Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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Kapitel 14


Fast alle Lichter im Vergnügungsviertel waren erloschen. An Wochenenden blinkten, funkelten und glitzerten die Leuchtreklamen der Kinos und Restaurants, Theater und Bars im West End bis in die frühen Morgenstunden, um die Besucher aus den Straßen und kleinen Gassen von einer Lokalität in die nächste zu locken. Unter der Woche fand man um halb zwei nachts hier jedoch niemanden mehr.

Oder fast niemanden.

Ein paar Angestellte sorgten in dem ein oder anderen Laden noch für Ordnung und in den Bordellen am verruchten Ostende des Viertels gingen die Professionellen ihrer Arbeit nach. Die Besitzer der Etablissements sorgten mit Sonderangeboten dafür, dass ihre Häuser zu allen Zeiten gut besucht waren. Sex war in der Woche billiger als am Wochenende oder es wurde für gleiches Geld mehr geboten. Das nahm so mancher gerne in Anspruch.

Er nicht.

Für Sex zu bezahlen, hatte er nicht nötig.

Trotzdem stand er hier in der dunklen Gasse und beobachtete den Hinterausgang des With Pleasure. Zwei Frauen und ein junger Mann standen neben der Tür, rauchten, tranken Kaffee und machten offensichtlich eine Pause. Seit über einer Viertelstunde. Trotz der Sonderangebote war heute Nacht anscheinend nicht viel los.

Darauf hoffte er.

Aber er musste jemanden allein erwischen. Die Unruhe in seinem Inneren war nur noch schwer im Zaum zu halten. Es war ein richtig beschissener Tag gewesen und er brauchte jetzt den Kick.

Außerdem musste er in Übung bleiben. Bis zum Herbstäquinoktium war es nicht mehr lange hin.

Die Vorfreude darauf machte ihn so an, dass er wirklich hoffte, hier würde irgendjemand bald Feierabend machen. Ob Nutte oder Stricher war ihm egal.

Er wollte keinen Sex.

Er wollte töten.

Sein Messer durch weiches Fleisch ziehen.

Blut sprudeln lassen.

Zusehen, wie das Leben aus einem Körper wich.

Sex war gut, keine Frage. Aber den Moment zu erleben, in dem ein Blick brach und der Tod einsetzte – das war so viel befriedigender.

Und mit anzusehen, was danach passierte …

Was er damit erreichen würde …

Er spürte, wie es in seiner Hose plötzlich eng wurde.

Verdammt, es musste jetzt wirklich bald jemand Feierabend machen.

Er musste trainieren, brauchte das Hochgefühl.

Die Vorstellung, wie er triumphieren würde, was es bedeuten würde für –

Etwas raschelte hinter ihm in der Gasse.

Er fuhr herum und zischte einen leisen Fluch.

Eine Katze wühlte im Müll.

Blödes Mistvieh.

Doch die Katze ließ sich nicht im Geringsten von ihm stören. Streuner liebten das West End. Magnesiumlaternen sorgten dafür, dass die Besucher sich zu jeder Tageszeit ohne Angst vor Geistern oder Wiedergängern vergnügen konnten. Das mochten auch die Straßentiere. Außerdem entsorgten die Restaurants jede Nacht ihre Essenreste, wodurch hier in den Gassen so mancher Vierbeiner nobler und abwechslungsreicher speiste als seine domestizierten Artgenossen, die zwar ein sicheres Dach über dem Kopf haben mochten, von ihren Zweibeinern aber nur Dosenfraß und Trockenfutter vorgesetzt bekamen.

Er wandte sich wieder zur Straße um.

Eine der Frauen am Hintereingang trat ihre Zigarette aus und stakste auf ihren High Heels zurück ins Pleasure.

Er lehnte sich im Schatten an die Hausmauer und wartete.

Geduld war eine Tugend. Und die hatte er. Seit Jahren. Da kam es auf die ein oder andere Stunde heute Nacht nicht an.

Fünf Minuten später verschwanden auch die anderen beiden durch die Hintertür zurück ins Bordell. Gleichzeitig trat von drinnen eine neue Frau heraus. In Jeans, Canvasjacke und Sneakers. Sie verabschiedete sich von ihren Kollegen und die drei wünschten einander eine gute Nacht.

Ein erwartungsfrohes Lächeln huschte über sein Gesicht.

Bingo!

