Die Totenbändiger - Äquinoktium - Die gesamte erste Staffel

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»Seid vorsichtig, okay?«, murmelte er. »Ich hab kein gutes Gefühl bei der Sache.«

Gabriel lachte freudlos auf. »Bei einem Haufen übel zugerichteter Leichen hat niemand ein gutes Gefühl, Kleiner.«

»Lass die Witze, Gabe. Ich meine es ernst. Wirklich. Ich weiß nicht warum, aber ich hab kein gutes Gefühl. Also seid bitte vorsichtig, verstanden?«

»Hey.« Da Gabriel merkte, wie wichtig es Cam war, wurde auch er wieder ernst. »Keine Sorge.« Er legte seinem Bruder einen Arm um die Schultern und strubbelte ihm durch die Haare. »Das sind wir immer.«

»Ja, klar«, schnaubte Cam sarkastisch. »So wie heute, als ihr blindlings in die Falle des Hocus’ getappt seid.«

»Autsch.« Gabriel griff sich an sein Herz. »Danke fürs Noch-mal-unter-die-Nase-reiben!«

»Nichts zu danken. Gern geschehen!«

Gabriel verpasste ihm eine Kopfnuss.

Ein unheilvolles Heulen erklang aus dem Wald jenseits ihres Gartens und ein erster Geisterschimmer erschien hinter der Hecke.

Ruckartig setzte Watson sich auf Cams Schoß auf, blickte kurz in Richtung Wald, maunzte dann kläglich und schmiegte sich ängstlich an Cam.

Der streichelte den kleinen Kater beruhigend. »Schon gut. Ich pass schon auf, dass keiner dir was tut.«

Gabriel stand auf. »Los, lass uns reingehen. Wer weiß, vielleicht kommt dein ungutes Gefühl ja bloß von den Geistern, die aus dem Wald gekrochen kommen.«

»Haha«, gab Cam ironisch zurück und stemmte sich mit Watson auf dem Arm ebenfalls von den Stufen hoch. »Danke fürs Unter-die-Nase-reiben!«

»Nichts zu danken. Gern geschehen.« Gabriel bedachte ihn mit einem genauso ironischen Grinsen. »Sherlock! Holmes!«, rief er dann in Richtung Rhododendron. »Ab ins Haus. Die Geister kommen!«

Der Busch schien zu explodieren, als Katzenjunge und Dackelwelpe gleichzeitig zwischen den Zweigen herausschossen. Wie zwei Raketen fegten sie an Gabriel und Cam vorbei die Stufen hinauf, quer über die Terrasse und hinein ins Haus, jeder mit seinem Ball in der Schnauze, um ihn vor den bösen Geistern in Sicherheit zu bringen – und drinnen damit weiterzuspielen. Zwischen den Sofakissen auf der Couch konnte man die nämlich genauso toll verstecken wie in den Gartensträuchern.

»Wow«, meinte Gabriel sichtlich beeindruckt. »Bei den meisten Kommandos hat man das Gefühl, die zwei sind stocktaub, aber wenn es um Geister geht, hören sie sofort.«

Cam strich Watson über den Kopf. Bei dem Wort Geister hatte sich der kleine Kater wieder dicht an ihn geschmiegt.

»Sie sind eben clever«, meinte Cam schulterzuckend. »Und sie haben Charakter.«

Kapitel 13


Schlaftrunken tappte Jules vom Bad zu seinem Zimmer zurück und gab sich Mühe, dabei nicht wacher zu werden als unbedingt nötig.

Er hasste es, wenn er nachts zum Klo musste.

Gähnend rieb er sich die Augen und wäre um ein Haar gegen die alte Kommode gelaufen, die Ella, Cam und er als Schuhschrank benutzten.

Der kleine Flur des Dachgeschosses war voller Schatten. Durch das Giebelfenster an der Straßenseite fiel kaum Licht, weil es in ihrer Straße trotz der direkten Lage am Hampstead Heath keine Laternen gab. Der Crescent Drive war bloß eine unbedeutende kleine Sackgasse. Für zehn Häuser ließ die Stadt keine teure Straßenbeleuchtung installieren.

Jules schlurfte an Ellas Tür vorbei und wollte einfach nur zurück ins Bett, als er plötzlich das Keuchen hörte.

Schlagartig war er hellwach.

Die Tür zu Cams Zimmer stand einen Spalt weit offen.

Jules seufzte.

Cam hasste geschlossene Räume.

