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Max Havelaar oder Die Kaffee-Versteigerungen der NiederländischenHandels-Gesellschaft

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Neunzehntes Kapitel

Stern fährt fort. Ein wichtiger Briefwechsel. Konferenz. Besorgnisse.

In dem privaten Briefchen, das der Herr Slijmering an Havelaar schickte, teilte er diesem mit, daß er, trotz seiner Last von Geschäften, am folgenden Tage nach Rangkas-Betoeng kommen würde, um zu überlegen, was gethan werden solle. Havelaar wußte, was solche Überlegung zu bedeuten hatte  sein Vorgänger hatte ja so oft mit dem Residenten von Bantam »abouchiert«– er schrieb den folgenden Brief, den er dem Residenten entgegensandte, damit ihn dieser gelesen hätte, bevor er zu Lebak ankäme. Kommentar zu diesem Briefe ist überflüssig.

Nr. 91. Geheim.

Eilt

Rangkas-Betoeng, 25. Febr. 1856,

11 Uhr abends.

Gestern mittag 12 Uhr hatte ich die Ehre, an Sie meinen Eilbrief Nr. 88 abzusenden, enthaltend:

daß ich nach langer Überlegung und nachdem ich vergeblich versucht habe, ihn durch Milde von seiner Pflichtverletzung zurückzuführen, mich kraft meines Amtseides verpflichtet fühle, den Regenten von Lebak des Mißbrauchs seiner Amtsgewalt anklage und daß ich ihn wegen Erpressung im Verdacht habe.

Ich war so frei, Ihnen in diesem Briefe vorzuschlagen, dies inländische Haupt nach Serang zu bescheiden, um nach seiner Abreise, und nach Neutralisation des verderblichen Einflusses seiner ausgedehnten Familie, eine Untersuchung anzustellen nach der Begründetheit meiner Anklage und meines Verdachts.

Lange, oder besser gesagt, viel habe ich nachgedacht, bevor ich diesen Entschluß faßte.

Es ist Ihnen durch meine Mitteilung bekannt, daß ich versucht habe, den alten Regenten durch Ermahnungen und Drohungen vor Unglück und Schande zu bewahren, und mich selbst aufs tiefste bekümmere, davon die  wenn auch bloß die unmittelbar voraufgehende  Ursache zu sein.

Aber ich sah auf der anderen Seite die seit Jahren ausgesogene, tief gedrückte Bevölkerung, ich dachte an die Notwendigkeit eines Beispiels  denn viele andere Bedrückungen werde ich zu berichten haben, wenn nicht diese Sache wenigstens durch ihre Rückwirkung dem ein Ende macht  und, ich wiederhole, nach reiflicher Überlegung habe ich gethan, was ich für Pflicht hielt.

In diesem Augenblick empfange ich Ihren freundlichen und geschätzten Privatbrief mit der Mitteilung, daß Sie morgen hierher kommen werden, und zugleich einen Wink, daß ich diese Sache lieber vorher privatim hätte behandeln sollen.

Morgen werde ich also die Ehre haben, Sie zu sehen, und gerade darum nehme ich mir die Freiheit, Ihnen dieses Schreiben entgegen zu senden, um vor der Begegnung das Folgende festzustellen.

Alles, was ich betreffs der Handlungen des Regenten untersuchte, war tief geheim. Er selbst allein und der Patteh wußten es, denn ich selbst hatte ihn loyal gewarnt. Selbst der Kontroleur weiß erst zum Teil den Erfolg meiner Untersuchungen.

Diese Geheimhaltung hat einen doppelten Zweck. Zunächst, als ich noch hoffte, den Regenten von seinem Wege abzubringen, war es, um ihn im Falle des Erfolges nicht bloßzustellen. Der Patteh hat sich in seinem Namen (es war am 12. dieses) ausdrücklich für die Diskretion bedankt. Später indessen, als ich an dem guten Erfolge meiner Absichten zu verzweifeln anfing, oder besser, als das Maß meiner Entrüstung überlief, infolge eines erst erfahrenen Falles  als längeres Schweigen Mitschuld gewesen wäre, da mußte ich die Geheimhaltung beibehalten in meinem Interesse, denn auch gegen mich und die Meinen habe ich Pflichten zu erfüllen.

