Kostenlos

Max Havelaar oder Die Kaffee-Versteigerungen der NiederländischenHandels-Gesellschaft

Text
Autor:
0
Kritiken
iOSAndroidWindows Phone
Wohin soll der Link zur App geschickt werden?
Schließen Sie dieses Fenster erst, wenn Sie den Code auf Ihrem Mobilgerät eingegeben haben
Erneut versuchenLink gesendet

Auf Wunsch des Urheberrechtsinhabers steht dieses Buch nicht als Datei zum Download zur Verfügung.

Sie können es jedoch in unseren mobilen Anwendungen (auch ohne Verbindung zum Internet) und online auf der LitRes-Website lesen.

Als gelesen kennzeichnen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

Nein, er hörte wenig von dem, was man ihm erzählte. Er hörte ganz andere Laute. Er hörte, wie Adinda sagen würde: »Sei willkommen, Saïdjah Ich habe an dich gedacht beim Spinnen und beim Weben, beim Stampfen des Reis in dem Block, der dreimal zwölf Kerbe trägt von meiner Hand. Hier bin ich unter dem Ketapan, den ersten Tag des neuen Monats. Sei willkommen, Saïdjah Ich will deine Frau sein.«

Das war die Musik, die in seinen Ohren klang, und die ihn hinderte, auf all das Neue zu hören, das man ihm auf seinem Wege berichtete.

Endlich sah er den Ketapan. Oder lieber er sah einen großen dunklen Fleck, der viele Sterne verdeckte vor seinem Auge. Das mußte der Djatibusch sein bei dem Baum, wo er Adinda wiedersehen sollte, am folgenden Morgen, nach Sonnenaufgang. Er suchte im Dunkel und betastete viele Stämme. Bald fand er eine ihm bekannte Unebenheit an der Südseite eines Baumes, und er legte den Finger in einen Spalt, den Si- Panteh mit seinem Parang geschlagen hatte, um den Pontianak zu beschwören, der an dem Zahnweh seiner Mutter schuld hatte, kurz vor der Geburt von Pantehs Brüderchen. Das war der Ketapan, den er suchte.

Ja, das war der Fleck, wo er zum erstenmal Adinda anders angesehen hatte als seine übrigen Kameraden, weil sie sich da zum erstenmal geweigert hatte, an einem Spiele teilzunehmen, das sie doch noch kurz zuvor mit allen Kindern, Knaben und Mädchen, mitgespielt hatte. Dort hatte sie ihm die Melatti gegeben.

Er setzte sich nieder am Fuße des Baumes und sah empor zu den Sternen, und als er einen fallen sah, nahm er es als einen Gruß zu seiner Heimkehr nach Badoer. Und er dachte daran, ob Adinda jetzt wohl schliefe, und ob sie wohl die Monate gut in den Reisblock eingeschnitten hatte. Es würde ihn schmerzen, wenn sie einen ausgelassen hätte, als ob es nicht genug wäre … sechsunddreißig Und ob sie schöne Sarongs und Slendangs gebatikkt hätte? Und auch das fragte er sich, wer wohl nun in seines Vaters Hause wohnte? Und seine Jugend stieg vor ihm auf und seine Mutter, und wie der Büffel ihn vor dem Tiger gerettet hatte, und er dachte, was wohl aus Adinda geworden wäre, wenn der Büffel nicht so treu gewesen wäre.

Er achtete sorgsam auf das Sinken der Sterne im Osten, und bei jedem Sterne, der am Horizont erlosch, rechnete er aus, wie viel jetzt die Sonne wieder näher wäre an ihrem Aufgang, und wie viel näher er selbst am Wiedersehen mit Adinda.

Denn gewiß würde sie kommen mit dem ersten Strahl, ja in der Dämmerung schon würde sie da sein … ach warum war sie nicht schon am vorigen Tage gekommen?

