Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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»Für andere könnte unsere Farm in Newfield eine Alternative sein.« Carlton blickte zu Sarah, Bethany, Sally und Paula, dann auch kurz zu Jessica und Jaz. »Deshalb freue ich mich sehr, dass heute Anya und Drew bei uns sind. Sie leben schon seit einigen Jahren in Newfield und sind maßgeblich mit am Aufbau und der stetigen Erweiterung beteiligt. Bitte begrüßt sie.«

Carlton begann zu klatschen und setzte sich auf den letzten noch freien Platz, während alle gehorsam in seinen Applaus einfielen. Auch Jaz. Sie hatte auf die harte Tour gelernt, dass das Leben in der Akademie einfacher war, wenn man gute Miene zu bösem Spiel und die Faust nur in der Tasche machte.

»Danke, Master Carlton.« Drew nickte ihm zu und wandte sich dann an die Jugendlichen. »Und danke an euch, dass ihr uns so herzlich willkommen heißt. Es tut sehr gut, eine Gruppe so fähiger junger Leute unseres Schlages hier versammelt zu sehen, und ich bin mir sicher, ihr wisst, wie glücklich ihr euch schätzen könnt. Mit der Akademie gibt es hier in London einen Ort, an dem diejenigen, die von ihren leiblichen Eltern verstoßen wurden, geschützt aufwachsen können. Und diejenigen von euch, die aus Totenbändigerfamilien stammen, haben hier die Möglichkeit, gemeinsam zur Schule zu gehen und eine gute Ausbildung zu genießen. Eure Gemeinschaft konnte hier eine Gilde aufbauen und bekommt in einigen Wochen sogar die Chance, für eine offizielle Vertretung im Stadtrat zu kämpfen. Das ist großartig und wir in Newfield danken euch für den Beitrag, den ihr hier leistet.«

Jetzt klatschte er und Anya fiel mit ein. Master Carlton bedachte die beiden mit einem seiner jovialen Lächeln, bei denen Jaz immer unwillkürlich mit den Zähnen knirschen musste.

»Im Rest des Landes sieht es für uns Totenbändiger jedoch leider weiterhin sehr düster aus«, sprach Drew weiter. »In größeren Städten wie Manchester oder Birmingham haben sich zwar kleinere Gemeinden zusammengefunden, doch da die Bereitschaft der Bevölkerung gering ist, uns auf dem Ausbildungs- und Arbeitsmarkt eine Chance zu geben, bleibt vielen nur ein Leben als Selbstversorger auf dem Land. Dort wachsen Kinder und Jugendliche oft isoliert auf, weil sie nicht in öffentliche Schulen gehen dürfen und nur Zuhause unterrichtet werden können. Nicht alle Eltern haben dazu aber die nötige Kompetenz, sodass dort viel Potenzial verloren geht oder unentdeckt bleibt.«

Drew deutete zu Master Carlton und machte dann eine ausladende Handbewegung in den Versammlungssaal. »Natürlich hätten all diese Kinder die Möglichkeit, hier in der Akademie unterrichtet zu werden. Doch nur wenige Eltern bringen es übers Herz, ihre Kinder in ein Internat zu geben. Besonders, wenn die Kleinen noch Grundschüler sind.«

»Newfield soll deshalb zu einer Alternative werden«, übernahm nun Anya. »Alle Familien, die sich im Moment alleine als Selbstversorger durchschlagen, sollen bei uns den Rückhalt einer größeren Gemeinschaft bekommen. Sie bringen ihr Wissen und ihre Fähigkeiten in Newfield ein und dafür erhalten sie in Newfield Sicherheit und das Gefühl, nicht mehr mit allem alleine zu sein. Newfield ist das Versprechen auf eine Heimat für alle Ausgegrenzten und Verstoßenen, in der wir einander wertschätzen und so sein können, wie wir sind. Ohne dass wir uns erklären oder für Dinge rechtfertigen müssen, die wir oft gar nicht getan haben. Ohne Angst, dass sich jemand von uns bedroht fühlt und uns ohne Bestrafung quälen oder gar töten darf.«

»Oh Mann, das klingt sooo toll«, seufzte Sarah hingerissen.