Als Kinder hatten sie sich ein Zimmer geteilt und jahrelang musste ihre Tür sowohl tagsüber als auch nachts offen stehen, weil Cam sonst unruhig wurde oder schlimmstenfalls sogar Panik bekam. Mit der Zeit war es aber besser geworden und aus dem obligatorischen Offenstehen der Tür war ein immer kleinerer Spalt geworden, bis sie sie irgendwann sogar ganz hatten schließen können. Außer bei Vollmond oder in Unheiligen Nächten. Wenn die Geister unruhiger waren als üblich, war Cam es auch, und das Gefühl, eingesperrt zu sein, ließ die Unruhe dann noch schlimmer werden.

Als sie älter wurden, hatten ihre Eltern aus den ungenutzten Dienstbotenquartieren im Dachgeschoss ein eigenes Reich für Ella, Jules und Cam gemacht und jeder von ihnen bekam ein eigenes Zimmer. Cam hatte die Einsamkeit zuerst nicht gemocht und um ihm die Umgewöhnung zu erleichtern, hatten Jules und er ihre Türen erneut offen gelassen. Doch mittlerweile wohnten sie seit über sieben Jahren hier oben und jeder von ihnen hatte seine Privatsphäre schätzen gelernt.

Meistens jedenfalls.

Doch Jules wusste, wie sehr Cam in letzter Zeit zu kämpfen hatte. Die erhöhte Aktivität der Seelenlosen im Unheiligen Jahr und die Aussicht, zur Schule gehen zu müssen, machten ihm schon seit Monaten zu schaffen. Dazu kam noch, dass sich Cams Gefühle für ihn geändert hatten. Als er Jules gestanden hatte, was er für ihn empfand, war das seltsam gewesen. Jules liebte alle seine Geschwister. Ob er mit ihnen blutsverwandt war oder nicht, machte für ihn dabei keinen Unterschied. Sky war seine leibliche Schwester, trotzdem fühlte sich die Verbindung zu ihr nicht anders an als die zu Gabriel oder Ella.

Cam dagegen war anders.

Er war nicht nur sein Bruder, sondern auch sein bester Freund und Seelenverwandter – auch wenn das immer irgendwie ein bisschen abgedroschen und kitschig klang. Aber es stimmte einfach.

Als Kinder waren sie unzertrennlich gewesen und heute mussten sie sich oft nur kurz ansehen, um zu wissen, was der andere dachte. Diese Verbundenheit war ein unglaubliches Gefühl, das Jules um nichts in der Welt missen wollte.

Außerdem war Cam irgendwie besonderer als andere Menschen. Er ließ Jules die Welt mit anderen Augen sehen, weil Cam sie mit anderen Augen sah. Mit Augen, die mehr wertschätzten und sich selbst für nicht so wichtig nahmen. Cam war einfach anders als andere.

Obwohl ihre Familie zusammenhielt wie Pech und Schwefel, hatte es bei ihnen genau wie in allen anderen Familien die üblichen Streitereien und Revierkämpfe unter den Geschwistern gegeben, als sie noch klein gewesen waren. Die Kleinen gegen die Großen, Mädchen gegen Jungs, manchmal jeder gegen jeden.

Wer durfte die neue Frühstücksflockenpackung öffnen und die Sticker haben, die dort drin versteckt waren?

Wer bekam das letzte Fischstäbchen?

Wer durfte als Erster einen Fußabdruck im frisch gefallenen Schnee hinterlassen?

Darum kämpfte man als Geschwister bis aufs Blut.

Metaphorisch gesprochen.

So wollte es das Gesetz.

Cam hatte bei diesen kleinen Machtkämpfen nie mitgemacht. Füllte man ihm bei den Mahlzeiten Essen auf oder gab es Süßigkeiten, hatte er sich über das gefreut, was er bekam. Er hatte niemals nach mehr gefragt, weil er nicht auf den Gedanken gekommen war, dass ihm mehr zustünde. Er erwartete einfach nicht mehr.

Er hatte sich auch nie beschwert, wenn man ihm etwas wegnahm. Wenn Granny Gummibärchen verteilt hatte, verlangte es das Geschwistergesetz, dass man versuchte, sich gegenseitig welche zu klauen. Cam hatte seine jedoch freiwillig hergegeben. Manchmal ohne überhaupt eins zu essen. Nicht, weil er sich vor seinen Geschwistern fürchtete, sondern weil er sie liebte. Und wenn ihnen die Gummibärchen so wichtig waren, dann gab er sie ihnen gerne.