Es betrübte ihn, daß sie dem schönen Augenblick nicht vorausgeeilt war, der nun drei Jahre mit unbeschreiblichem Glanze seine Seele erleuchtet hatte. Und er war unbillig in seiner selbstsüchtigen Liebe; es schien ihm, als ob Adinda hätte da sein müssen, auf ihn wartend, der sich nun beklagte  vor der Zeit schon  daß er auf sie warten mußte.

Und er klagte zu unrecht, denn noch war die Sonne nicht aufgegangen … noch hatte des Tages Auge keinen Blick geworfen auf die Ebene. Wohl verblichen die Sterne da oben, und sie schämten sich, daß so bald ein Ende kam ihrer Herrschaft, wohl flogen seltsame Farben über die Gipfel der Berge, die um so dunkler schienen, je schärfer sie sich vom lichteren Hintergrund abhoben, wohl flog hie und da etwas durch die Wolken, etwas Glühendes  Pfeile von Gold und Feuer, die hin und her geschossen wurden, am Horizont entlang;  aber sie verschwanden wieder und schienen hinter dem unbegreiflichen Vorhang niederzufallen, der den Tag von den Augen Saïdjahs fern hielt.

Und jetzt wurde es lichter und lichter um ihn her … er sah schon die Landschaft, und schon konnte er den Umriß des Klappahaines unterscheiden, in dem Badoer verborgen liegt  dort schlief Adinda.

Nein, sie schlief nicht mehr. Wie hätte sie schlafen können? Wußte sie nicht, daß Saïdjah ihrer warten würde? Sie hatte die ganze Nacht nicht geschlafen; gewiß hatte die Dorfwache an ihre Thür geklopft, um zu fragen, warum die Pelitah in ihrem Häuschen noch brannte, und mit anmutigem Lachen hatte sie gesagt, daß ein Gelübde sie wach hielt, den Slendang fertig zu weben, an dem sie arbeitete, und der am ersten Tage des neuen Monats fertig sein müßte.

Oder sie hatte die Nacht im Dunkeln zugebracht, auf dem Reisblock sitzend, und mit eifrigem Finger zählend, ob es auch wirklich sechsunddreißig tiefe Linien waren, hintereinander eingekerbt. Und sie hatte sich mit dem Schreck ergötzt, wenn sie sich etwa verzählte oder einer fehlte, um noch einmal und noch einmal und immer wieder die herrliche Gewißheit zu genießen, daß wirklich dreimal zwölf Monate vergangen waren, seit Saïdjah Abschied nahm.

Auch sie würde wohl jetzt, nun es sich so aufhellte, ihre Augen anstrengen, mit erfolgloser Mühe, die Blicke über den Horizont zu senden, um der Sonne zu begegnen, der trägen Sonne, die zauderte  zauderte …

Da kam ein Strich bläulichen Rotes, der sich an den Wolken festheftete, und die Ränder wurden hell und glühend, und es begann zu blitzen, und wieder schossen Feuerpfeile durch die Luft, aber sie fielen diesmal nicht nieder. Sie hefteten sich fest an den dunklen Grund, und teilten ihre Glut mit in größeren und größeren Kreisen, und begegneten einander, kreuzend, schwankend, zitternd, irrend, und vereinigten sich zu Feuerbüscheln und wetterleuchteten in goldenem Glanze auf dem azurnen Grunde  es war Rot und Blau und Silber und Purpur und Gelb und Gold in allem  o Gott das war die Morgenröte, das war das Wiedersehen mit Adinda

Saïdjah hatte nicht beten gelernt, und es wäre auch schade gewesen, es ihn zu lehren; denn heiligeres Gebet und feurigerer Dank, als in seinem stummen Entzücken lag, war nicht in menschliche Sprache zu fassen.