Sie lief die Straße hinunter Richtung Osten und kramte in ihrer Umhängetasche.

Er ließ ihr zwei Häuser Vorsprung und schaute sich kurz um.

Außer ihr und ihm war die Straße leer.

Er folgte ihr.

Sie lief ziemlich zügig und als sie um die nächste Straßenecke bog, sah er, wie sie eine Magnesiumlampe aus ihrer Tasche zog.

Wow.

Das Ding musste sie zwei Monatsgehälter gekostet haben. Mindestens. Und für die Batterien, die das Ding brauchte, musste sie auch etliche Male die Beine breitmachen.

Er beschleunigte seine Schritte und zog sein Schnappmesser aus seiner Jackentasche.

Sie war hübsch und noch recht jung. Ein netter Bonus, wenn er ihr gleich beim Sterben zusah.

Da vorne war eine Seitengasse.

Dort war es perfekt.

Er ließ die Klinge aus dem Messer schnappen und rannte los.

Lautlos.

Er war gut.

Jahrelanges Training für den absoluten Triumph.

Der Kick heute Nacht – ein weiterer Schritt zur Perfektion.

Er war jetzt direkt hinter ihr.

Sah die goldenen Strähnchen in ihrem Haar, die im Licht der Laternen schimmerten.

Konnte ihr Parfüm riechen. Süß und ein bisschen verrucht.

Fantastisch.

Er rammte ihr das Messer in den Rücken, ohne dass sie wusste, wie ihr geschah. In derselben Bewegung, in der er zustach, legte er ihr seine Hand über den Mund und schob sie in die düstere Seitengasse.

Sie war zu überrumpelt, um zu schreien. Das sah er in ihren Augen, als er das Messer aus ihrem Rücken zog, sie zu sich herumdrehte und langsam mit ihr zu Boden sank.

In ihrem Blick lag pures Entsetzen.

Und Todesangst.

Wieder wurde es ziemlich eng in seiner Hose.

Besonders, als er sich jetzt rittlings auf die kleine Nutte setzte und ihr langsam … fast zärtlich … die Kehle aufschlitzte.

Kapitel 15


Cam riss die Augen auf.

Da war nichts. Nichts außer widerlicher, eiskalter Finsternis.

Er war starr. Wie erfroren.

Konnte nicht schreien.

Sich nicht bewegen.

War gefangen in seinem Körper.

Panik lag tonnenschwer auf seiner Brust. Quetschte sie zusammen. Ließ ihn kaum atmen.

Doch er brauchte Luft.

Dringend!

Sofort!

Er kämpfte mit aller Macht gegen den unerträglichen Druck um seine Lungen.

Schaffte einen kleinen Atemzug.

Schnappte nach einem weiteren.

Noch einem. Und noch einem.

Nur flach und viel zu schnell.

Sein Herz hämmerte so heftig gegen seine Rippen, dass es wehtat.

Die Angst aus seinem Traum hielt ihn fest in ihrer Klaue.

Keine Erinnerungen. Nur grauenhafte Empfindungen hallten in ihm nach und ließen Körper und Geist noch nicht frei.

Eisige Kälte.

Hilflosigkeit.

Verzweiflung.

Todesangst.

Weil etwas ihm sein Leben hatte entreißen wollen.

Sein Atem ging noch immer zu schnell und sein Herz fühlte sich an, als würde es jeden Moment aus seiner Brust springen.

Aber auch wenn er sich nicht daran erinnern konnte, wie er es geschafft hatte: Er war aus dem Albtraum entkommen.

Alleine.

Ohne fremde Hilfe.

Und nicht zum ersten Mal.

Er konnte das.

Er musste nur noch Panik und Angststarre besiegen.

Doch das war wahnsinnig schwer, wenn man kaum einen klaren Gedanken fassen konnte.

Konzentrier dich! Du schaffst das!

Seine Augen waren noch immer starr, doch er erkannte jetzt mehr als nur Finsternis und Schatten. Über ihm war seine Zimmerdecke und aus den Augenwinkeln heraus erkannte er neben sich an der Wand die Regalbretter, auf denen einige seiner Bücher, Comics und Computerspiele lagen.

Er schaffte es, zu blinzeln.

Er war zu Hause. In seinem Bett. In Sicherheit.

Nichts und niemand konnte ihm hier etwas antun.