Jedenfalls würde ich nach dem Briefe von gestern unwürdig sein, dem Gouvernement zu dienen, wenn das darin stehende eitel, grundlos, aus der Luft gegriffen wäre. Und sollte oder soll es mir möglich sein zu beweisen, daß ich gethan habe, »was sich für einen guten Adsistent-Residenten zu thun gehört«– zu beweisen, daß ich nicht unter dem Amte stehe, das mir gegeben ist  zu beweisen, daß ich nicht leichtsinnig oder leichtfertig siebzehn schwere Dienstjahre aufs Spiel setze, und was mehr sagt, das Interesse von Weib und Kind  wird es mir möglich sein, das alles zu beweisen, wenn nicht ein tiefes Geheimnis meine Nachspürungen verbirgt und den Schuldigen hindert, sich »zu decken«?

Bei dem geringsten Verdachte sendet der Regent einen Eilboten an seinen Neffen, der unterwegs ist, der Interesse daran hat, ihn zu halten; er verlangt, koste es, was es wolle, Geld, teilt es mit vollen Händen an alle die aus, denen er in der letzten Zeit »schuldig« geworden ist, und die Folge würde, ich hoffe nicht sagen zu müssen: wird sein, daß ich ein leichtfertiges Urteil gefällt habe und kurz gesagt, ein unbrauchbarer Beamter bin, um mich nicht schlimmer auszudrücken.

Um mich gegen diese Möglichkeit zu schützen, dient dies Schreiben. Ich habe die größte Hochachtung vor Ihnen, aber ich kenne den Geist, den man »den Geist der ostindischen Beamten« nennen könnte, und ich besitze diesen Geist nicht.

Ihr Wink, daß die Sache besser vorher privatim behandelt wäre, läßt mich vor einem »Abouchement« fürchten. Was ich in meinem Schreiben von gestern gesagt habe, ist wahr, aber vielleicht würde es unwahr scheinen, wenn die Sache auf eine Weise behandelt werden sollte, die meine Anklage und meinen Verdacht bekannt gäbe, ehe der Regent entfernt ist.

Ich mag Ihnen nicht zu verbergen, daß selbst Ihre unerwartete Ankunft, in Verbindung mit dem gestern an Sie gesendeten Eilbrief, mich fürchten läßt, daß der Schuldige, der sich früher meinen Mahnungen nicht fügen wollte, nun vor der Zeit aufmerksam werden und versuchen wird, sich, so weit möglich, von der Schuld frei zu machen.

Ich habe die Ehre, mich noch einmal auf mein Schreiben von gestern zu beziehen, nehme mir aber die Freiheit, dabei zu bemerken, daß dies Schreiben auch den Vorschlag enthielt, vor der Untersuchung den Regenten zu entfernen, und seine Verwandtschaft vorläufig unschädlich zu machen, und gleichzeitig, daß ich nicht glaube weiter für meinte Behauptungen verantwortlich zu sein, als Sie belieben werden mit meinem Vorschlage, betreffend die Behandlung der Untersuchung,  das heißt: unparteiisch, öffentlich und vor allem frei,  einverstanden zu sein.

Die Freiheit kann aber nicht eher eintreten, ehe nicht der Regent entfernt ist, und hierin liegt, nach meinen bescheidenen Ansichten, nichts Gefährliches. Denn es kann ihm auf alle Fälle gesagt werden, daß ich ihn beschuldige und verdächtige, daß ich Gefahr laufe und nicht er, falls er unschuldig ist;  denn ich selbst bin der Ansicht, daß ich aus dem Dienst entlassen zu werden verdiene, wenn sich zeigen sollte, daß ich leichtfertig oder auch nur voreilig gehandelt habe.

Voreilig  nach Jahren, Jahren Mißbrauchs

Voreilig  als ob ein ehrlicher Mann schlafen könnte und leben und genießen, so lange die, für deren Wohlsein zu wachen er berufen ist, sie, die im höchsten Grade seine Nächsten sind, ausgeraubt und ausgesogen werden

Es ist wahr, ich bin kurze Zeit hier. Aber ich hoffe, daß die Frage einmal sein wird, was man gethan hat, ob man das Gute gethan hat, nicht, ob man es in kurzer Zeit gethan hat. Für mich ist jede Zeit lang, die durch Unterdrückung und Erpressung gekennzeichnet ist, und schwer wiegt mir die Sekunde, die durch meine Nachlässigkeit, meine Pflichtversäumnis, durch meinen Bequemlichkeitsgeist im Elend verbracht sein könnte.

Ich bereue die Tage, die ich habe verstreichen lassen, bevor ich offiziell rapportierte, und ich bitte um Entschuldigung wegen dieser Versäumnis.