Er wollte nicht nach Badoer gehen. Das Wiedersehen mit Adinda selbst kam ihm nicht so schön vor wie die Gewißheit, daß er sie bald wiedersehen werde. Er setzte sich an den Fuß des Ketapan und ließ seine Augen über den Landstrich gleiten. Die Natur lachte ihm zu und schien ihn willkommen zu heißen, wie eine Mutter ihr heimgekehrtes Kind, und gerade, wie diese ihre Freude schildert durch Erinnerung an den vorübergegangenen Schmerz, durch das Zeigen der Andenken, die sie während der Abwesenheit bewahrte, so ließ auch Saïdjah seine Gedanken schweifen und betrachtete die Stellen, die Zeugen seines kurzen Lebens gewesen waren. Aber wie auch seine Blicke und seine Gedanken in die Runde irrten, immer wieder fiel sein Blick zurück auf den Pfad, der von Badoer nach dem Ketapan führt. Alles, was seine Sinne wahrnahmen, hieß Adinda  Er sah den Abgrund links, wo die Erde so gelb ist, wo einmal ein junger Büffel in die Tiefe sank; dort hatten die Dörfler sich versammelt, um das Tier zu retten  denn es ist keine Kleinigkeit, einen jungen Büffel zu verlieren  sie hatten sich heruntergelassen an starken Rottan- Seilen, und Adindas Vater war der Mutigste gewesen,  o, wie sie in die Hände klatschte, Adinda

Und da drüben an der anderen Seite, wo das Kokoswäldchen über den Hütten des Dorfes weht, da war Si-unah vom Baum gefallen und gestorben. Wie weinte seine Mutter »Weil Si-unah noch so klein war«, jammerte sie … als ob sie weniger betrübt gewesen wäre, wenn Si-unah größer gewesen wäre. Aber klein war er, das ist wahr, er war ja kleiner und schwächer als Adinda …

Niemand war auf dem Wege, der von Badoer nach dem Baume führte. Sie wird später kommen, es ist noch sehr früh.

Saïdjah sah einen Badjing, der mit hurtiger Lustigkeit an dem Stamme eines Klappabaumes hin und her sprang. Das reizende Tierchen  der Ärger freilich des Eigentümers des Baumes, aber doch reizend in Gestalt und Bewegung  sprang unermüdlich auf und nieder. Saïdjah betrachtete es und zwang sich, dabei zu bleiben, weil das seinen Gedanken Ruhe gab von der schweren Arbeit, die sie seit Sonnenaufgang verrichteten  die Ruhe nach dem ermüdenden Warten. Bald äußerten sich seine Gefühle in Worten, und er sang, was in seiner Seele umging. Ich möchte euch das Lied lieber im Malayischen vorlesen, dem Italienisch des Ostens.

 
Sieh, wie der Badjing seine Nahrung sucht
Am Klappabaum. Auf und ab und links und rechts
Springt und fällt er, kreist er, springt er wieder,
Er hat nicht Flügel und ist flink wie ein Vogel.
 
 
Viel Glück, mein Badjing, ich wünsche dir Heil
Du wirst die Nahrung finden, die du suchst;
Ich aber sitze allein am Djatibusch
Und warte auf die Nahrung meines Herzens.
 
 
Schon lang ist meines Badjing Bäuchlein voll,
Lang schon ist er in seinem Nestchen wieder,
Aber meine Seele ist noch immer
Und mein Herz bitter betrübt … Adinda
 

Noch niemand war auf dem Pfade zu sehen, der von Badoer führt nach dem Ketapan …

Saïdjahs Auge fiel auf einen Schmetterling, der lustig umherschwirrte, denn es begann warm zu werden …

 
Sieh, wie der Schmetterling da flattert,
Wie eine bunte Blume glitzern seine Flügel,
Sein Herz sehnt sich nach der Kenari-Blüte,
Er sucht seine duftende Geliebte.
 
 
Viel Glück, mein Falter, ich wünsche dir Heil
Du wirst finden, was du suchest;
Ich aber sitz' allein am Djatibusch
Und warte auf das, was mein Herz liebt.
 