Sein Herz stolperte voller Erleichterung und die Kralle, die es zusammenquetschte, schien sich zu lockern.

Sein Fluchtplan.

Er musste sich an seinen Fluchtplan halten.

Kontrolliere deinen Atem.

Er schloss die Augen und konzentrierte sich darauf, aus dem schnellen flachen Keuchen tiefere ruhige Atemzüge werden zu lassen.

Ein … aus.

Ein … aus.

Der Druck um seine Brust ließ nach.

Ein … aus.

Ein … aus.

Er konzentrierte sich auf seinen Herzschlag. Spürte, wie auch der ruhiger wurde und wie er die Kontrolle über seinen Körper zurückbekam, je mehr er es schaffte, sich zu entspannen. Seine Finger hatten sich in seine Bettdecke gekrallt, doch es gelang ihm, sie zu lösen. Auch seine Beine konnte er wieder bewegen. Die Muskeln kribbelten, als sich die Verkrampfungen lockerten.

Ein letztes Mal sog Cam tief die Luft ein und hielt sie an. Dann öffnete er die Augen und atmete langsam aus.

Er hatte es geschafft.

Albtraum und Starre waren vorbei.

Doch die Erleichterung darüber verflog schnell und er fühlte sich miserabel.

Er wandte den Kopf. Die Leuchtziffern seines Weckers schimmerten in mattem grünen Licht.

 

Kurz nach zwei.

Es war kaum eine Stunde her, dass Jules ihn aus dem ersten Albtraum herausgeholt hatte.

Zwei Attacken in einer Nacht?

Das war neu.

Und nicht gut.

Gar nicht gut.

Ächzend setzte er sich auf.

Kopfschmerzen pochten gegen seine Schläfen und er spürte leichten Schwindel.

Unwirsch wischte er sich über die Augen. Seine Arme fühlten sich bleischwer an und seine Hände zitterten.

Er angelte nach seiner Wasserflasche.

Seine Kehle war wie ausgedorrt und jeder Schluck fühlte sich an, als würde er Reißzwecken hinunterwürgen.

Doch der Schmerz tat gut.

Er half gegen Wut und Frust, die in seiner Seele zu brennen begannen.

Cam hatte sich daran gewöhnt, dass er seit Monaten kaum mal eine Nacht ohne Anfall durchschlafen konnte. Hatte es hingenommen und akzeptiert. Viele Menschen hatten in Unheilige Zeiten mit Ängsten, Albträumen und Schlaflosigkeit zu kämpfen. Kein Grund, ein großes Ding daraus zu machen. Wenn andere damit klarkamen, schaffte er das auch.

Er hatte auch akzeptiert, dass er ausgerechnet jetzt zur Schule gehen sollte, obwohl er das nicht wollte. Aber er wusste, dass es wichtig war. Nicht nur für die Akzeptanz der Totenbändiger in der Gesellschaft. Auch für ihn selbst. Wenn er sich irgendwann einen Job suchte und seinen potenziellen Arbeitgebern das Abschlusszeugnis einer öffentlichen Schule vorlegen konnte, zeigte das, dass er keine Gefahr für andere war, und man stellte ihn vielleicht eher ein. Und er wollte einen guten Job finden. Er wollte etwas zur Familienkasse beisteuern können. Wollte Sue, Phil und Granny etwas zurückgeben für alles, was sie für ihn getan hatten.

Deshalb würde er diese verdammte Schule durchziehen, auch wenn das Stress und Unruhe bedeutete. Oder dass er mit Arschlöchern wie Topher klarkommen musste.

Das alles würde er schon irgendwie hinkriegen. Er war schließlich kein kleines Kind mehr.

Aber mussten ihm diese beschissenen Albträume dabei jetzt noch zusätzlich das Leben schwermachen? Noch mehr als sonst?

Mann, das war einfach nicht fair!

Seine Hände hatten sich ganz von alleine zu Fäusten geballt, als die Wut in seinem Inneren immer mehr zu brodeln begann.

Er hatte es satt! So verdammt satt!

Er gab sich so viel Mühe, steckte so viel ein.

War es da vom diesem Scheißleben echt zu viel verlangt, dass nicht immer alles noch schwieriger und noch anstrengender wurde?

Wut und Frust pulsierten durch seine Adern.

Er hasste diese Machtlosigkeit, dieses Ausgeliefertsein!