Ich nehme mir die Freiheit, Sie zu bitten, mir Gelegenheit zu geben, daß ich mein Schreiben von gestern rechtfertigen und mich vor dem Mißglücken meiner Bestrebungen schützen kann, um den Bezirk Lebak von den Würmern zu befreien, die seit Menschengedenken an seiner Wohlfahrt zehren.

Aus diesem Grunde nehme ich mir heraus, Sie aufs neue zu ersuchen, meine Handlungen in dieser Sache (bestehend in Untersuchung, Rapport und Vorstellung) gutzuheißen, den Regenten von Lebak ohne voraufgegangene direkte oder indirekte Warnung von hier zu entfernen, und weiterhin eine Untersuchung einzuleiten über das, was ich mitteilte in meinem Schreiben Nr. 88 von gestern.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.

Diese Bitte, den Schuldigen nicht in Schutz zu nehmen, empfing der Resident unterwegs. Eine Stunde nach seiner Ankunft in Rangkas-Betoeng stattete er dem Regenten einen Besuch ab und richtete an ihn die folgenden zwei Fragen: »Ob er etwas gegen den Adsistent-Residenten vorzubringen habe?« und »ob er, der Adipati, Geld brauche?«

Auf die erste Frage antwortete der Regent: »Nichts, das muß ich beschwören« Auf die zweite Frage antwortete er bejahend, worauf ihm der Resident ein paar Kassenscheine gab …

Man begreift, daß Havelaar davon nichts wußte. Wir werden später erfahren, wie ihm diese schändliche Handlungsweise bekannt wurde.

Als der Resident Slijmering bei Havelaar abstieg, war er bleicher als sonst, und seine Worte standen noch weiter auseinander als jemals. Es war ja auch keine Kleinigkeit für jemand, der sich so im Beruhigen und in jährlichen Ruheberichten auszeichnete, so auf einmal Briefe zu empfangen, in denen keine Spur war von Optimismus oder künstlicher Schiebung der Sache, noch auch Furcht vor der Unzufriedenheit der Regierung. Der Resident Bantam war erschrocken, und wenn man das unedle Bild der Richtigkeit zuliebe gestatten will, möchte ich ihn mit dem Straßenjungen vergleichen, der sich über das Unrecht gegen alles Herkommen beklagt, wenn er seine Prügel bekommt, ohne erst gescholten zu sein.

Er begann mit einer Frage an den Kontroleur, warum dieser nicht Havelaar von seiner Anklage zurückzuhalten versucht habe? Der arme Verbrugge, dem die ganze Anklage unbekannt war, bezeugte das, fand aber wenig Glauben. Der Herr Slijmering konnte es nämlich nicht verstehen, wie man ganz allein, auf eigene Verantwortung und ohne lange Erwägungen und Rücksprache zu so unerhörter Pflichterfüllung übergehen konnte. Da indes Verbrugge seine Unbekanntschaft mit Havelaars Briefe aufrecht erhielt, mußte der Resident nachgeben und begann damit, die Briefe vorzulesen.

 

Was Verbrugge bei dem Zuhören litt, ist nicht zu beschreiben. Er war ein ehrlicher Mann und würde nicht gelogen haben, wenn sich Havelaar auf ihn berufen hätte, um die Wahrheit des Inhalts zu beweisen. Aber auch ohne die Ehrlichkeit  er hatte es in vielen schriftlichen Berichten nicht vermeiden können, die Wahrheit zu sagen, auch wo diese manchmal gefährlich war. Wie sollte das werden, wenn Havelaar davon Gebrauch machte?

Nach der Vorlesung der Briefe bezeugte der Resident, daß es ihm angenehm sein würde, wenn Havelaar die Stücke zurücknähme, um sie als nicht geschrieben zu betrachten,  was Havelaar höflich, aber bestimmt ablehnte.

Nach diesem vergeblichen Versuch sagte der Resident, daß ihm dann nichts übrig bleibe, als eine Untersuchung anzustellen, ob diese Klagen begründet seien, und daß er daher Havelaar ersuchen müßte, die Zeugen aufzurufen, die seine Beschuldigung beweisen könnten.

Arme Leute, die ihr euch an den Dornsträuchen der Schlucht blutig geschunden hattet, wie hätten eure Herzen geklopft, wenn ihr diese Forderung hättet hören können

Armer Verbrugge Er als erster Zeuge, als Hauptzeuge, Zeuge kraft Amtes und Eides, Zeuge, der bereits gezeugt hatte auf dem Papier, das da lag auf dem Tische unter Havelaars Hand …

Havelaar entgegnete:

»Resident, ich bin Adsistent-Resident von Lebak, ich habe gelobt, das Volk gegen Erpressung und Gewaltthätigkeit zu schützen  ich klage den Regenten an und seinen Schwiegersohn zu Parang-Koedjang  ich werde meine Anklage beweisen, sobald mir dazu die Gelegenheit gegeben wird, um die ich in meinem Briefe vorstellig wurde;  ich bin schuldig der Verleumdung, wenn die Anklage falsch ist«

Wie frei Verbrugge atmete

Und wie fremdartig der Resident Havelaars Worte fand.