 
Lange schon hat der Falter geküßt
Die Kenari-Blüte, die er liebt,
Aber meine Seele ist noch immer
Und mein Herz bitter betrübt … Adinda
 

Und noch war niemand auf dem Pfade, der von Badoer führte nach dem Ketapan.

Die Sonne stieg. Es war Hitze in der Luft.

 
Sieh, wie die Sonne strahlet in der Höhe,
Hoch über dem Waringi-Hügel,
Ihr ist zu heiß, sie möchte niedersteigen,
Im Meer zu schlafen, wie in des Gatten Armen.
 
 
Viel Glück, o Sonne, ich wünsche dir Heil
Du wirst finden, was du suchest,
Aber ich sitz' allein am Djatibusch
Und warte auf Ruhe für mein Herz.
 
 
Lange schon wird die Sonne versunken sein
Und ruhen im Meere, wenn alles finster;
Und noch immer wird meine Seele
Und mein Herz betrübt sein … Adinda
 

Und niemand kam des Weges, der von Badoer nach dem Ketapan führte.

 
 
Wenn nicht länger Falter werden flattern,
Wenn die Sterne nicht mehr werden blinken,
Wenn die Melatti nicht mehr duften wird,
Wenn nicht betrübte Herzen sein mehr werden,
 
 
Noch wilde Tiere in dem Walde,
Wenn die Sonne rückwärts laufen wird
Und der Mond wird Ost und West vergessen,
Wenn dann noch nicht Adinda kommen ist,
 
 
Dann wird ein Engel mit hellen Flügeln
Herniedersteigen und suchen, was zurückblieb:
Dann wird mein Leichnam liegen am Ketapan.
Meine Seele ist bitter betrübt … Adinda
 

Und niemand kam des Weges, der von Badoer führte nach dem Ketapan.

 
Dann wird der Engel meinen Leichnam sehen,
Er wird den Brüdern mit dem Finger weisen:
Seht, da ist einsam ein Mensch gestorben,
Sein starrer Mund küßt die Melatti-Blume;
 
 
Kommt, laßt uns ihn in unsern Himmel tragen
Der auf Adinda wartet', bis er tot war,
Der soll nicht hier verlassen liegen bleiben,
Des Herz die Kraft hatte, so zu lieben
 
 
Dann wird mein starrer Mund sich nochmals öffnen,
Adinda rufen, die mein Herz lieb hat,
Noch einmal will ich die Melatti küssen,
Die sie mir gab … Adinda … Adinda
 

Und niemand war auf dem Wege, der von Badoer führte nach dem Ketapan.

O sie war gewiß in Schlaf gesunken gegen die Morgenstunde, ermüdet von dem Wachen die ganze Nacht, von dem Wachen vieler Nächte; sie hatte nicht geschlafen seit Wochen  so war es

Sollte er aufstehen und nach Badoer gehen? Nein, das wäre gewesen, als zweifle er an ihrem Kommen.

Wenn er den Mann riefe, der da seinen Büffel aufs Feld trieb? Der Mann war zu weit, und Saïdjah wollte auch nicht von Adinda sprechen, nicht nach Adinda fragen … er wollte sie wiedersehen, sie allein, sie zuerst. O gewiß, gewiß, sie wird bald kommen.

Er wird warten, warten …

Wenn sie aber krank ist? … oder tot

Wie ein angeschossener Hirsch flog Saïdjah den Pfad hin, der von dem Ketapan nach dem Dorfe führt, wo Adinda wohnte. Er sah nichts und hörte nichts, und er hätte doch etwas hören können, denn es standen Menschen auf dem Wege beim Eingang ins Dorf, die riefen: »Saïdjah, Saïdjah«