Diese verfluchte Ungerechtigkeit!

Sein Herz wummerte gegen seine Rippen. Blut rauschte in seinen Ohren und die Kopfschmerzen hämmerten unerträglich im Takt seines Herzschlags gegen seine Schläfen.

Keuchend presste Cam seine Fäuste dagegen und kniff die Augen fest zusammen.

Es musste aufhören.

Albträume und Wut.

Unruhe, Panik und Angststarre.

Der Hass auf diese Hilflosigkeit.

Er ertrug das alles einfach nicht mehr.

Es musste aufhören.

Jetzt. Sofort.

Und er wusste auch, wie.

Er riss die Augen wieder auf, wandte sich zu seinem Nachttisch um und zog die Schublade auf. Im Dunkeln tastete er nach dem kleinen Päckchen, das er tief in der hintersten Ecke versteckt hielt.

Da war es.

Er zog es hervor, öffnete es und holte eine der Rasierklingen heraus.

Sie würde helfen, das wusste er.

Mit ihr holte er sich die Kontrolle zurück.

Er zog den Ärmel seines Schlafshirts hoch und presste die Kiefer aufeinander.

Dann ritzte er sich in den Arm.

Ende des 1. Teils


II


Die Akademie

Kapitel 1

2. September

Erster Schultag nach den Sommerferien in der Akademie der Totenbändiger

Nur mit Mühe unterdrückte Jaz ein Gähnen und wünschte sich zurück ins Bett. Worum auch immer es in dieser Oberstufenversammlung gleich gehen würde, sie war sich sicher, eine Stunde Schlaf wäre sinnvoller verbrachte Zeit.

Ein Spiel aus Sonnenlicht und Wolkenschatten fiel durch die hohen Fenster in den altehrwürdigen Versammlungssaal der Akademie. Zwei Stockwerke hoch und holzgetäfelt besaß der längliche Raum eine gewölbte Kuppeldecke, in deren Stein irgendwann vor langer Zeit hübsche Ornamente gemeißelt worden waren. Eine Galerie lief auf Höhe des ersten Stockwerks entlang und führte in die Nachbargebäude. Dicke Läufer lagen auf jahrhundertealtem Steinboden und an den Wänden hingen Portraits der verschiedenen Master, die seit über vierhundert Jahren erst das Anwesen, später dann die Akademie geleitet hatten.

Jaz betrachtete das Gemälde von Master Barnabas. Ein Hüne mit feuerroten Haaren und ebensolchem Bart. Er war der erste Master gewesen. Laut der alten Geschichtsaufzeichnungen hatte er eine Truppe von Totenbändigern aus dem ganzen Land um sich geschart und war mit ihnen mehrere Jahre raubend und mordend durch halb England gezogen, bevor sie im Herbst 1613 nach London kamen. Die dunkle Jahreszeit stand vor der Tür und sie brauchten eine Unterkunft, also metzelten sie kurzerhand eine Adelsfamilie nieder, die auf einem Anwesen am Richmond Park lebte, und übernahmen das schlossartige Herrenhaus samt seiner Ländereien. Die Nachbarn waren darüber verständlicherweise wenig begeistert und es gab etliche Versuche, Barnabas und seine Leute wieder zu vertreiben – mit hohen Verlusten auf beiden Seiten, sodass man sich schließlich auf einen Waffenstillstand einigte: Man überließ Barnabas das Anwesen, dafür verschonten die Totenbändiger die Nachbarschaft mit Raubzügen.

Barnabas gefiel sich in seiner neuen Rolle als Schlossherr, ließ seine Anhänger den landwirtschaftlichen Betrieb wieder aufnehmen und das Herrenhaus wurde zu einer Anlaufstelle für alle Totenbändiger im Großraum Londons.

In der Akademie wurde der erste Master dafür als Held gefeiert. Jaz dagegen fand, Leute wie Barnabas und seiner Horde trugen maßgeblich Schuld daran, dass Totenbändiger in der Gesellschaft einen so schweren Stand hatten. Las man in den Geschichtsbüchern zwischen den Zeilen, musste jedem klar sein, dass Barnabas nach dem Waffenstillstand zwar die Leute in der Nachbarschaft in Frieden gelassen hatte, doch das galt nicht für den Rest Londons. Woher hätten sonst die Gelder für den Ausbau des Herrenhauses kommen sollen? Nur von der Landwirtschaft sicher nicht. Also wurde vermutlich weiter geplündert und gemordet, um sich zu bereichern. Um des lieben Friedens willen nur eben nicht mehr direkt vor der Haustür.