Bei Fremden war es schwieriger gewesen. Wenn die anderen Kinder auf dem Spielplatz gemein zu ihm gewesen waren, wenn sie ihm Spielsachen weggenommen hatten oder ihn beschimpften, weil er ein Totenbändiger war, hatte Cam das zwar auch hingenommen und sich nie gewehrt, doch es hatte ihn wütend gemacht. Richtig wütend. Und die Wut musste irgendwo hin. Meistens landete sie in seinen Füßen und die hatten irgendwo gegentreten müssen. Gegen das Klettergerüst, eine Bank oder einen Mülleimer. Manchmal war die Wut auch in seinen Fäusten gelandet und er hatte sie im Sandkasten in die Burg geschlagen, die sie gebaut hatten.

Einmal war die Wut so schlimm gewesen, dass Cam seine Fäuste gegen einen Baum geschlagen hatte. Immer und immer wieder. Sie waren sieben oder acht Jahre alt gewesen und Jules wusste noch ganz genau, wie erschrocken und hilflos er sich gefühlte hatte, weil Cam nicht hatte aufhören wollen. Sie waren alleine auf dem Spielplatz und erst als Cams Hände voller Blut gewesen waren, hatte Jules es geschafft, ihn mit sich zu ziehen und nach Hause zu bringen.

Ihr Dad hatte die Wunden versorgt und Cam etwas gegeben, damit er ruhiger wurde. Und seine Mum hatte Jules erklärt, dass Cam eine besondere Seele war und er deshalb einen besonderen Freund an seiner Seite brauchte, der auf ihn aufpasste und ihm half, wenn seine Wut oder seine Unruhe zu schlimm wurden.

Jules war sofort bereit gewesen, dieser besondere Freund für Cam zu sein, auch wenn er nicht gewusst hatte, was genau er dafür tun sollte.

»Sei einfach nur an seiner Seite«, hatte seine Mum gesagt. »Zeig ihm, dass du immer da bist, wenn er dich braucht.«

Das fand Jules nicht sonderlich schwierig, schließlich waren sie ja sowieso unzertrennlich.

Und es hatte funktioniert.

Cam hatte sich nie wieder die Fäuste aufgeschlagen.

Er war allerdings auch nie wieder auf den Spielplatz gegangen. Lieber spielte er alleine mit Jules abseits der Wege im Wald und er entdeckte Gabriels altes Skateboard für sich. Stundenlang übte er in ihrer Sackgasse, bis er die Bordsteine und Treppenstufen zu ihrem Vorgarten rauf- und runterspringen konnte. Wenn Jules ihn mal wieder mit zum Spielplatz nehmen wollte, hatte Cam abgelehnt. Selbst dann, wenn Gabriel angeboten hatte, mitzugehen.

 

Es machte Cam aber nichts aus, wenn die anderen ohne ihn gingen. Meistens war er sich selbst genug und spielte auch gerne alleine. Bis heute hatte sich daran nicht viel geändert.

Auch für Jules nicht.

Nach wie vor war Cam für ihn jemand Besonderes und die Zeit, die sie miteinander verbrachten, war Jules wertvoll, weil sie ihm guttat. Und wenn Cam ihn brauchte, war er für ihn da. Immer. Ohne Wenn und Aber.

Doch Jules brauchte auch die Gesellschaft von anderen. Nur seine Familie, nur Cam – das reichte ihm einfach nicht.

Es schmerzte, dass er für Cam nicht der sein konnte, den Cam gerne gehabt hätte. Aber er konnte ihn nicht anlügen und ihm irgendetwas vormachen. Er war noch nicht bereit, für eine feste Beziehung. So etwas ging man schließlich nicht leichtfertig ein. Es war etwas Besonderes – und er war noch zu neugierig, wollte sich ausprobieren und einfach Spaß haben.

Unbeschwert.

Ohne Verpflichtungen oder schlechtes Gewissen.

Er war froh, dass Cam das verstanden hatte, auch wenn er deshalb auf Abstand zu Jules gegangen war. Jules hatte respektiert, dass Cam den brauchte und er hatte ihn in Ruhe gelassen.

Doch damit war jetzt Schluss.

Das Keuchen, das aus Cams Zimmer drang, klang panisch und verzweifelt, deshalb schoss Jules Respekt und Rücksichtnahme in den Wind und stieß die Tür zu Cams Zimmer auf.

»Cam, ich bin’s.«, sagte er leise und eilte zum Nachttisch. »Ich mache Licht an, okay?«

Er fand den Schalter und warmer Lichtschein vertrieb die Finsternis.