Aber … war es seine Eile, seine Hast, die ihn hinderte, Adindas Haus zu finden? Er war schon hindurchgestürmt bis zum Ende des Weges, wo das Dorf aufhört, und wie wahnsinnig kehrte er um und schlug sich vor den Kopf, weil er an ihrem Hause hatte vorbeirennen können, ohne es zu sehen. Und wieder stand er vorn am Eingang und  mein Gott, war es ein Traum?  wieder hatte er Adindas Haus nicht gefunden. Noch einmal stürzte er zurück, und noch einmal blieb er stehen, griff mit beiden Händen sein Haupt, um den Wahnsinn wegzupressen, der es umfing, und rief: »Trunken, trunken, ich bin trunken«

Und die Frauen von Badoer kamen aus ihren Häusern und sahen mit Mitleid den armen Saïdjah dastehen, denn sie erkannten ihn wieder und verstanden, daß er Adindas Haus suchte, und wußten, daß es kein Haus Adindas gab im Dorfe Badoer.

Denn als das Distriktshaupt von Parang-Koedjang die Büffel von Adindas Vater weggenommen hatte …

Ich habe dir schon gesagt, Leser, daß die Geschichte eintönig ist

Da war Adindas Mutter vor Gram gestorben, und ihr jüngstes Schwesterchen war gestorben, weil es keine Mutter hatte, die es säugte. Und Adindas Vater, der fürchtete sich vor der Strafe, wenn er seine Landrente nicht bezahlte …

Ich weiß es wohl, ich weiß es wohl, daß meine Geschichte eintönig ist …

Er war aus dem Lande geflohen. Er hatte Adinda mitgenommen mit ihren Brüdern. Er hatte aber gehört, wie Saïdjahs Vater zu Buitenzorg mit Stockschlägen bestraft worden war, weil er Badoer verlassen hatte ohne Paß. Und darum war Adindas Vater nicht nach Buitenzog gegangen, auch nicht nach Krawang oder nach dem Preanger oder nach Batavia.

Er war nach Tjilang-kahan gegangen, dem Distrikt von Lebak, der an die See grenzt. Da hatte er sich in den Wäldern versteckt und auf die Ankunft von Pa-etno und Pa-lontah und Si-uniah und Pa-ansiu gewartet und Abdul-Isma und auf noch einige, denen das Distriktshaupt von Parang-Koedjang ihre Büffel geraubt hatte, und die sich alle vor der Strafe fürchteten, wenn sie ihre Landrenten nicht bezahlen könnten.

Da hatten sie sich bei Nacht einer Fischer-Prahoe bemächtigt und waren in See gestochen. Sie hatte westwärts gesteuert und hielten das Land rechts von sich bis Java-Pünt, von da hatten sie nach Norden gewendet, bis sie Pana-itam vor sich sahen, das die europäischen Schiffer Prinzen-Eiland nennen. Sie hatten das Eiland an der Ostseite umsegelt und hatten dann auf die Kaiserbai zugehalten, wobei sie sich nach dem hohen Pik in den Lampongs richteten.

So ging wenigstens der Weg, den man sich in Lebak ins Ohr flüsterte, wenn über Büffelraub und unbezahlte Landrenten gesprochen wurde.

Aber Saïdjah verstand nicht gut, was man ihm sagte, er begriff nicht einmal recht den Bericht vom Tode seines Vaters. Es war ein Getöse in seinen Ohren, als hätte man mit einem Gong in seinem Haupt geschlagen: er fühlte, wie das Blut in Stößen durch die Adern seiner Schläfen floß, die zu platzen drohten unter dem Drucke solcher Stöße. Er sprach nicht und starrte nur mit wirrem Blick um sich, ohne zu sehen, was um und bei ihm war, und schließlich brach er in ein gräßliche Lachen aus.

Eine alte Frau nahm ihn mit sich in ihr Häuschen und verpflegte den armen Narren.

Bald lachte er nicht mehr so gräßlich, aber er sprach auch nichts. Nur nachts wurden die Hausgenossen durch seine Stimme aufgeschreckt, wenn er tonlos sang: »Ich weiß nicht, wo ich sterben werde«, und einige Bewohner Badoers legten Geld zusammen, um den Boyajas des Tjioedjoeng ein Opfer zu bringen für Saïdjahs Genesung, den man für irrsinnig hielt. Aber irrsinnig war er nicht.