Anya schenkte ihr ein warmherziges Lächeln. »Es freut mich sehr, dass du unsere Vision einer besseren Zukunft teilst.« Dann blickte sie von einem zum anderen. »Wir sind heute zu euch in die Akademie gekommen, weil ihr hier in den letzten Jahren eine anspruchsvolle Bildung genießen konntet. Und solche Leute brauchen wir in Newfield. Ihr habt sicher mitbekommen, dass einige der älteren Newfieldkinder hierher zu euch in die Akademie geschickt wurden, um ihnen ebenfalls eine erstklassige Schulbildung zu ermöglichen.«

Ein paar der Schüler nickten bestätigend.

»Umgekehrt hat Newfield in den letzten Jahren Babys und Kindergartenkinder aus London aufgenommen, denn unsere Farm bietet die perfekte Möglichkeit, sie in behüteter Umgebung aufwachsen zu lassen. Auch einige eurer jüngeren Grundschulkinder sind zu uns gekommen, wenn sie hier keine eigenen Familien hatten, oder wenn ihre Familien London den Rücken zugekehrt haben, um in Newfield ein neues Leben anzufangen.«

»Momentan leben dreiundzwanzig Kinder im Grundschulalter bei uns«, berichtete Drew. »Deshalb haben wir im Sommer auf der Farm eine kleine Schule mit zwei Klassen eingerichtet. Doch uns fehlen Leute, die diese Kinder unterrichten. Gerade jetzt, zur Erntezeit, werden unsere Erwachsenen und die älteren Jugendlichen auf den Feldern gebraucht. Außerdem bauen wir gerade zusätzlichen Wohnraum für unsere stetig wachsende Gemeinschaft. Der muss bis zum Herbst fertig werden, damit wir allen, die in der dunklen Jahreszeit Zuflucht bei uns suchen, ein sicheres Zuhause bieten können.«

Drew sah zu genau den Mädchen in der Runde, die Carlton bereits zuvor ins Visier genommen hatte. »Master Carlton hat uns erzählt, dass es hier einige Schülerinnen gibt, die sowohl die Bildung, als auch die Geduld und Kompetenz mitbringen, jüngere Kinder unterrichten zu können. Das habt ihr bewiesen, indem ihr den unteren Klassen dieser Akademie bei den Hausaufgaben helft oder Nachhilfeunterricht gebt.«

Ernsthaft?

Jaz zog eine Augenbraue hoch und konnte sich nicht mehr länger zurückhalten. »Okay, das stimmt zwar, aber nur weil ich zwei Jungs geholfen hab, das Bruchrechnen zu verstehen, heißt das ja noch lange nicht, dass ich Mathe unterrichten kann. Ich hab keine Ahnung von Pädagogik und Lehrplänen und was man als Lehrerin sonst noch so draufhaben muss.«

Anya lächelte. »Aber wie du selbst sagst, haben die beiden das Bruchrechnen mit deiner Hilfe verstanden. Das ist es, was zählt. Manche Menschen haben ein natürliches Talent für bestimmte Dinge. Für einige von euch trifft das offensichtlich zu«, sagte sie dann wieder an alle gewandt. »Ihr habt eine natürliche Begabung dafür, Kindern etwas beizubringen. Dieses Talent solltet ihr nutzen. Und über Lehrpläne müsst ihr euch keine Sorgen machen. Das alles würde euch bei eurer Arbeit in Newfield natürlich zur Verfügung stehen. Und unsere Kinder freuen sich schon sehr auf euch.«

»Das heißt, ihr seid hier, um zu fragen, wer von uns Lust hat, mit euch nach Newfield zu gehen, um dort den Unterricht an eurer Grundschule zu übernehmen?«, fragte Bethany, ein pummeliges und ziemlich gemütliches Mädchen aus Sarahs Jahrgang.