Cam lag steif wie ein Brett auf seiner Matratze und starrte an die Decke. Sein Atem ging in kurzen abgehackten Stößen, als müsste er um sein Leben rennen, während ihm gleichzeitig irgendetwas seine Brust zusammenquetschte. Feine Schweißperlen standen auf seiner Stirn und seine Finger hatten sich so fest in seine Bettdecke gekrallt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

»Hey, es ist alles gut.«

Cam reagiert nicht, als Jules sich zu ihm auf die Bettkante setzte. Den Blick noch immer starr zur Decke gerichtet, schien er nicht einmal wahrzunehmen, dass jemand bei ihm war.

Jules zog die Bettdecke zurück und legte eine Hand auf Cams Herz, die andere auf seine Stirn.

»Ich bin hier und ich helfe dir da raus. Versprochen.«

Er sprach sanft und leise. Wenn Cam diese seltsamen Anfälle von Nachtangst als Kind gehabt hatte, hatte Jules immer seine Mum geholt, damit sie Cam half. Doch nach der Sache mit den blutigen Fäusten hatte Jules es selbst können wollen. Schließlich war er ja jetzt Cams besonderer Freund, also musste er auch wissen, wie er ihm bei diesen gemeinen Angstattacken helfen konnte.

Die ersten paar Mal war er schrecklich aufgeregt gewesen und hatte Angst gehabt, irgendetwas falsch zu machen. Doch seine Mum hatte ihm gezeigt, wie es ging. Eigentlich war es ganz einfach. Er durfte bloß keine Angst haben. Und er musste selbst ruhig bleiben. Dann konnte er seine Ruhe in sein Silberlicht stecken und sie Cam schenken, damit er aufwachte.

Richtig aufwachte.

Nicht mit diesen starren Augen, die zwar offen waren, aber nichts sahen, und in denen so viel Angst und Panik lag.

Jules atmete tief durch und griff nach seiner inneren Ruhe.

Er spürte Cams hämmernden Herzschlag durch den dünnen Stoff seines Schlafshirts und fühlte seine klamme Stirn und die verschwitzten Haare.

Direkter Hautkontakt machte eine Verbindung leichter, also suchte er sie an Cams Schläfe und fuhr sanft über die schwarzen Totenbändigerlinien.

Feiner Silbernebel erschien an seinen Fingerspitzen. Jules leitete ihn durch Cams Schläfe und schickte ihn los, die dunklen Angstträume zu vertreiben, die Cam gefangen hielten.

»Okay, du weißt, dass du mithelfen musst, dann geht es schneller. Also denk an deinen Fluchtplan.«

Cam atmete noch immer flach und zu schnell, doch sein Blick flackerte kurz.

Jules ließ seine Finger an Cams Schläfe und schenkte ihm weiter Ruhe. Seine andere Hand legte er über Cams Faust, die sich in die Bettdecke gekrallt hatte.

»Konzentriere dich auf deine Hand.« Sacht strich er mit dem Daumen über Cams verkrampfte Finger. »Sag deinen Fingern, dass sie die Decke loslassen sollen. Du kannst das. Das weiß ich.« Wieder strich er über Cams Hand. »Lockere deine Finger und hol dir so die Kontrolle zurück.«

Cams Finger zuckten. Dann fuhr er plötzlich keuchend aus der Schlafstarre und sog tief die Luft ein. Panisch wich er vor Jules zurück und schien nur langsam zu realisieren, wo er sich befand und wer bei ihm war.

Jules lächelte. »Hey, da bist du ja. Willkommen zurück aus Nightmareville.«

Erschöpft schloss Cam die Augen und sank zurück in die Kissen. Ihm war kalt, seine Muskeln kribbelten unangenehm, als sie sich langsam entkrampften, und er fühlte sich so matt und zittrig wie nach einer schweren Grippe.

»Ich schätze mal, du kannst dich auch heute Nacht nicht daran erinnern, was du im Albtraumland erlebt hast?«

Das konnte er nie.

Wenn er aufwachte, wusste er immer nur, dass er Todesangst ausgestanden hatte. Meist blieb noch ein Schatten davon nach dem Aufwachen bei ihm zurück.

Cam schüttelte den Kopf, ließ es aber sofort, weil ihm davon schwindelig wurde. Während der verdammten Starre hatte er zu lange zu schnell geatmet.