Eines Nachts, als der Mond heller schien, erhob er sich von der Baleh-Baleh und verließ sacht das Haus und suchte die Stelle, da Adinda gewohnt hatte. Das war nicht leicht, denn es waren so viele Häuser eingestürzt, aber er schien den Platz zu erkennen an der Weite des Winkels, den manche Richtlinien bildeten, wie der Seemann sich nach Feuertürmen und hervorragenden Bergeshöhen richtet.

Ja, da mußte es sein … dort hatte Adinda gewohnt

Strauchelnd über halbverfaulten Bambus und Stücke des herabgefallenen Daches, bahnte er sich einen Weg nach dem Heiligtum, das er suchte. Und wahrlich, da stand noch ein Stückchen von der Wand, an der Adindas Baleh-baleh gestanden hatte, und der kleine Bambusnagel stak noch drin, an den sie ihr Kleid hängte, wenn sie sich zur Ruhe legte …

Aber die Baleh-baleh war eingestürzt wie das Haus und beinahe zu Staub vergangen. Er nahm eine Handvoll davon und drückte es an seine geöffneten Lippen und atmete sehr tief …

Am nächsten Tage fragte er die alte Frau, die ihn gepflegt hatte, wo der Reisblock wäre, der auf dem Grundstück von Adindas Haus stand. Die Frau freute sich, daß sie ihn wieder sprechen hörte, und lief im Dorfe umher, um den Block zu suchen. Als sie den neuen Besitzer Saïdjah anzeigen konnte, folgte dieser ihr schweigend, und er zählte an dem Reisblock zweiunddreißig Einschnitte … Da gab er der alten Frau so viele spanische Dollars, als nötig waren, um einen Büffel zu kaufen, und verließ Badoer. Zu Tjilang-kahan kaufte er eine Fischer-Prahoe und kam damit nach einigen Tagen Segelns an die Lampongs, wo die Aufständischen kämpften mit der niederländischen Macht. Er schloß sich einer Bande von Bantamern an, nicht so sehr, um zu kämpfen, als um Adinda zu suchen, denn er war sanft von Gemüt und mehr der Trauer zugänglich als der Bitterkeit.

Eines Tages, als die Aufständischen wieder einmal geschlagen waren, irrte er in einem Dorfe umher, das eben erst durch das niederländische Heer erobert worden war und daher in Brand stand. Saïdjah wußte, daß der Haufen, den man da vernichtet hatte, größtenteils aus Bantamern bestanden hatte. Er irrte wie ein Spuk durch die Häuser, die noch nicht ganz verbrannt waren, und fand die Leiche von Adindas Vater, mit einem Bajonettisch in der Brust. Neben ihm erblickte Saïdjah die drei ermordeten Brüder Adindas, Jünglinge, Kinder noch, und ein wenig weiter lag die Leiche Adindas, nackt, scheußlich mißhandelt …

Ein schmales Stückchen blaue Leinwand war in die Brustwunde eingedrungen, die ein Ende gemacht zu haben schien langer Gegenwehr …

Da stürzte sich Saïdjah einigen Soldaten entgegen, die mit gefälltem Gewehr die letzten noch lebenden Aufständischen in das Feuer der brennenden Häuser trieben; er umfaßte die breiten Säbel-Bajonette, drückte sie mit Gewalt vorwärts und drängte noch mit einer letzten Anstrengung die Soldaten zurück, als die Säbelgriffe schon gegen seine Brust stießen.

Und wenig Zeit darauf war wieder groß Gejubel zu Batavia, über den neuen Sieg, der wieder zu den Lorbeeren des niederländisch-indischen Heeres so viele neue Lorbeeren hinzugefügt hatte. Und der Landvogt schrieb, daß die Ruhe in den Lampongs wiederhergestellt war, und der König von Nederlanden, erleuchtet durch seine Staatsdiener, belohnte wieder so viel Heldenmut mit vielen Ritterkreuzen.