»Exakt. Damit würdet ihr einen unglaublich wertvollen Beitrag für unsere Gemeinschaft leisten. Im Gegenzug bieten wir euch dafür ein neues Zuhause ohne Angst oder Sorgen um eure Zukunft.«

»Aber was ist mit unseren Abschlüssen?«, fragte Paula, die Musterschülerin der elften Klasse.

»Die mittlere Reife habt ihr ja bereits«, sagte Anya. »Falls die eine oder andere von euch sich also entschließt, die Oberstufe abzubrechen, wäre das überhaupt kein Problem. Falls du aber trotzdem dein Abitur machen möchtest, würden wir dir nach deinen Pflichten mit den Kindern den Freiraum ermöglichen, deinen Abschluss als Fernstudium im Homeschooling zu machen. Die Aufgaben dazu gibt es im Internet und die Lehrer der Akademie würden dir bei Fragen per E-Mail oder Videokonferenz zur Verfügung stehen. Wie gesagt«, sie schenkte Paula und dann auch Jaz ein versicherndes Lächeln, »wir brauchen gut ausgebildete Leute und unterstützen euch voll und ganz.«

Dann blickte sie zu den anderen Mädchen und streichelte über ihren Babybauch. »Wir schätzen allerdings auch anderen Einsatz, denn natürlich soll unsere kleine Gemeinschaft weiter wachsen. Ich bin bereits zum dritten Mal schwanger und beide Kinder, die ich zur Welt gebracht habe, sind starke Totenbändiger.« Sie strahlte stolz vor Glück. »Auf der Farm ist es einfach, einen Partner zu finden. Und falls ihr keinen wollt oder lieber eine Partnerin mögt, ist das auch kein Problem. Unsere Männer spenden auch gerne Leben und unsere Ärztin ist bei der Empfängnis behilflich.«

Jaz konnte sie nur ungläubig anstarren und wusste nicht, ob sie ihren Ohren gerade wirklich trauen wollte.

»Wichtig ist, dass unsere Gemeinschaft wächst«, übernahm nun wieder Drew. »Ich denke, wir sind uns alle einig, dass wir mehr Totenbändiger in diesem Land brauchen, um besser gegen unsere Unterdrückung durch die unbegabte Mehrheit vorgehen zu können.« Er sah erneut zu Sarah, Paula, Sally, Bethany, Jessica und Jaz. »Ihr sechs seid junge, gesunde Frauen. Wie Anya und einige andere Frauen in Newfield könnt ihr entscheidend dazu beitragen, dass die Zahl der Totenbändiger in diesem Land wächst.«

Jetzt hatte Jaz endgültig das Gefühl, in einem völlig falschen Film gelandet zu sein. Einem, bei dem sich ihre Fußnägel aufrollten und die Nackenhaare sträubten.

»Als was denn bitte? Gebärmaschinen?! Mann, einige hier sind gerade erst sechzehn!« Ihr war klar, dass sie besser den Mund gehalten hätte, aber das hier war mal wieder einer dieser Fälle, in denen das einfach nicht ging.

Anya lächelte nachsichtig. »Das Alter sagt nichts über die Reife einer Person aus. Die eine oder andere von euch hegt vielleicht schon jetzt den Wunsch nach einer eigenen Familie.« Sie blickte zu Sarah, Bethany und Sally, die alle Gesichter machten, als wären sie nicht abgeneigt. »Und wie gesagt, ihr müsst euch nicht mit einem Mann einlassen, wenn ihr euch dazu noch nicht bereit fühlt. Auch wenn es auf der Farm einige wirklich nette junge Männer gibt.«

Anya zwinkerte den dreien vielsagend zu und Jaz konnte nur den Kopf schütteln, als sie das Funkeln in Sarahs Augen sah. Vermutlich wartete in ihrer Vorstellung schon der Prinz mit dem weißen Pferd voll inbrünstiger Sehnsucht vor den Toren der Farm auf sie, um sie leidenschaftlich in Empfang zu nehmen.