»Du solltest was trinken«, hörte er Jules sagen. »Kannst du dich schon aufsetzen?«

Cam öffnete die Augen. Sein Herzschlag wurde langsam ruhiger, doch er fühlte sich noch immer zittrig und völlig ausgelaugt. Nach diesen beschissenen Anfällen war sein Körper immer ziemlich am Ende. Trotzdem wäre Cam am liebsten aufgesprungen. Es machte ihn wahnsinnig, dass er sich wieder nicht erinnern konnte, was ihn in diese fürchterliche Panik getrieben hatte.

Doch Aufspringen war nicht drin. Sein Körper ließ ihn nicht. Der fand es schon bloß semigut, als Cam sich mühsam aufsetzte. Dumpfe Kopfschmerzen pochten gegen seine Schläfen und ihm wurde wieder schwummrig. Ächzend lehnte er sich an die Wand.

»Hier. Trink was. Dann wird es besser.« Jules drückte ihm eine Wasserflasche in die Hand.

»Danke.« Cam musste husten. Seine Kehle war völlig ausgetrocknet.

Er trank ein paar Schlucke, doch die blöde Flasche schien ungefähr drei Tonnen zu wiegen und seine Hand begann zu zittern. Genervt ließ er den Arm sinken und sah zu Jules, der auf der Bettkante hockte und ihn nicht aus den Augen ließ.

»Warum bist du hier?«

»Ich war auf dem Klo und hab dich keuchen und stöhnen gehört.«

Cam hob eine Augenbraue. »Und dann kommst du einfach so in mein Zimmer? Ich hätte ja immerhin auch … was Privates machen können.«

Jules grinste. »Wenn du Spaß mit dir selbst oder den Traum aller Träume gehabt hättest, hätte sich das anders angehört. Hoffe ich zumindest. Ansonsten wäre das nämlich kein Spaß, sondern Verzweiflung.«

Cam verzog das Gesicht. »Okay, Themawechsel.«

»Hey, du hast damit angefangen.« Jules grinste noch immer, wurde dann aber ernster. »Warum hast du so mies geschlafen?« Er rutschte zu Cam aufs Bett und lehnte sich neben ihm gegen die Wand. »Wegen Topher? Oder machst du dir Sorgen wegen der Leichen, die Gabe, Sky und Connor heute gefunden haben?«

Wie schon beim Abendessen spürte Cam auch jetzt plötzlich wieder dieses ungute Ziehen in sich. Er hatte keine Ahnung, wo es herkam, oder was es bedeutete, aber seit er von diesen neuen Leichen wusste, fühlte es sich so an, als würde etwas Schlimmes bevorstehen. Etwas, das viel größer und furchteinflößender war, als die Vorstellung, ein irrer Massenmörder könnte ihn nach dreizehn Jahren doch noch in die Finger bekommen.

Und das machte ihm eine Scheißangst.

Er wollte niemand mit seltsamen Vorahnungen sein. Es gab im Moment schon mehr als genug Spinner, die den Weltuntergang prophezeiten. Granny hatte ihnen erzählt, dass die in jedem Unheiligen Jahr auftauchten. Manche waren bloß miese Betrüger, die die Angst der Menschen ausnutzten und ihnen mit teuren Schutzamuletten und Seminaren zur Stärkung von Körper, Geist und Seele oder der Reinigung von Haus und Grundstück das Geld aus den Taschen ziehen wollten.

Andere waren verwirrte Fanatiker, die sich mit Gleichgesinnten in irgendwelche unheilvollen Visionen hineinsteigerten und dann völlig irre Dinge taten. Wie einen Massenselbstmord, zum Beispiel. Einen davon hatte es in den Fünfziger Jahren des letzten Jahrhunderts gar nicht weit von ihrem Haus im Wald vom Hampstead Heath gegeben. Eine Gruppe Menschen war ihrem verblendeten Anführer gefolgt und hatte sich gemeinsam mit ihm vergiftet, in dem Glauben mit ihrem Opfer die böse Macht hinter den Geistern besänftigen und die Menschheit so für immer von den Seelenlosen befreien zu können.

Wie für den Großteil der Bevölkerung waren auch für Cam solche Vorstellungen Unsinn. Es gab keine böse Macht hinter den Seelenlosen. Geister entstanden, wenn jemand plötzlich und gewaltsam starb. Genauso wie Leben entstand, wenn Frau und Mann zum richtigen Zeitpunkt Sex miteinander hatten. Dahinter steckten weder gute noch böse Mächte. Es gehörte einfach zum Lauf der Natur.

Das war alles.

Völlig rational.