Die Beratung dauerte lange. Mit Höflichkeit  denn höflich und wohlerzogen war der Herr Slijmering  drang er darauf, Havelaar möge von so verkehrtem Beginnen Abstand nehmen; aber mit ebenso großer Höflichkeit blieb dieser fest. Der Schluß war, daß der Resident nachgeben mußte und als Drohung aussprach, was für Havelaar ein Triumph war, daß er sich dann genötigt sehe, die bewußten Briefe der Regierung zur Kenntnis zu bringen.

Die Sitzung wurde aufgehoben. Der Resident besuchte den Adipati, um diesem die Fragen vorzulegen, von denen ich sprach, und nahm dann das Mittagsmahl an dem kargen Tisch der Havelaars ein, worauf er nach Serang zurückkehrte … weil … er … so … besonders … viel … zu … thun … hatte …

Am folgenden Tage empfing Havelaar einen Brief von dem Residenten von Bantam, dessen Inhalt sich aus der Antwort ergiebt, die ich hier abschreibe:

Nr. 93. Geheim.

Rangkas-Betoeng, 28. Februar 1856.

Ich habe die Ehre gehabt, Ihren Eilbrief vom 26. dieses La O, geheim, zu empfangen enthaltend hauptsächlich Mitteilung,

daß Sie Gründe haben, den Vorstellungen nicht beizutreten, gemacht in meinen Amtsbriefen vom 24. und 25. dieses, Nr. 88 und 91;

daß Sie vorher vertrauliche Mitteilung gewünscht hätten;

daß Sie meine Maßnahmen, wie in den beiden Briefen beschrieben, nicht billigen;

und zum Schlusse einige Befehle.

Ich habe jetzt die Ehre, wie ja schon in der Konferenz vorgestern geschah, nochmals und zum Überfluß zu versichern:

daß ich vollkommen ehrerbietig Ihr Recht anerkenne, wo es die Wahl gilt, meinen Vorstellungen beizutreten oder nicht;

daß die empfangenen Befehle gewissenhaft erfüllt werden sollen, und wenn es sein muß, mit Selbstverleugnung, als ob Sie selbst bei allem, was ich thue oder sage, gegenwärtig wären, oder besser, bei allem, was ich nicht thue oder nicht sage.

Ich weiß, daß Sie sich auf meine Loyalität in dieser Hinsicht verlassen.

Aber ich nehme mir die Freiheit, feierlichst gegen jeden Schein von Mißbilligung zu protestieren, betreffend eine einzige Handlung, ein einzig Wort, einen Satz, durch mich in dieser Sache gethan, gesprochen oder geschrieben.

Ich habe die Überzeugung, meine Pflicht gethan zu haben:  in Ziel und Art der Ausführung ganz meine Pflicht  nichts als meine Pflicht ohne die geringste Abweichung.

Ich hatte lange überlegt, bevor ich handelte (das heißt: bevor ich untersuchte, rapportierte und vorstellig wurde), und wenn ich darin den geringsten Fehler begangen haben sollte  aus Übereilung fehlte ich nicht.

Unter gleichen Umständen würde ich aufs neue  nur etwas schneller noch  ganz, buchstäblich ganz dasselbe thun und lassen.

Und wäre es selbst, daß eine höhere Gewalt als die Ihre etwas mißbilligte, was ich that  (es müßte denn gerade das Eigenartige meines Stils sein, der einen Teil von mir selbst ausmacht, ein Gebrechen, für das ich so wenig verantwortlich bin wie ein Stotterer für das seine)  wäre es so … doch nein, das kann nicht sein, aber wäre es so … ich habe meine Pflicht gethan.

Wohl thut es mir, wenn auch ohne Befremden, leid, daß Sie anders darüber urteilen; und was meine Person angeht, würde ich mich schon bei dem beruhigen, was mir eine Verkennung zu sein scheint  aber es ist ein Prinzip im Spiel, und ich habe Gewissensbedenken, die verlangen, daß es ausgemacht werde, welche Meinung richtig ist, die Ihre oder die meine.