 

Wieder streichelte Anya ihren Bauch. »Leben zu schenken, ist das absolut Großartigste, was ich bisher erleben durfte. Das sollte sich keine von euch entgehen lassen. Und solltet ihr euch entscheiden, nach Newfield zu kommen, habt ihr keinerlei Existenzsorgen mehr. Die Gemeinschaft sorgt für Unterkunft und Verpflegung, ihr bekommt jegliche Unterstützung, die junge Mütter brauchen, und ihr müsstet euch keine Gedanken mehr darüber machen, wie ihr euch nach eurem Abschluss hier in London durchschlagen wollt. Auch wenn sich hier in der Stadt im Moment einiges wandelt, wird es trotzdem in den nächsten Jahren auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt für uns Totenbändiger weiter schwierig bleiben. In Newfield gibt es keine Sorgen um ein sicheres Zuhause. Es gibt auch keine finanzielle Ängste. Wir kümmern uns umeinander. Und jeder, der einen Beitrag zu unserer Gemeinschaft leistet, bekommt dafür unglaublich viel zurück.«

Jaz wollte schon wieder den Mund aufmachen, doch der Blick ihres Schulleiters verriet ihr, dass es besser war, zu schweigen.

Carlton bohrte seinen Blick noch einen Moment länger warnend in Jaz, als wollte er sicherstellen, dass sie auch wirklich den Mund hielt, dann wandelte sich seine Miene wie auf Knopfdruck und er wandte sich mit einem weltmännischen Lächeln an seine beiden Besucher.

»Vielen Dank, Anya und Drew, für euren Bericht. Ich bin mir sicher, einige hier brauchen jetzt etwas Zeit, um über euer großzügiges Angebot nachzudenken. Außerdem möchte die eine oder andere vielleicht auch lieber in einem etwas privateren Rahmen noch einmal alleine mit euch sprechen.«

Jaz sah, wie Sarah, Bethany und Sally nickten.

»Deshalb hebe ich diese Versammlung nun auf, würde es aber begrüßen, wenn ihr denjenigen, die noch Fragen haben, weiter zur Verfügung steht.«

»Natürlich«, versicherte Anya sofort. Sie bedachte Sally, Sarah und Bethany mit einem Lächeln. »Wir können uns gerne zusammensetzen und ihr fragt alles, was ihr wissen wollt.«

Eifrig nickten die drei.

»Sehr schön.« Carlton erhob sich. »Geht zum Unterricht in eure Klassen oder bleibt hier, wenn ihr noch Redebedarf mit Anya und Drew habt«, sagte er dann an seine Schüler gewandt. »Auch ich werde mit einigen von euch noch ein persönliches Gespräch führen.«

Er nahm Jaz ins Visier und sein Blick wurde deutlich härter, während seine Stimme pure Freundlichkeit blieb.

»Jazlin, du kommst bitte als Erste mit in mein Büro.«

Jaz presste die Kiefer aufeinander. »Natürlich, Master Carlton.«

Allgemeine Aufbruchsstimmung setzte ein und Jessica warf Jaz einen mitleidigen Blick zu, als sie sich mit David hinter Blaine, Asha und Leroy Richtung Klassenzimmertrakt aufmachte. Sarah, Bethany und Sally rückten dagegen in kleiner vertrauter Runde mit Anya und Drew zusammen.

Jaz seufzte und hatte ein ganz mieses Bauchgefühl, als sie ihrem Schulleiter folgte und den Versammlungssaal verließ.

Kapitel 2


Eine halbe Stunde später schloss Jaz die Tür zu ihrem Zimmer, lehnte sich dagegen und schloss die Augen. Ihr Kopf pochte und sie fühlte sich, als hätte ihr jemand einen Schlag in den Magen verpasst.

Was irgendwie sogar stimmte, wenn auch nicht mit Fäusten. Körperliche Gewalt gab es in der Akademie nicht. Nicht mehr. Zumindest nicht von Lehrerseite. Psychischer Zwang und Erwartungsdruck waren allerdings eine ganz andere Geschichte.

Jaz atmete tief durch und öffnete die Augen wieder.