Und wahrscheinlich stiegen da Dankgebete gen Himmel, aus den Herzen der Frauen, in der Sonntagskirche oder Betstunde, als man hörte, daß der »Herr der Heerscharen« wieder unter dem Banner der Nederlanden mitgestritten hatte …

Aber Gott, an den sich so viel Weh drängt, sah das Opfer dieses Tages nicht an …

Ich habe den Schluß von Saïdjahs Geschichte kürzer gefaßt, als ich es hätte thun können, wenn ich eine Lust daran gehabt hätte, Gräßliches zu schildern. Der Leser wird gemerkt haben, wie ich bei der Beschreibung des Wartens unter dem Ketapan verweilte, als schreckte ich zurück vor der traurigen Entwicklung, und wie ich mit Abscheu darüber hinweggeglitten bin.

Das war aber meine Absicht nicht, als ich über Saïdjah zu sprechen begann. Ich fürchtete, stärkere Farben nötig zu haben, um bei der Schilderung so gräßlicher Zustände das Rechte zu treffen. Als ich aber weiter kam, fühlte ich, daß es eine Beleidigung des Lesers sein würde, zu glauben, daß ich mehr Blut in meine Schilderung bringen müßte

Ich hätte es thun können, denn ich habe Schriftstücke vor mir liegen … aber nein …

Lieber ein Geständnis.

Ja ein Geständnis: ich weiß nicht, ob Saïdjah Adinda lieb hatte, nicht, ob er nach Batavia ging, nicht, ob er in den Lampongs gestorben ist unter niederländischen Bajonetten. Ich weiß nicht, ob sein Vater starb infolge der Stockschläge, die er erhielt, weil er Badoer ohne Paß verlassen hatte. Ich weiß nicht, ob Adinda die Monate zählte an Kerben an ihrem Reisblock.

Das alles weiß ich nicht.

Aber ich weiß mehr als das alles. Ich weiß, und ich kann es beweisen, daß es viele Saïdjahs gegeben hat und viele Adindas, und daß, was in der einzelnen Geschichte Erdichtung ist, Wahrheit wird im allgemeinen.

Ich sagte schon, daß ich den Namen von Leuten angeben kann, die, ebenso wie die Eltern von Saïdjah und Adinda durch Unterdrückung aus dem Lande getrieben worden sind. Es ist nicht meine Absicht, in diesem Buche Mitteilungen zu geben, wie sie vor einen Gerichtshof gehören würden, der seinen Spruch fällen sollte über die Art und Weise, wie die niederländische Macht in Indien ausgeübt wird. Solche Mitteilungen würden nur für den Beweiskraft haben, der die Geduld hätte, sie zu lesen, und das kann man nicht von einem Publikum erwarten, das in seiner Lektüre Zerstreuung sucht. Deshalb habe ich, an Stelle dürrer Namen von Personen und Ortschaften, mit dem Datoem dabei, und an Stelle einer Abschrift der Liste von Diebstählen und Erpressungen, die vor mir liegt, versucht, eine Skizze zu geben von Dingen, die sich im Herzen der armen Leute abspielen können, die man dessen beraubt, was zu ihren Lebensunterhalt dient. Und ich habe das sogar mehr vermuten lassen, da ich fürchtete, mich zu sehr zu irren, wenn ich Umrisse von Empfindungen zeichnete, die ich aus Erfahrung nicht kenne.