Anders dienen, als ich zu Lebak diente, kann ich nicht. Wünscht also das Gouvernement, daß anders gedient werde, dann muß ich als ehrlicher Mann um meinen Abschied einkommen;  dann muß ich mit sechsunddreißig Jahren aufs neue versuchen, mir eine Laufbahn zu eröffnen;  dann muß ich, nach siebzehn Jahren schwerer, schwerer Dienstzeit, nachdem ich meine beste Lebenskraft dem zum Opfer gebracht habe, was ich für meine Pflicht hielt, aufs neue bei der menschlichen Gesellschaft anfragen, ob sie mir Brot geben will für Weib und Kind, Brot im Tausch für meine Gedanken, Brot vielleicht im Tausch für Arbeit mit Schubkarre und Spaten, wenn die Kraft meiner Arme höher eingeschätzt wird als die Kraft meiner Seele.

Aber ich kann und will nicht glauben, daß Ihre Ansicht durch Seine Excellenz den General-Gouverneur geteilt wird, und ich bin daher verpflichtet, bevor ich zu dem bitteren Äußersten übergehe, das ich im vorigen Absatz niederschrieb, Sie ehrerbietig zu ersuchen: beim Gouvernement vorstellig zu werden:

den Residenten von Bantam anzuweisen, die Handlungen des Adsistent-Residenten von Lebak noch gutzuheißen, die sich beziehen auf dessen Dienstschreiben vom 24. und 25. dieses, Nr. 88 und 91;  oder aber:

genannten Adsistent-Residenten zur Verantwortung zu ziehen auf die von dem Residenten von Bantam zu formulierenden Punkte der Mißbilligung.

Ich habe die Ehre, Ihnen zum Schlusse die dankbare Versicherung zu geben, daß, wenn etwas mich von meinen lang durchdachten und ernst, aber feurig befolgten Prinzipien in diesem Falle hätte abbringen können, es sicherlich die vornehme, einnehmende Weise gewesen wäre, in der Sie diese Prinzipien auf der vorgestrigen Konferenz bekämpft haben.

Der Adsistent-Resident von Lebak.

(gez.) Max Havelaar.

Auch ohne sich darüber auszusprechen, ob der Verdacht der Witwe Slotering über die Ursache, die ihre Kinder zu Waisen machte, begründet war oder nicht, und wenn man allein annimmt, was beweisbar ist, daß in Lebak ein naher Zusammenhang bestand zwischen Pflichterfüllung und Gift  bestand dieser Zusammenhang selbst bloß in der öffentlichen Meinung  muß man doch einsehen, daß Max und Tine kummervolle Tage nach dem Besuche des Residenten verlebten. Ich glaube nicht, die Angst einer Mutter schildern zu sollen, die bei jeder Speise, die sie ihrem Kinde reicht, sich immer wieder zu fragen hat, ob sie nicht vielleicht ihren Liebling ermordet?

Und es war ein »erbetenes« Kind, der kleine Max, der sieben Jahre nach der Verheiratung ausgeblieben war, als wüßte der Schalk, daß es kein Vorteil war, als Sohn solcher Eltern auf die Welt zu kommen.

Neunundzwanzig Tage lang hatte Havelaar zu warten, bevor der General-Gouverneur ihm mitteilte … aber wir sind noch nicht so weit.

Kurz nach den vergeblichen Anstrengungen, um Havelaar zu der Zurücknahme seiner Briefe oder zum Verrat an den armen Leuten zu bewegen, die auf seine Großmut vertraut hatten, trat Verbrugge bei ihm ein. Der brave Mann war totenbleich und hatte Mühe zu sprechen.

»Ich bin beim Regenten gewesen«, sagte er, »das ist infam … aber verraten Sie mich nicht«

»Was? Was soll ich nicht verraten?«

»Geben Sie mir Ihr Wort, keinen Gebrauch davon zu machen, was ich Ihnen sage?«

»Wieder Halbheit« sagte Havelaar, »aber gut ich gebe mein Wort«

Und da erzählte Verbrugge, was der Leser schon weiß, daß der Resident den Adipati gefragt hatte, ob er etwas gegen den Adsistent-Residenten vorbringen könne, und daß er ihm zugleich unerwartet Geld angeboten und gegeben hatte. Verbrugge wußte das vom Regenten selber, der ihn fragte, welche Gründe der Resident wohl dazu gehabt haben könnte.

Havelaar war wütend, aber er hatte sein Wort gegeben.

Den folgenden Tag kam Verbrugge wieder und sagte, Duclari habe ihm vorgestellt, wie unedel es wäre, Havelaar, der mit solchen Gegnern zu streiten habe, so ganz allein zu lassen, und deshalb kam Verbrugge, ihn seines gegebenen Wortes zu entheben.