Das Zimmer vor ihr war zweigeteilt. Sowohl auf der rechten als auch auf der linken Seite gab es ein Bett, einen schmalen Kleiderschrank, eine Kommode, einen Schreibtisch und an jeder Wand zwei Regalbretter. Trotz der gleichen Möbel sahen beide Zimmerhälften allerdings grundverschieden aus. Die rechte Seite wartete mit so ziemlich jeder Schattierung auf, die Pastellfarben hergaben, und es gab kaum ein Fleckchen Wand, an dem nicht Poster von Fantasylandschaften und entsprechenden Fantasykerlen oder Bilder von Pferden und Einhörnern hingen. Die Bettwäsche mit rosa Herzchen war selbstgekauft und auf den Regalen standen Liebesromane neben kleinen Vasen mit getrockneten Rosen und Figuren aus Glas und Porzellan, die verliebte Pärchen darstellten. An der Wand am Schreibtisch hingen ein Stundenplan sowie die Pläne der Trainingseinheiten und der zugeteilten Akademiepflichten. Außerdem gab es eine Pinnwand, die zugeheftet war mit selbstgeschossenen Fotos, alten Kinotickets und Theaterkarten, Modeschmuck, Coupons für Make-up-Proben, ein paar Nicht-vergessen!-Zetteln und anderem Schnickschnack.

Die linke Zimmerseite wirkte dagegen ziemlich clean. Die Wand war einfach nur weiß, es gab keine Poster und die Bettwäsche war in schlichtem Grau und aus dem Bestand der Akademie. An der Pinnwand hing nichts außer den Plänen von Schulstunden, Training und Pflichten und auf dem Schreibtisch lagen nur ein Laptop und ein paar Schulsachen. Die einzige persönliche Note fand sich auf den Regalen. Dort stapelten sich Bücher und Comichefte.

Jaz ging zu ihrem Bett, warf sich auf die Matratze und starrte an die Decke.

Eigentlich hätte sie in den Matheunterricht gehen sollen, aber sie brauchte jetzt einfach noch einen Moment für sich.

Das Vier-Augen-Gespräch mit Master Carlton war noch ätzender gewesen, als sie befürchtet hatte. Zuerst hatte er ihr bloß den gleichen Sermon gepredigt, den auch Anya und Drew von sich gegeben hatten, und wenn sie die Worte Gemeinschaft und wertvoller Beitrag noch einmal mehr hätte hören müssen, hätte sie vermutlich geschrien. Doch im Vergleich zu dem Tiefschlag, den ihr Schulleiter ihr danach verpasst hatte, war das Gemeinschaftsgelaber absolut harmlos gewesen.

Master Carlton hatte angeordnet, dass sie heute Abend ihre Sachen packen sollte, weil sie morgen mit den anderen nach Newfield gehen würde.

Jaz hing nicht sonderlich an der Akademie. Sie hatte hier keine besonders engen Freunde.

Aber sie wollte nicht weg aus London.

Und sie kochte vor Wut, weil all ihre eigenen Wünsche und Pläne einfach abgetan und mit Füßen getreten wurden.

Weil sie Dankbarkeit gegenüber der Gemeinschaft zeigen sollte, die sie siebzehn Jahre lang beschützt, versorgt, gefördert und ausgebildet hatte.

Weil es jetzt an der Zeit war, dafür etwas zurückzugeben und einen wertvollen Beitrag zu leisten.

Jaz war kotzübel.

Wegen der Worte.

Wegen Hass und Wut, die in ihrem Inneren brodelten.

Wegen der Machtlosigkeit, weil man ihr, seit sie denken konnte, immer wieder Dinge aufzwang, die nicht ihrem eigenen Denken entsprachen, gegen die sie aber nichts machen konnte.

Weil sie keine Familie hatte.

Weil sie abhängig von der verdammten Akademie war.

Weil sie nirgendwo anders hinkonnte.

Ihre Hände ballten sich zu Fäusten.

Aber das musste sie. Sie musste irgendwo anders hin, weil sie auf keinen Fall nach Newfield gehen würde. Bei der Vorstellung auf dieser Farm leben zu müssen, schnürte sich ihr die Kehle zu.