In den Geschichtsbüchern stand außerdem viel von geschäftlichen Beziehungen, die Barnabas mit den Reichen und Mächtigen der Londoner Gesellschaft nach und nach aufbaute. Er bot ihnen mit seinen Totenbändigern Personenschutz gegen Geister und Ganoven an, wenn Adelige und Politiker in der Dämmerzeit unterwegs waren. Weitere Angebote waren die Säuberungen von Grundstücken sowie deren Absicherung gegen Geister und Wiedergänge. Seine Dienste ließ er sich großzügig bezahlen. Und Jaz ging jede Wette ein, dass diejenigen, die kein Interesse an diesen Diensten zeigten, schnell vom Gegenteil überzeugt wurden, indem man ihnen ein paar unschöne Begegnungen mit Geistern oder Ganoven bescherte.

Jaz wandte den Blick vom ersten Master ab und betrachtete stattdessen das Portrait des heutigen Schulleiters. Cornelius Carlton hatte erreicht, dass nächsten Monat darüber abgestimmt wurde, ob die Gilde der Totenbändiger genau wie alle anderen Gilden Londons endlich einen Sitz im Stadtrat bekommen sollte. Jaz fragte sich, welche Mittel Master Carlton dafür wohl eingesetzt haben mochte – und welche er noch einsetzen würde, damit der Stadtrat bei der Abstimmung zugunsten der Totenbändiger entschied.

Innerlich seufzend schaute sie aus dem Fenster. Vom einstigen landwirtschaftlichen Betrieb war nicht mehr viel übrig. Es gab auf dem Gelände zwar noch ein paar Gemüsebeete und einen Hühnerstall, um die sich die jüngeren Kinder der Akademie mit ihren Betreuern kümmerten, doch ein Großteil der Ländereien war in den letzten Jahrhunderten verkauft worden. Mittlerweile bestand das Anwesen nur noch aus dem großen, hufeisenförmigen Haupthaus sowie zwei etwas abseits gelegenen Nebengebäuden, in denen früher die Stallungen untergebracht waren. Heute diente eines als Garage, das andere als Trainingsraum für den Unterricht in Sport, Selbstverteidigung und Grundlagen der Totenbändigerfähigkeiten. Im Haupthaus befanden sich neben dem Versammlungssaal die Bibliothek, Klassenzimmer, Lehrerzimmer sowie Wohnräume von Schülern und Lehrern, außerdem Küche und Speisesaal, Büros und die Privaträume des Leiters der Akademie.

Jaz änderte ihre Sitzposition. Sie saß hier noch keine zehn Minuten, trotzdem taten ihr Rücken und Hintern jetzt schon weh. Vermutlich waren diese blöden Stühle vor gefühlten zweihundert Jahren extra so unbequem gestaltet worden, damit man bei langweiligen Vorträgen bloß nicht einschlief. Sie unterdrückte ein weiteres Gähnen und blickte sehnsüchtig zum verwilderten Wald des Richmond Parks hinüber, der sich jenseits der Grundstücksmauern erstreckte. Sie hätte jetzt einiges dafür gegeben, dort draußen zu sein.

Joggen zum Wachwerden.

Das hätte jetzt was.

Stattdessen hatte man sie mit den anderen Oberstufenschülern der Akademie in den Versammlungssaal bestellt – und Versammlungen bedeuteten entweder nichts Gutes oder elend lange, sterbensöde Vorträge.

Klassische No-Win-Situation.

Sie waren nicht viele Schülerinnen und Schüler in der Oberstufe. Sechs, die dieses Schuljahr den Abschluss machen wollten, sieben im nächsten. Nicht jeder schaffte die Anforderungen für die Oberstufe und der ein oder andere brach auch noch innerhalb der beiden Abiturjahre ab. Doch ein höherer Abschluss bedeutete bessere Chancen auf einen Job und Totenbändiger konnten jeden erdenklichen Vorteil bei der Arbeitssuche gebrauchen. Außerdem konnte man die Akademie ohnehin erst mit achtzehn verlassen, wenn man keine Familie hatte – außer man ging nach Newfield.

