Verzierungen, dass sich kein einziger Geist auch nur in die Nähe wagte. Für den Schutz der Touristen, der Stars und der Schönen und Reichen scheute der Stadtrat keine Kosten und Mühen, damit Theater- und Filmpremieren oder Besuche in Edelrestaurants nicht in einem Fiasko endeten.

Jaz suchte sich eine Bank und verschlang das erste Sandwich so hastig, dass sie kaum schmeckte, was darauf war. Beim zweiten ließ sie sich mehr Zeit und sah hinaus auf den Fluss.

Was zum Teufel sollte sie jetzt machen?

Den ganzen Tag über hatte sie die Frage verdrängt. Zuerst war die Flucht aus der Akademie wichtiger gewesen, dann hatte sie die ersten Pfandleiher abgeklappert, um den Briefbeschwerer zu Geld zu machen. Ohne Erfolg.

Erst jetzt wurde ihr so richtig klar, dass all ihre tollen Zukunftspläne nicht mehr funktionierten. Jedenfalls nicht so, wie geplant. Sie musste zwar nicht nach Newfield, aber die Polizeiakademie und ein Leben als Spuk waren dafür genauso in weite Ferne gerückt.

Der Sandwichbissen klebte ihr plötzlich ziemlich pappig im Mund und der blöde Kloß in ihrem Hals machte es schwer, ihn herunterzuwürgen. Rasch kippte sie ein paar Schlucke Wasser hinterher und schob dann den Gedanken an das mögliche Platzen ihrer Zukunftspläne entschieden von sich.

Erst mal gab es eine viel dringendere Frage zu klären.

Wo verdammt sollte sie jetzt hin?

Heute die Nacht hier im West End zu verbringen, war kein Problem. Auch die nächsten paar Nächte würde es sicher gehen. Aber auf Dauer war das keine Lösung. Im Moment war das Wetter noch gut und die Nächte nicht zu kalt. Allerdings war London nicht gerade als warmes Sonnenparadies bekannt. Im Gegenteil. Herbst und Winter waren feucht und kalt und kosteten jedes Jahr etliche Obdachlose das Leben.

Sie brauchte eine Unterkunft. Nichts Besonderes. Bloß irgendein kleines Zimmer, das sie sich auch mit anderen teilen konnte. Das wäre vollkommen okay. In der Akademie hatte sie schließlich auch kein eigenes Zimmer gehabt.

Doch Jaz wusste, dass London ein teures Pflaster war. Und als Totenbändigerin in einer Wohngemeinschaft aufgenommen zu werden, war mit Sicherheit noch schwieriger. Mal ganz abgesehen davon, dass sie noch minderjährig war.

Aber bevor sie sich darüber Gedanken machen konnte, musste sie erst mal für Geld sorgen. Ihre mageren Ersparnisse und das bisschen, was sie Ken abgenommen hatte, würden niemals reichen, um sich irgendwo einmieten zu können.

Sie brauchte einen Job. Doch auch das war leichter gesagt als getan, denn wer würde eine minderjährige Totenbändigerin einstellen?

Ächzend wischte Jaz sich über die Augen.

Sie hatte sich Freiheit und Selbstbestimmung gewünscht, aber wenn diese so schwierig und kaum zu bewältigen waren, trat ihr das berühmte Sei vorsichtig, mit dem, was du dir wünschst gerade mächtig in den Hintern.

Sie stützte den Kopf in die Hände und presste die Finger auf die Augen.

Gestern um diese Zeit hatte sie in ihrem Bett gelegen, sich darüber gefreut, dass endlich ihr letztes Schuljahr anbrach, und gleichzeitig darüber gestöhnt, dass sie sich jetzt wieder mit Blaine, Asha und Leroy abgeben musste, denen sie während der Ferien größtenteils aus dem Weg hatte gehen können.

Heute besaß sie nicht mal mehr ein Dach über dem Kopf.

War Weglaufen wirklich so eine gute Idee gewesen?

Vielleicht hätte sie besser genau das machen sollen, was sie Jessica erzählt hatte: Zähneknirschend nach Newfield gehen, dort die Kids unterrichten, parallel ihren Abschluss machen und sobald sie ihn in der Tasche hatte und volljährig war, von der Farm zu verschwinden.

Klang irgendwie nach einem clevereren Plan als die Ungewissheit, die jetzt vor ihr lag.

Aber alleine beim Gedanken an diese Farm schnürte sich ihr die Kehle zu. Sie konnte nicht mal genau sagen, warum, aber bei der Vorstellung, dort leben zu müssen, schrillte ihr inneres Alarmsystem und dieses Bauchgefühl war das Einzige, worauf sie sich bisher in ihrem Leben wirklich verlassen konnte.

Also egal, wie ätzend die nächsten Tage, Wochen oder gar Monate auch werden mochten, es war richtig gewesen, aus der Akademie abzuhauen.

Punkt.

Und mit den Konsequenzen würde sie schon irgendwie klarkommen.

