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Max Havelaar oder Die Kaffee-Versteigerungen der NiederländischenHandels-Gesellschaft

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Zehntes Kapitel

Droogstoppel sucht den jungen Stern auf den Pfad der Tugend zurückzuführen.

Wenn ich auch, wo es sich um Prinzipien handelt, niemand fürchte, habe ich doch begriffen, daß ich mit Stern einen anderen Weg einschlagen muß als mit Frits. Und da zu erwarten steht, daß mein Name (die Firma ist Last & Co.; aber ich heiße Droogstoppel, Batavus Droogstoppel mit einem Buche in Berührung kommen wird, in dem Dinge stehen, die mit der Ehrerbietung, wie sie jeder anständige Makler vor sich selbst haben muß, nicht zusammenstimmen, so achte ich für meine Pflicht, mitzuteilen, wie ich diesen Stern auf den richtigen Weg zurückzuführen versucht habe.

Ich habe ihm nicht von dem Herrn gesprochen, weil er lutherisch ist, aber ich habe auf sein Gemüt und seine Ehre gewirkt. Sieh hier, wie ich das angelegt habe, und merk dabei auf, wie weit man es in der Menschenkenntnis bringen kann. Ich hatte ihn hören sagen: »Auf Ehrenwort«, und fragte, was er damit sagen wolle?

»Nun«, sagte er, »daß ich meine Ehre verpfände für die Wahrheit dessen, was ich sage.«

»Das ist sehr viel«, erwiderte ich. »Sind Sie denn so überzeugt, die Wahrheit zu sprechen?«

»Ja«, erklärte er, »die Wahrheit sage ich immer. Wenn die Brust mir glüht …« Der Leser weiß den Rest.

»Das ist wirklich sehr schön«, sagte ich, und ich that so, als ob ich es glaubte.

Aber das war gerade die Feinheit des Strickes, mit dem ich ihn fangen wollte, um, ohne Gefahr, den alten Stern in die Hände von Busselinck und Waterman fallen zu sehen, doch das junge Kerlchen einmal recht zum Bewußtsein seiner Stellung zu bringen und ihn fühlen zu lassen, wie groß der Abstand ist zwischen einem, der eben erst anfängt, wenn auch sein Vater große Geschäfte macht, und einem Makler, der zwanzig Jahre die Börse besucht hat. Es war mir nämlich bekannt, daß er allerlei Zeug von Versen aus dem Kopfe wußte (er sagte »auswendig«), und da Verse immer Lügen sind, so war ich sicher, ihn sehr bald auf Unwahrheiten zu ertappen. Es dauerte denn auch nicht lange. Ich saß im Seitenzimmer, und er war in der »Suite«, denn wir haben eine Suite; Marie strickte, und er wollte ihr etwas erzählen. Ich hörte aufmerksam zu, und als es aus war, fragte ich ihn, ob er das Buch hätte, wo das Ding drin stand, das er soeben hergedröhnt hatte. Er sagte Ja und brachte es mir; es war ein Band der Werke von einem gewissen Heine. Am folgenden Morgen gab ich ihm, Stern meine ich, die nachfolgenden

Betrachtungen

über die Wahrheitsliebe jemandes, der das folgende

Machwerk von Heine einem jungen Mädchen vorträgt,

das in der Suite sitzt und strickt.

»Auf Flügeln des Gesanges,

Herzliebchen, trag ich dich fort.«

Herzliebchen …? Marie, Ihr Herzliebchen? Wissen die alten Leute davon? Und Louise Rosemeyer? Ist es brav, so etwas einem Kinde zu sagen, das durch dergleichen sehr leicht seiner Mutter gegenüber ungehorsam werden könnte, weil sie sich in den Kopf setzen könnte, sie sei mündig, weil man sie »Herzliebchen« nennt? Was bedeutet das »Forttragen auf Ihren Flügeln?« Sie haben keine Flügel, und Ihr Gesang auch nicht. Probieren Sie es einmal über die Lauriergracht, die nicht einmal sehr breit ist. Aber wenn Sie wirklich Flügel hätten, dürfen Sie dann so etwas einem Mädchen vortragen, das noch nicht eingesegnet ist? Und wäre sie auch, angenommen, was bedeutet dies Angebot von »zusammen wegfliegen?« Pfui