Jaz’ Hals juckte. Der steife Kragen ihrer Bluse machte sie wahnsinnig. Wer auch immer in grauer Vorzeit Stehkragenblusen als Teil der Schuluniform festgelegt hatte, war definitiv sadistisch veranlagt gewesen. Und wie jedes Jahr war es nach fast zwei Monaten Sommerferien auch diesmal wieder eine Umstellung, das ätzende Ding tragen zu müssen.

Ein letztes Jahr lang.

Und wenn es nach Jaz ging, konnte es gar nicht schnell genug vorübergehen.

»Oh Mann, ich bin so aufgeregt! Ich kann es immer noch nicht fassen, dass ich es tatsächlich in die Oberstufe geschafft hab!« Hibbelig rutschte Sarah auf ihrem Stuhl hin und her. »Was denkt ihr, warum sie uns hierher bestellt haben? War das im letzten Jahr bei euch genauso? Gab es da auch eine Oberstufenversammlung zu Beginn des neuen Schuljahres?«, fragte sie an Jessica, Jaz und David gewandt, wartete deren Antwort aber gar nicht ab, sondern plapperte sofort weiter. »Ich glaube nicht, oder? Ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern, dass ihr zu so was hinmusstet.«

Wie so oft redete Sarah ohne Punkt und Komma. In Sozialkunde hatten sie irgendwann mal durchgenommen, dass jeder Mensch im Durchschnitt sechzehntausend Wörter am Tag sprach. Sarah schaffte locker doppelt so viele. Jaz dagegen beschränkte sich gerne aufs Nötigste. Statistisch gesehen ergänzten sie sich also perfekt.

Jaz warf ihrer Zimmergenossin einen Seitenblick zu. Sarah hatte ihre zartrosa Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten, was sie in Verbindung mit der Schuluniform aussehen ließ wie ein zwölfjähriges Chormädchen, nicht wie eine sechszehnjährige Oberstufenschülerin. Doch Sarah lebte ohnehin oft in ihrer eigenen kleinen Welt und träumte vom berühmten Prinzen auf dem weißen Pferd. Sie war ein Jahr jünger als Jaz und genau wie sie eine Interne, die als Baby in der Akademie abgegeben worden war, weil ihre leiblichen Eltern keine Totenbändigerin in ihrer Familie hatten haben wollten. Solange Jaz denken konnte, teilten sie sich schon ein Zimmer, und obwohl sie so verschieden waren wie Tag und Nacht, hatte das immer erstaunlich gut funktioniert. Sie waren zwar keine besten Freundinnen, sondern eher eine Art gut eingespielte Zweckgemeinschaft, aber sie halfen sich gegenseitig und nahmen einander so, wie sie eben waren. Das war mehr, als die meisten anderen hier taten.

 

»Nee, letztes Jahr hatten wir keine Versammlung.« Jessica spielte mit einer ihrer schwarzen Korkenzieherlocken. Ihre Haut war so dunkel, dass man die feinen schwarzen Totenbändigerlinien, die sich von ihrer Schläfe hinab zum Ohr schlängelten, kaum erkennen konnte. Jessica war eine der Externen, die jeden Morgen zur Schule herkamen. Ihre Eltern waren beide Totenbändiger und soweit Jaz wusste, lebten sie irgendwo in Putney in der Nähe des Wandsworth Parks. Jessica war zwar deutlich cooler als Sarah, doch auch sie sah in der Uniform aus wie ein Chormädchen.

Jaz schnaubte innerlich. Himmel, wir sehen alle aus wie verdammte Chorkinder!

Ihre Schuluniform bestand aus einer weißen Bluse mit immens nervigem, extra steif gebügeltem Stehkragen, einem knielangen schwarzen Faltenrock, grauem Pullunder und einem schwarzen Blazer, auf dessen linker Brustseite in Weiß das Zeichen der Akademie aufgestickt war: eine Triskele, deren drei Schlaufen in keltischen Knoten endeten. Diese Dreieinigkeit stand in ihrer Gemeinschaft für Körper, Seele und Geist, mit denen Totenbändiger ihre Fähigkeiten beherrschten und sich von den unbegabten Menschen unterschieden, die keine Chance gegen Geister und Wiedergänger hatten.