Warum fühlte es sich bei diesen verdammten Leichen dann so anders an?

Cam wollte niemand sein, der an irgendwelche Mächte glaubte. Er war nicht einer von diesen Spinnern.

Seine Mitmenschen taten sich selbst und einander schon genug schreckliche Dinge an. Da brauchte es nicht zusätzlich noch irgendetwas Übernatürliches, das im Verborgenen das ultimativ Böse plante.

Trotzdem fühlte es sich gerade genau so an.

Und das Schlimmste daran war: Es fühlte sich so an, als wäre er – Cam – ein Teil davon, weil er damals in diesem verdammten Keller gewesen war.

»Hey, alles okay?«

Cam fuhr zusammen, als sich Jules’ Hand über seine legte, die sich so fest um die Wasserflasche gekrallt hatte, dass sie zitterte. Erschrocken lockerte er seine Finger und ließ Jules die Flasche nehmen.

Der musterte ihn besorgt. »Was ist los? War das noch eine Nachwirkung der Schlafstarre?«

Cam spürte, wie heftig sein Herz plötzlich wieder gegen seine Rippen schlug, doch er wollte nicht, dass Jules es merkte. Er mochte den Blick nicht, mit dem er ihn ansah, deshalb atmete er tief durch und zuckte bloß möglichst unverfänglich mit den Schultern.

»Ja, wahrscheinlich.«

»Du weißt, dass Dad dir ein Schlafmittel geben kann.«

»Nein. Ich will keine Drogen schlucken.«

Jules schnaubte. »Himmel, du tust gerade so, als würde dich ein Schlafmittel zum Junkie machen.«

»Tut es ja vielleicht auch. Das Zeug kann abhängig machen.«

»Klar«, gab Jules sarkastisch zurück. »Weil Dad das ja auch garantiert zulassen würde.«

»Ich brauche so ein Zeug trotzdem nicht. Ich komme alleine damit klar. Das bin ich schon immer. Im Unheiligen Jahr ist es jetzt halt nur ein bisschen anstrengender. Aber ich schaffe das trotzdem. Ohne irgendwelche Pillen.«

Jules rollte mit den Augen und schüttelte den Kopf. »Manchmal bist du ein echt dämlicher Dickschädel.«

Cam tat das bloß mit einem weiteren Schulterzucken ab und nahm sich die Wasserflasche zurück.

Eine Weile saßen sie schweigend nebeneinander, während Cam sein Wasser trank, doch schließlich rang er sich ein Lächeln ab und brach die Stille. »Du kannst ruhig wieder schlafen gehen. Mir geht es gut. Und immerhin haben wir morgen Schule. Da sollten wir wohl besser nicht die Nacht durchmachen.«

Er grinste halbherzig und Jules bedachte ihn mit einem schiefen Blick.

»Ist das ein Rausschmiss?«

»Yep. Aber ein freundlicher, nett gemeinter. Damit du morgen fit bist.«

»Du bist zu gut zu mir.« Jules rutschte zur Bettkante und stand auf. »Was ist mit dir? Sicher, dass du schon wieder schlafen kannst?«

»Ich komme –«

»– schon klar«, beendete Jules den Satz mit einem Seufzen. »Ja, ich weiß. Schlaf gut, Cam.«

Er wandte sich zum Gehen und Cam verbat sich den Gedanken daran, wie viel besser er sich fühlen würde, wenn Jules hierbleiben und bei ihm schlafen würde. Doch das waren nur Wunschträume, die zu sehr wehtaten, wenn er sie wirklich zuließ. Deshalb verscheuchte er den Gedanken daran lieber schnell wieder.

 

Aber selbst wenn Jules für ihn nicht mehr sein konnte, war er sein bester Freund und den wollte er auf keinen Fall verlieren. Und es fühlte sich falsch an, ihn so gehen zu lassen.

»Jules?«

Jules drehte sich an der Tür noch einmal zu ihm um. »Hm?«

»Danke, dass du mich aus Nightmareville herausgeholt hast.«

Jules schenkte ihm ein kleines Lächeln und schüttelte den Kopf. »Kein Ding. Jederzeit wieder.«

»Ich weiß.« Cam erwiderte das Lächeln. »Auch dafür danke.«

Wieder schüttelte Jules bloß den Kopf. »Ich bin da, Cam. Immer. Also wenn irgendwas ist, dann weißt du, wo du mich findest. Und jetzt schlaf gut. Ich bin schließlich nicht der Einzige, der morgen fit sein muss.«