Sie wollte nicht weg aus London. Die Stadt war ihr Zuhause. Sie wollte hierbleiben, ihren Abschluss machen, zur Polizeischule gehen und eine Spuk werden.

War das echt zu viel verlangt?

War sie wirklich undankbar, wenn sie eigene Wünsche hatte und sich nicht in den Dienst der Akademie oder Newfield stellen wollte?

Ihre Fingernägel gruben sich in die Haut ihrer Handflächen, so fest ballte sie ihre Fäuste.

Vielleicht war sie egoistisch, aber sie konnte das einfach nicht. Sie würde sich ihr Leben und ihre Träume nicht wegnehmen lassen. Sie wollte selbst bestimmen, wer sie war und was sie machte.

Deswegen blieb ihr keine andere Wahl.

Ruckartig setzte sie sich auf und zog ihren Rucksack unter dem Bett hervor.

Mehr als ein paar Klamotten würde sie nicht mitnehmen können. Aber das war okay. Kramsammeln war noch nie ihr Ding gewesen.

Sie öffnete den Kleiderschrank und packte zwei Jeanshosen, ein paar Shirts, ihre beiden Lieblingshoodies, ein bisschen Unterwäsche und ihre Jeansjacke ein. Mit etwas Mühe schaffte sie es auch noch, ihre Regenjacke in den Rucksack zu stopfen.

Das war es.

Jaz zog den Rucksack zu. Sie hatte zwar noch keine Ahnung, wohin sie gehen wollte, aber die paar Sachen mussten reichen.

In der oberen Schreibtischschublade lagen ihre Geldbörse und ein Umschlag, in dem sie das Geld aus ihren Verdiensten aufhob. Fünfundzwanzig Pfund und ein paar Pennys. Lange konnte sie sich damit nicht über Wasser halten, aber darüber würde sie sich später Gedanken machen.

Erst mal musste sie von hier verschwinden.

Sie trat ans Fenster. Ihr Zimmer lag im zweiten Stock und auch wenn die Außenwände aus rauen Steinblöcken bestanden und etliche Unebenheiten aufwiesen, war es unmöglich, hier herunterzuklettern. Und zum Springen war es zu hoch. Beides war allerdings auch nicht ihr Plan.

Sie öffnete das Fenster und ließ den Rucksack vorsichtig in die Holunderbüsche hinunterfallen, die unten neben der Hauswand wucherten. Dann zog sie ihre Boots unter dem Bett hervor und warf sie hinterher. Zum Glück waren in den Stockwerken unter ihr bloß weitere Zimmer der internen Akademieschüler und die saßen gerade in den Klassenzimmern in einem anderen Gebäudetrakt, sonst hätten ein vorbeifliegender Rucksack und ebensolche Schuhe womöglich zu unangenehmen Fragen geführt. Und falls jemand in der Pause in sein Zimmer zurückkehrte und zufällig aus dem Fenster sah, war das Gestrüpp so dicht, dass es Rucksack und Boots völlig verschluckte.

Die Schulglocke klingelte zum Ende der ersten Doppelstunde. Zur zweiten würde man sie erwarten. Englische Literatur bei Ms Green.

Jaz atmete tief durch.

Sie musste so tun, als wäre alles in Ordnung. Nicht zu in Ordnung, das würde man ihr nicht glauben. Aber auch nicht so sehr in Unordnung, dass man sie wegen Aufmüpfigkeit und Ungehorsam in den Arrest steckte.

Das wäre fatal.

Sie warf sich die Tasche mit ihren Schulsachen über die Schulter und stopfte noch schnell eine Wasserflasche, ihre letzten Schokoriegel und eine Packung Kekse hinein.

Dann blickte sie sich ein letztes Mal im Zimmer um.

Solange sie denken konnte, hatte sie hier gewohnt, doch zu Hause hatte sie sich hier nie gefühlt. Trotzdem war es das Einzige, was sie kannte, und es fühlte sich seltsam an, es nie wiederzusehen.

Sie atmete noch einmal tief durch, dann wandte sie sich entschlossen um und öffnete die Tür.

Zeit, zu gehen.