»Ich schätze, diese Versammlung hat etwas mit unseren Besuchern zu tun«, meinte David, ein weiteres internes Chorkind. Die Uniform der Jungen bestand aus weißen Hemden, schwarzen Tuchhosen, grauen Pullundern und schwarzen Sakkos, auf denen ebenfalls das Schulwappen aufgestickt war.

»Welche Besucher?«, fragte Jessica überrascht.

»Die beiden aus Newfield.«

David nahm seine Brille ab und polierte die Gläser mit einem Zipfel seines Pullunders. Wie immer hatte er seinen violett schimmernden Haaren einen perfekten Seitenscheitel verpasst und sie mit jeder Menge Gel fixiert, damit bloß keine Strähne irgendetwas tat, was sie nicht tun sollte.

»Sie sind gestern sehr spät hier angekommen. Master Carlton hat sie in seinen Privaträumen zum Abendessen empfangen und heute Morgen haben sie dort gemeinsam gefrühstückt. Ruben und ich hatten Servierdienst. Die zwei sind sehr nett. Sie heißen Anya und Drew. Anya ist früher hier in der Akademie zur Schule gegangen.«

»Oh wie cool! Besuch aus Newfield!« Wie immer war Sarah total schnell begeistert, egal von was. »Da muss es sooo toll sein. Ich hatte ja echt überlegt, ob ich Master Carltons Angebot annehmen und dorthin wechseln soll, aber Jaz meinte, ich soll erst mal die Oberstufe versuchen. Immerhin hab ich die Qualifikation dafür ja geschafft.«

Mit Ach und Krach. Zig Stunden hatte Jaz mit ihr gebüffelt, damit Sarah es hinbekam. Und als sie die Prüfungen dann tatsächlich bestanden hatte und plötzlich meinte, sie würde vielleicht doch gar nicht in die Oberstufe wollen, hatte Jaz ihr ordentlich ins Gewissen geredet – und sich damit bei Master Carlton nicht sonderlich beliebt gemacht. Aber das war Jaz egal. Auf einmal mehr oder weniger anecken bei ihrem Schulleiter kam es ohnehin nicht mehr an.

»Weißt du schon, dass letzte Woche fünf Kids aus Newfield zu uns in die Akademie gekommen sind?«, fragte Sarah an Jessica gewandt. »Sie sollen hier eine gute Schulbildung bekommen.«

»Macht Sinn. Auf der Farm haben sie dafür nicht die Möglichkeiten. Würdest du da echt hinwollen? Weg aus London in die Pampa von Yorkshire?« Jessica rümpfte die Nase und spielte weiter mit einer ihrer Locken.

Sarah nickte eifrig. »Sicher. Das ist doch total idyllisch! Und Newfield ist ja schon viel mehr als bloß eine Farm. Master Carlton hat uns erzählt, dass sie dort ständig bauen und alles erweitern. Es soll zu einem richtigen kleinen Dorf werden, in dem nur Totenbändiger leben. Stell dir doch mal vor, wie cool das wäre! Keine Unbegabten, die uns blöd angucken. Nicht mehr ständig angefeindet werden, wenn wir einen Fuß vor die Tür setzen. Ein eigenes kleines Dorf, nur für uns alleine. Das ist doch toll!«

»Ich finde die Idee auch sehr reizvoll.« David setzte sich die Brille wieder auf und schob sie seine Nase hoch. »Ich werde auf jeden Fall nach Newfield gehen. Natürlich erst nach dem Abschluss hier auf der Akademie. Ich könnte auf der Farm leben und ein Fernstudium machen. Master Carlton findet das eine gute Idee. Sie haben bisher erst eine Ärztin, und wenn Newfield in den nächsten Jahren weiter wächst, brauchen sie mehr Fachleute, um die medizinische Versorgung zu gewährleisten. Ich würde gerne dabei helfen, dort unsere eigene Gesellschaft aufzubauen.«

»Ich auch!«, strahlte Sarah. »Das klingt sooo cool!«

Die Tür zum Südflügel ging auf und Cornelius Carlton erschien. Der Leiter der Akademie wurde begleitet von einer Frau und einem Mann. Jaz schätzte die beiden auf Mitte bis Ende zwanzig. Er war groß und muskulös, komplett in lässigem Schwarz gekleidet mit Jeans, Hemd und Boots. Sie trug ein schlichtes Sommerkleid, unter dem sich ein kleiner Babybauch wölbte. Hinter den dreien schritt Blaine mit seiner typischen Ich-bin-der-Sohn-des-Akademieleiters-Haltung in den Versammlungssaal. An seiner Seite waren Leroy und Asha, seine beiden nicht minder arroganten Freunde, die sich für etwas Besseres hielten, weil sie aus jahrhundertealten Totenbändigerfamilien stammten. Beim Anblick der drei fragte Jaz sich wie so oft, womit sie es verdient hatte, dass die drei ausgerechnet in ihrem Jahrgang waren.