Selbst den Traum von der Polizeiakademie wollte sie noch nicht ganz aufgeben. Wenn sie Unterkunft und Job hatte, konnte sie sich auch hier in London fürs Homeschooling anmelden. Bibliotheken hatten schließlich jede Menge Schulbücher und öffentliche Computer, die sie zum Lernen benutzen konnte, oder nicht?

Entschieden setzte sie sich wieder auf und strich ihre Haare zurück.

Nicht unterkriegen lassen.

Irgendwie würde sie das alles schon hinbekommen.

Sie spielte am Verschluss ihrer Wasserflasche herum und blickte hinaus auf die Themse. Mittlerweile war es dunkel geworden und vom Wasser zog feuchte Kühle in den kleinen Park. Auch wenn es hier ruhig war und niemand vorbeikam, der ihr unangenehme Fragen stellte, war es vielleicht nicht die beste Idee, die Nacht hier zu verbringen.

Außerdem fühlte sie noch immer einen Teil der Energie in sich, die sie Ken gestohlen hatte. An Schlaf war also ohnehin noch nicht zu denken.

Jaz entsorgte ihren Müll, schwang sich ihren Rucksack über die Schulter und marschierte los.

Bisher kannte sie das West End nur bei Tag.

Zeit herauszufinden, wie es hier in der Nacht aussah.

Kapitel 8


Dienstag, 3. September

Panisches Kreischen riss Jaz aus dem Schlaf. Einen Moment lang wusste sie nicht, wo sie war. Im fahlen ersten Morgenlicht wirkte der kleine Hinterhof ganz anders, als in der Dunkelheit der letzten Nacht.

Bis weit nach Mitternacht war sie durch die Straßen des Vergnügungsviertels geschlendert. Erst im Westen, der an Mayfair, Londons reichsten Stadtteil, grenzte. Hier fand man Edelclubs, sündhaft teure Bars und Restaurants sowie Nobelhotels, in denen die Reichen und Schönen aus aller Welt nächtigen und sich vergnügen konnten.

Totenbändiger waren dort nicht gerne gesehen, weshalb Jaz die Straßen bei Tag bisher meistens gemieden hatte. In vielen der Lokale und Hotels hingen Schilder mit Totenbändiger unerwünscht oder Kein Zutritt für Totenbändiger. Die feine Gesellschaft gab sich nicht gerne mit Freaks ab. Nicht, dass Totenbändiger sich den Aufenthalt in solchen Clubs oder Restaurants hätten leisten können. Zumindest nicht, dass Jaz es gewusst hätte. Die externen Schülerinnen und Schülern der Akademie gehörten alle bestenfalls zur Mittelschicht. Doch es gab auch etliche Familien, die froh waren, dass die Akademie kostenlos war und ihre Kinder dort eine warme Mahlzeit am Tag bekamen.

Im Zentrum des West Ends befanden sich die Theater, Kinos und Showpaläste sowie Discos, Clubs und Restaurants, die erschwinglichere Preise für Normalbürger anboten. Im Osten dagegen lagen die Bordelle und kleinere Kinos und Theater, die anrüchigere Filme, Stücke oder Shows zeigten. Hier hatte Jaz den kleinen Hinterhof gefunden, den sich ein Tätowierladen und ein Sexshop teilten. Er war ruhig, von der Straße uneinsehbar und im Gegensatz zu den Hinterhöfen und schmalen Gassen in der Nähe der Bars und Restaurants gab es hier keine Mülltonnen mit übelriechenden Essensresten. Nur einen Berg Pappkartons und Säcke mit Verpackungsmaterial, auf denen es sich halbwegs bequem hatte schlafen lassen.

Bis die Schreie sie geweckt hatten.

Zuerst war es nur panisches Gekreische gewesen, jetzt mischten sich jedoch auch Worte darunter.

»Hilfe! Sie ist tot! Oh Himmel! Sie ist tot! Hilfe! Hilfe!«

Die Stimme klang nach einer Frau, nach und nach mischten sich aber auch noch andere hinzu. Leiser, sodass Jaz nicht mehr alles verstehen konnte, doch das »Sie ist tot!« hatte gereicht, um ihr einen kalten Schauer den Rücken hinunterlaufen zu lassen.

Sie raffte ihre Sachen zusammen und lief in Richtung des Tumults.

Es war noch früh, sicher noch keine sechs Uhr und die Läden in den Straßen waren noch alle geschlossen. Jaz zog sich trotzdem die Kapuze ihres Hoodies über.

Bloß nicht auffallen.

Sie lief an einem Bordell vorbei und sah an der nächsten Straßenecke einige Menschen vor der Mündung einer schmalen Gasse stehen. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, waren die meisten von ihnen Sexworker. Eine junge Frau in Alltagskleidern hing schluchzend in den Armen einer älteren, die einen seidig schimmernden, ziemlich kurzen Morgenmantel im Kimonostil trug. Zwei weitere Frauen und ein junger Mann in ähnlicher Aufmachung standen daneben und starrten betroffen und verstört in die Seitengasse.