»Gut«, sagte Havelaar, »schreiben Sie es auf.«

Verbrugge schrieb es auf. Auch diese Erklärung liegt vor mir.

Der Leser hat schon lange begriffen, warum ich so billig Abstand nahm von allem Anspruch auf die Echtheit der Geschichte Saïdjahs.

Es war sehr bezeichnend, wie der furchtsame Verbrugge  vor dem Zureden Duclaris  auf Havelaars Wort zu bauen wagte, in einer Sache, die so zum Wortbruch reizte

Und noch etwas. Es sind Jahre vergangen seit den Ereignissen, die ich erzähle. Havelaar hat in dieser Zeit viel gelitten, er hat seine Familie leiden gesehen  die Schriftstücke, die vor mir liegen, zeugen davon, und es scheint, daß er gewartet hat … ich gebe die folgende Aufzeichnung von seiner Hand:

»Ich habe in der Zeitung gelesen, daß der Herr Slijmering zum Ritter vom niederländischen Löwen ernannt ist. Er scheint jetzt Resident von Pl… zu sein. Ich werde also auf die Lebakschen Sachen zurückkommen können, ohne Gefahr für Verbrugge.«

Zwanzigstes Kapitel

Stern fährt fort. Rangkas-Betoeng und Batavia. Havelaars Schicksal erfüllt sich. Sterns und Droogstoppels plötzliches Ende. Multatuli.

Es war Abend. Tine saß in der Vorgalerie und las. Havelaar zeichnete eine Stickereivorlage. Der kleine Max spielte mit einem Bilderspiel, das zusammengelegt werden mußte, und war eifrig hinterher, weil er den »roten Rock der Frau« nicht finden konnte.

»Wird es nun gut sein, Tine?« fragte Havelaar. »Sieh, ich habe nun diesen Palmenzweig etwas größer gemacht, es ist gerade Hogarths Schönheitslinie.«

»Ja, Max, aber die Knopflöcher stehen zu dicht aneinander.«

»So? Und wie ist's mit dem anderen Streifen? Max, zeig mir mal dein Höschen … hast du den Streifen dran? … Ach, ich weiß noch, wo du den gestickt hast, Tine«

»Ich nicht Wo denn?«

»Es war im Haag, als Max krank war, und wir uns so ängstigten, weil der Arzt sagte, daß er ein so ungewöhnlich geformtes Köpfchen hätte, und daß viele Sorgfalt nötig wäre, um Andrang nach dem Gehirn zu vermeiden … da sticktest du an diesem Streifen.«

Tine stand auf und küßte den Kleinen.

»Ich habe ihren Bauch« rief dieser vergnügt, und die rote Frau war vollständig.

»Wer hört da einen Tontong schlagen?« fragte die Mutter.

»Ich«, sagte Mäxchen.

»Und was bedeutet das?«

»Zu Bett Aber ich habe noch nicht gegessen.«

»Erst essen, das versteht sich.«

Und sie erhob sich und gab ihm sein einfaches Mahl, das sie aus einem gut verschlossenen Schrank in ihrer Stube geholt zu haben schien, denn man hörte das Knacken vieler Schlösser.

»Was giebst du ihm da?« fragte Havelaar.

»O, sei ruhig Es ist Biskuit aus einer Blechdose von Batavia, und auch der Zucker ist stets hinter Verschluß gewesen.«

Havelaars Gedanken kehrten an den Punkt zurück, von dem sie ausgegangen waren.

»Weißt du wohl«, sagte er, »daß wir die Rechnung dieses Doktors noch nicht bezahlt haben? … O, das ist sehr schlimm«

»Lieber Max, wir leben hier so sparsam, bald werden wir alles erledigen können: außerdem, du wirst ja bald Resident werden, und dann ist alles in kurzer Zeit geregelt.«

»Das ist gerade eine Sache, die mir Kummer macht«, sagte Havelaar. »Ich würde ungern Lebak verlassen … ich werde dir das erklären. Glaubst du nicht, daß wir unseren Max nach der Krankheit noch lieber hatten? Nun, so scheint es mir auch, daß ich das arme Lebak lieb haben werde nach der Genesung von dem Krebsgeschwür, das an ihm frißt seit so viel Jahren. Der Gedanke an Beförderung erschreckt mich, und doch, auf der anderen Seite, wenn ich wieder bedenke, daß wir Schulden haben …«

 

»Alles wird gut werden, Max Und wenn du von hier fort bist, dann kannst du später Lebak helfen, wenn du General-Gouverneur bist.«

Dann kamen wilde Striche in Havelaars Stickereizeichnung. Es lag Zorn in den Blumen, die Knopflöcher waren eckig, scharf, sie bissen einander …

Tine verstand, daß sie etwas gesagt hatte, was ihm nicht gefiel.