»Guten Morgen, Oberstufe!« Master Carlton hatte die Stühle des Versammlungssaals zu einem Kreis stellen lassen und lud seine beiden Gäste ein, Platz zu nehmen. Cornelius Carlton war ein hochgewachsener, gutaussehender Mann Mitte vierzig, der die Leitung der Akademie vor zwölf Jahren nach dem Tod seines Vaters übernommen hatte. Er blieb als Einziger im Kreis stehen und bedachte seine Schülerinnen und Schüler mit einem Lächeln.

»Für die einen von euch ist dies das letzte Schuljahr.« Er sah zu seinem Sohn, Leroy, Asha, David, Jaz und Jessica. »Für die anderen startet heute der erste Tag eurer freiwilligen Schulbildung.« Er blickte zu Sarah und den anderen sechs aus der elften Klasse. »Und für euch alle ist es damit Zeit, euch Gedanken um eure Zukunft zu machen.«

Jaz pustete sich eine burgunderfarbene Haarsträhne aus der Stirn, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, und widerstand nur mit Mühe dem Drang, genervt ihre Arme vor der Brust zu verschränken. Sie hatte solche Planungsgespräche über ihre Zukunft mit ihrem Schulleiter in diesem Jahr schon zwei Mal geführt. Mit mäßigem Erfolg. Master Carlton akzeptierte nicht, dass man andere Pläne hatte als die, die er für einen vorsah, deshalb hatte Jaz so ihre Schwierigkeiten mit ihrem Schulleiter. Und die Tatsache, dass zu der heutigen Versammlung nur zwei Leute aus Newfield hier waren und keinerlei alternative Berufsberater, ließ sie ahnen, wie einseitig dieses Planungsgespräch laufen würde.

Prinzipiell konnte Jaz verstehen, dass für viele ihrer Leute die Vorstellung eines Ortes, an dem nur Totenbändiger lebten und man nicht schief angeguckt und vorverurteilt wurde, sehr verlockend war. Wenn sie durch London streifte, nervten sie die Anfeindungen und misstrauischen Blicke auch tierisch. Doch ein Rückzug aus der Gesellschaft auf irgendeine abgelegene Farm in Yorkshire änderte daran ja nichts. Im Gegenteil. Wenn Totenbändiger sich rund um diese Farm ein eigenes Dorf aufbauten und sich darin vor dem Rest der Bevölkerung abschotteten, dachten die Menschen doch gleich wer weiß was und das würde Vorurteile und Misstrauen gegenüber Totenbändigern nur verstärken.

Die viel bessere Lösung war doch Sichtbarkeit. Für Jaz mussten Totenbändiger in der Gesellschaft noch viel präsenter werden als bisher.

»Einige von euch wollen hier in London bleiben und sich gemeinsam mit unserer Gilde für die Gleichstellung der Totenbändiger einsetzen«, sprach Carlton weiter und bedachte seinen Sohn und dessen Freunde mit einem wohlwollenden Blick.

Blaine lächelte selbstgefällig in die Runde und Jaz konnte sich ein Augenrollen nicht verkneifen. Klar durfte der Kronprinz an Daddys Seite bleiben. Vermutlich spekulierte er schon darauf, eines Tages die Leitung der Akademie von seinem Vater zu übernehmen, genauso wie Carlton sie von seinem Vater übernommen hatte.

Jaz wollte auch in London bleiben und sich für ein besseres Ansehen der Totenbändiger hier in der Stadt einsetzen. Nach ihrem Anschluss wollte sie auf die Polizeiakademie gehen und sich später für eine der Spuk Squads bewerben. Gemeinsam mit Nicht-Totenbändigern gegen Geister und Wiedergänger kämpfen und so ihren Mitbürgern zeigen, wie gut zusammenarbeiten und zusammenleben funktionierte. Doch Master Carlton war mit ihren Plänen nicht einverstanden.