 

Um sich im Hintergrund halten zu können, wechselte Jaz die Straßenseite und lief unauffällig näher heran. Eine Straßenlaterne spendete Licht, das jedoch nicht bis in die Seitengasse fiel. Trotzdem konnte Jaz im Schatten zwei bullige Männer ausmachen, vermutlich Türsteher oder Security aus den umliegenden Freudenhäusern. Sie hatten die Taschenlampenfunktion ihrer Handys aktiviert und knieten neben dem leblosen Körper einer jungen Frau.

Jemand hatte ihr die Kehle durchgeschnitten.

Jaz spürte, wie ihr flau im Magen wurde.

Die junge Frau lag in einer Pfütze aus Blut. Ihr Gesicht war kreidebleich und wirkte wie aus Porzellan. Das Schrecklichste aber waren ihre Augen. Milchig trüb stierten sie ins Leere und schienen Jaz trotzdem genau anzusehen.

Sie schauderte und spürte, wie ihr Herz plötzlich deutlich heftiger als zuvor gegen ihre Rippen pochte.

»Wir müssen die Polizei rufen.« Einer der Securitymänner erhob sich und schaltete die Taschenlampe seines Handys aus, um zu telefonieren.

Das war das Stichwort für Jaz.

Mit der Polizei wollte sie nichts zu tun haben, sonst landete sie wieder in der Akademie. Oder man hängte womöglich ihr den Mord an, weil Totenbändiger ja ständig als Sündenböcke für alles Mögliche herhalten mussten.

Bloß das nicht.

Leise, damit niemand sie bemerkte, wandte sie sich um, hielt sich dicht an der Hauswand und huschte um die nächstbeste Straßenecke. Dann rannte sie so schnell sie konnte, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Tatort zu bringen.

Rechts. Links. Gerade aus. Noch mal links.

Rennen machte ihr nichts aus. Sie liebte es, joggen zu gehen. Laufen half, den Kopf freizubekommen.

Jetzt gerade half es allerdings kein bisschen.

In der vergangenen Nacht war eine junge Frau ermordet worden. Keine zwei Blocks von dem Hinterhof entfernt, in dem Jaz geschlafen hatte.

Bei der Vorstellung schnürte sich ihre Brust zu und sie musste aufhören zu rennen, weil sie kaum noch Luft bekam.

Himmel, reiß dich zusammen!

Einatmen. Ausatmen.

Einatmen. Ausatmen.

Das Engegefühl ließ wieder nach und sie lief langsamer weiter.

Hatte sie irgendjemanden gesehen, bevor sie sich in dem Hinterhof versteckt hatte?

Nein.

Sie war vorsichtig gewesen.

Hatte nicht gewollt, dass irgendjemand mitbekam, wo sie die Nacht verbrachte.

Und vorher? Als sie durch die Gassen des West Ends geschlendert war? War ihr da jemand aufgefallen?

Nicht wirklich.

Aber was hätte ihr auch auffallen sollen?

Wer immer der Frau die Kehle durchgeschnitten hatte, war sicher nicht vorher mit einem Messer in der Hand durchs halbe West End spaziert.

Vielleicht war es ein unzufriedener Freier? Jemand, der irgendwas Perverses von ihr verlangt hatte, das sie aber nicht hatte tun wollen? Und aus Rache, Wut oder gekränktem Stolz hatte er sie dann umgebracht?

Oder lief hier irgendein gestörter Moralapostel herum, für den Sexworker das Übel schlechthin waren und ausgerottet werden mussten?

Oder ein Psychopath, der einfach Spaß am Töten hatte, und die arme Frau war bloß zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen?

Wenn dieser Mistkerl irgendwo in der Dunkelheit auf ein x-beliebiges Opfer gelauert hatte, hätte es genauso gut auch sie erwischen können.

Shit.

Jaz schluckte hart und kaute nervös auf ihrer Unterlippe herum. Sie war davon überzeugt gewesen, dass das West End nachts ein sicherer Ort war. Zwar keine Dauerlösung, aber zumindest ein paar Nächte lang, bis sie Geld organisiert und vielleicht einen Job hatte, um irgendwo unterzukommen.

Jetzt sah es so aus, als müsste sie sich schnell etwas anderes einfallen lassen.

Sie rannte weiter durch die Gassen.

Etwas ließ ihren Nacken ungut kribbeln und sie fühlte sich beobachtet, als sie eine weitere leere Gasse entlanglief. Alarmiert fuhr sie herum. Doch es war niemand zu sehen.

Nicht durchdrehen …

Hastig lief sie weiter.

Wenn hier nachts ein verdammter Killer herumschlich, konnte sie nicht im West End schlafen.

Sie bog nach links in eine breitere Straße und sah in der Ferne das Dach der Charing Cross Station.

Perfekt.

Dort waren selbst zu dieser frühen Morgenstunde sicher schon genug Menschen unterwegs.

Jaz griff in ihre Hosentasche und schloss ihre Hand um die kleine Wallnusshälfte. Heute musste sie mit dem Verkauf des Briefbeschwerers definitiv mehr Glück haben als gestern.