»Lieber Max« begann sie freundlich.

»Verflucht … Willst du sie so lange hungern lassen? Kannst du von Sand leben?«

»Lieber Max«

Aber er sprang auf. Es wurde diesen Abend nicht mehr gezeichnet. Er ging in der Binnengalerie auf und nieder, und endlich sprach er, in einem Tone, der für jeden Fremden rauh und hart geklungen hätte, der aber von Tine ganz anders aufgefaßt wurde:

»Verflucht die Lauheit, die schändliche Lauheit Da sitze ich nun seit einem Monat und warte auf Recht, und inzwischen leidet das arme Volk schrecklich. Der Regent scheint darauf zu rechnen, daß sich keiner an ihn heranwagt … sieh …«

Er ging in sein Zimmer und kam mit einem Briefe in der Hand zurück, einem Briefe, der jetzt vor mir liegt, Leser …

»Sieh, in diesem Briefe wagt er mir Vorschläge zu machen über die Art der Arbeit, die er durch die ungesetzlich herbeigeholten Menschen will verrichten lassen. Ist das nicht die Frechheit zu weit getrieben? Und weißt du, wer das ist? Das sind Frauen mit kleinen Kindern mit Säuglingen, schwangere Weiber, die von Parang-Koedjang an den Hauptort getrieben sind, um für ihn zu arbeiten  Männer giebt's nicht mehr Und sie selber haben nichts zu essen und sie schlafen auf der Landstraße und essen Sand Kannst du Sand essen? Sollen sie Sand essen, bis ich General-Gouverneur bin? Verflucht«

Tine wußte sehr gut, auf wen Max eigentlich böse war, wenn er so sprach zu ihr, die er so lieb hatte.

»Und«, fuhr Havelaar fort, »das geht alles unter meiner Verantwortung. Wenn in diesem Augenblick von diesen armen Wesen einige draußen herumirren und das Licht unserer Lampen sehen, werden sie sagen: Da wohnt der Elende, der uns beschirmen wollte Da sitzt er ruhig bei Weib und Kind und zeichnet Stickereivorlagen: und wir liegen hier wie die Buschhunde auf dem Wege, um mit unseren Kindern zu verhungern Ja, ich höre es wohl, ich höre es wohl, das Rachegeschrei über meinem Kopfe … Hierher, Max«

Und er küßte sein Kind mit einer Wildheit, die es erschreckte.

»Mein Kind, wenn man dir sagen wird, daß ich ein Elender bin, der keinen Mut hatte, um recht zu thun, und daß so viele Mütter durch meine Schuld gestorben sind; wenn man dir sagen wird, daß die Schuld des Vaters den Segen von deinem Haupte wegstahl … o Max, o Max, bezeuge du dann, was ich leide«

Er brach in Thränen aus, die Tine ihm fortküßte. Sie brachte darauf den kleinen Max in sein Bettchen, eine Strohmatte.

Als sie zurückkam, fand sie Havelaar im Gespräch mit Verbrugge und Duclari, die soeben hereingekommen waren. Das Gespräch drehte sich um die erwartete Entschließung der Regierung.

»Ich begreife sehr wohl, daß der Resident in einer schwierigen Lage ist«, sagte Duclari. »Er kann dem Gouvernement nicht anraten, Ihren Vorstellungen Folge zu geben; denn dann würde zu viel an den Tag kommen. Ich bin schon lange im Bantamschen, und weiß etwas davon, mehr noch als Sie selber, Mijnheer Havelaar Ich war schon als Unterleutnant in diesen Strichen, und da bekommt man Dinge zu hören, die der Inländer so nicht den Beamten zu sagen wagt. Aber wenn nun, nach öffentlicher Untersuchung, das alles herauskommt, wird der General-Gouverneur den Residenten zur Verantwortung ziehen und ihn fragen, woher es kommt, daß er in zwei Jahren nicht entdeckt hat, was Ihnen sofort aufgefallen ist? Er muß also versuchen, die Geschichte zu verhindern.«

»Ich habe das wohl verstanden«, entgegnete Havelaar, »und aufmerksam gemacht infolge der Versuche, den Adipati zu bewegen, gegen mich auszusagen,  wahrscheinlich will er die Frage verschieben, und vielleicht mich, ich weiß nicht welches Vergehens beschuldigen  habe ich mich gedeckt, indem ich Abschriften meiner Briefe direkt an die Regierung schickte. In einem dieser Briefe steht auch die Bitte, zur Verantwortung gezogen zu werden, wenn etwa angegeben werden sollte, daß ich mich in etwas vergangen hätte. Wenn also der Resident von Bantam mich angreift, kann darauf in gewohnter Billigkeit kein Beschluß gefaßt werden, ohne daß man mich zuerst gehört hat, das ist man ja einem Verbrecher schuldig  und da ich nichts verbrochen habe «

»Da kommt die Post an« rief Verbrugge.