Aber zur Hauptsache

O, daß ich gerufen würde, zu beweisen, was ich schrieb O, daß man sagte: Du hast deinen Saïdjah bloß erdichtet, er sang jenes Lied niemals, es wohnte keine Adinda in Badoer O, daß das gesagt würde, aber gesagt mit dem Willen, recht zu thun, sobald ich bewiesen hätte, daß ich kein Verleumder bin

Ist eine Lüge, das Gleichnis von dem barmherzigen Samariter, weil vielleicht niemals ein ausgeplünderter Reisender in ein samaritisches Haus aufgenommen worden ist? Ist es eine Lüge, das Gleichnis von dem Säemann, der da ausging zu säen seinen Samen, weil man weiß, daß kein Landbauer seine Saat auf einen Fels werfen wird? Oder um zu einer größeren Ähnlichkeit mit meinem Buche herunterzugehen, kann man die Wahrheit leugnen, die die Hauptsache von »Onkel Toms Hütte« ausmacht, obwohl es niemals eine Evangeline gegeben hat? Wird man zu der Verfasserin dieser unsterblichen Anklageschrift  unsterblich nicht durch Kunst oder Talent, sondern durch Ziel und Wirkung  wird man zu ihr sagen: »Du hast gelogen, die Sklaven werden nicht mißhandelt, es ist Unwahrheit in deinem Buche, es ist ein Roman« Mußte sie nicht, statt eine Aufzählung von dürren Thatsachen zu geben, eine Geschichte darbieten, welche die Thatsachen einkleidete, um diese in die Herzen hineinzuführen? Würde man ihr Buch gelesen haben, wenn sie ihm die Form eines Aktenstücks gegeben hätte? Ist es ihre, ist es meine Schuld, daß die Wahrheit, um Eingang zu finden, so oft das Kleid der Lüge borgen muß?

 

Und wenn einige behaupten wollen, ich hätte Saïdjah zu sehr idealisiert, so muß ich fragen, wie sie das wissen können Denn es geben sich nur sehr wenige Europäer die Mühe, sich zur Beobachtung der Gefühle jener Kaffe- und Zuckermaschinen herabzulassen, die man »Inländer« nennt.

Indessen wäre diese Ausstellung auch wirklich begründet,  wer das als Beweis gegen das hauptsächliche Ziel meines Buches anführt, schenkt mir einen großen Triumph.

Denn dieser Einwurf lautet mit anderen Worten nicht anders als so: »Das Böse, das du bekämpfst, besteht nicht, oder nicht in so hohem Maße, weil der Inländer nicht so ist wie dein Saïdjah; es ist bei der Mißhandlung der Javanen kein so großes Unrecht, als es wäre, wenn du deinen Saïdjah richtig gezeichnet hättest. Der Sundanese singt solche Lieder nicht, er liebt nicht so, er fühlt nicht so, also …«

O nein, Herr Kolonialminister O nein, Herr General-Gouverneur im Ruhestande nicht das habt ihr zu beweisen. Ihr habt zu beweisen, daß die Bevölkerung nicht mißhandelt wird, ganz gleichgültig, ob da sentimentale Saïdjahs unter der Bevölkerung sind oder nicht Oder wollt ihr den Mut haben, zu behaupten, man dürfe Büffel von Leuten stehlen, die nicht lieben, die keine traurigen Liederchen singen, die nicht sentimental sind?

Sollte ich auf litterarischem Gebiet angegriffen werden, würde ich die Richtigkeit der Zeichnung Saïdjahs verteidigen. Aber auf politischem Boden gebe ich sofort alle Einwendungen die Richtigkeit zu, um zu verhindern, daß die große Frage auf ein falsches Gebiet hinübergespielt werde.

Es ist mir ganz gleichgültig, ob man mich für einen ungeschickten Schriftsteller hält oder nicht  aber man soll zugeben, daß die Mißhandlung des Inländers »weitgehend« ist, so lautete ja das Wort auf dem Notizblatte von Havelaars Vorgänger, das dieser dem Kontroleur Verbrugge zeigt:  das Blatt liegt vor mir

Aber ich habe andere Beweise, und das ist ein Glück. Denn auch der Vorgänger Havelaars konnte sich geirrt haben.

O Himmel, wenn er sich geirrt hätte, so ist er für diesen Irrtum sehr hart gestraft worden.

Weitere Bücher von diesem Autor