Ja, es war die Post Die Post, die den folgenden Brief mitbrachte, von dem General-Gouverneur von Niederländisch-Indien, »an den gewesenen Adsistent-Residenten von Lebak, Havelaar.«

»Kabinett

Nr. 54.

Buitenzorg, den 23. März 1856.

Die Art und Weise, in der durch Sie zu Werke gegangen ist, bei der Entdeckung oder Vermutung von schlechten Praktiken der Häupter im Bezirk Lebak, und die dabei Ihrem Chef, dem Residenten von Bantam, gegenüber eingenommene Haltung haben in hohem Maße meine Unzufriedenheit hervorgerufen.

In Ihren Handlungen werden ebensosehr maßvolle Überlegung, Einsicht und Vorsicht vermißt, die doch so unumgänglich nötig sind bei einem Beamten, der mit Ausübung der Regierung in den Binnenlanden bekleidet ist, wie auch Subordination Ihrem unmittelbaren Vorgesetzten gegenüber.

Schon wenige Tage nach Antritt Ihres Amtes haben Sie es gut finden können, ohne vorherige Ratserholung bei dem Residenten, das Haupt der inländischen Verwaltung zu Lebak zum Objekt belastender Untersuchungen zu machen.

In diesen Untersuchungen haben Sie Anlaß gefunden, ohne Ihre Beschuldigungen gegen jenes Haupt irgendwie durch Fakta, geschweige durch Beweise zu erhärten, schließlich Vorstellungen zu erheben, die das Ziel hatten, einen inländischen Beamten von der Bedeutung des Regenten von Lebak, einen sechzigjährigen, aber noch eifrigen Diener des Landes, mit ansehnlichen nachbarlichen Regentengeschlechtern verwandt und verschwägert, über den stets günstige Berichte eingebracht waren, einer ihn moralisch total vernichtenden Behandlung zu unterwerfen.

Zudem haben Sie, als der Resident sich nicht geneigt zeigte, Ihren Vorstellungen sofort Folge zu geben, sich geweigert, das billige Verlangen Ihres Vorgesetzten zu erfüllen, ihm volle Auskunft zu geben, was Ihnen über die Handlungen der inländischen Verwaltung zu Lebak bekannt war.

Solche Handlungen verdienen alle Mißbilligung und lassen leicht an Ungeeignetheit glauben, ein Amt in der binnenländischen Verwaltung zu bekleiden.

Ich habe mich verpflichtet gesehen, Sie von der ferneren Wahrnehmung des Amtes eines Adsistent-Residenten von Lebak zu entheben.

Aus Anerkennung der früheren über Sie erhaltenen günstigen Berichte indessen habe ich in dem Vorgefallenen keinen Grund finden wollen, Ihnen die Aussicht auf eine Wiederanstellung bei der binnenländischen Verwaltung zu benehmen. Ich habe Sie deshalb vorläufig beauftragt mit der Wahrnehmung des Amtes eines Adsident-Residenten von Ngawi.

Von Ihrem ferneren Verhalten in dieser Stellung wird es abhängen, ob Sie bei der binnenländischen Verwaltung angestellt bleiben können.«

Und darunter stand der Name des Mannes, auf dessen Eifer, Geschick und gute Treue der König sagte sich verlassen zu können, als er seine Ernennung zum General-Gouverneur von Niederländisch-Indien unterzeichnete.

»Wir gehen von hier fort, beste Tine« sagte Havelaar, und reichte diesen Kabinettsbrief Verbrugge hinüber, der ihn mit Duclari zusammen las.

Verbrugge hatte Thränen in den Augen, aber sagte nichts. Duclari, ein sehr geblideter Mensch, brach in einen wilden Fluch aus:

»Gott verdamm mich Ich habe hier Gauner und Diebe in der Verwaltung gesehen … sie sind in Ehren abgegangen, und Ihnen schreibt man solch einen Brief«

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