 
»Fort nach den Fluren des Ganges,
Da weiß ich den schönsten Ort.«
 

Dann gehen Sie doch allein hin und mieten Sie sich eine Stube, aber nehmen Sie nicht ein Mädchen mit, das seiner Mutter in der Hauswirtschaft helfen muß. Aber Sie meinen das ja auch gar nicht. Erstens haben Sie den Ganges nie gesehen und wissen also gar nicht, ob da gut leben ist. Soll ich Ihnen sagen, wie die Sachen stehen? Es sind alles Lügen, die Sie darum erzählen, weil Sie sich mit dem Geverse zum Sklaven von Versmaß und Reim machen. Hätte die erste Zeile geendet auf Lug oder Trug, so hätten Sie Marie gefragt, ob sie mitginge nach Broek und so weiter. Sie sehen also, daß Ihre angebliche Reiselinie nicht ernst gemeint war, und daß alles auf einen Klingklang von Worten ohne Sinn und Verstand hinausläuft. Wie wäre es nun, wenn Marie wirklich Lust bekäme, die Reise zu machen? Ich spreche noch nicht einmal von der unbequemen Manier, die Sie vorschlagen; doch sie ist, Gott sei Dank, zu verständig, um nach einem Lande zu verlangen, von dem Sie sagen:

 
»Dort liegt ein rotblühender Garten
Im stillen Mondenschein,
Die Lotosblumen erwarten
Ihr trautes Schwesterlein.
Die Beilchen kichern und kosen
Und schaun nach den Sternen empor,
Heimlich erzählen die Rosen
Sich duftende Märchen ins Ohr.«
 

Was wollen Sie in dem Garten mit Marie im Mondschein thun? Ist das sittlich, ist das brav, ist das anständig, Stern? Wollen Sie, daß ich mich schämen muß, wie Busselinck und Waterman, mit denen kein anständiges Haus etwas zu thun haben will, weil ihre Tochter davongelaufen ist, und weil sie Pfuscher sind? Was sollte ich antworten, wenn man mich auf der Börse fragte, warum meine Tochter so lange in jenem Garten geblieben ist? Denn das begreifen Sie doch, daß kein Mensch mir glauben würde, wenn ich sagte, daß sie da die Lotosblumen besuchen mußte, die, wie Sie sagen, schon lange auf sie gewartet haben. Ebenso würde jeder verständige Mensch mich auslachen, wenn ich närrisch genug wäre, um zu sagen: Marie ist da in dem roten Garten (warum rot und nicht gelb oder lila?), um auf das Kichern und Kosen der Veilchen zu horchen, oder auf die Märchen, die die Rosen sich heimlich ins Ohr flüstern? Und könnte so etwas wahr sein, was hätte Marie davon, wenn es doch so heimlich geschieht, daß sie nichts davon versteht? Aber es sind Lügen, fauler Schwindel, und häßlich ist es auch; denn nehmen Sie einmal einen Bleistift und zeichnen Sie sich eine Rose mit einem Ohr, und sehen Sie, wie das aussieht. Und was bedeutet das, daß die Märchen duftend sind? Soll ich Ihnen das einmal auf gut holländisch sagen? Das will sagen, daß ein Lüftchen an dem Märchen ist … so ist es

 
»Es hüpfen herbei und lauschen
Die frommen klugen Gazell'n,
Und in der Ferne rauschen
Des heiligen Stromes Well'n …
Dort wollen wir niedersinken
Unter dem Palmenbaum,
Und Liebe und Ruhe trinken
Und träumen seligen Traum.«
 

Können Sie nicht in den zoologischen Garten gehen, wenn Sie durchaus wilde Tiere sehen wollen? Müssen es gerade die Gazellen am Ganges sein, die doch in der Wildnis nicht so gut zu betrachten sind, wie in einer netten Umzäunung von geteertem Eisen? Warum sind diese Tiere fromm und klug? Das letztere lasse ich gelten, sie machen wenigstens nicht solche thöriche Verse  aber fromm? Was heißt das? Heißt das nicht einen Mißbrauch treiben mit einem heiligen Wort, das nur gebraucht werden darf von Menschen, die den wahren Glauben haben? Und dann der heilige Strom? Wollen Sie Marie Dinge erzählen, die sie zu einer Heidin machen können? Wollen Sie ihren Glauben erschüttern, daß es kein heiliges Wasser giebt als das Wasser der Taufe, und keinen heiligen Fluß als den Jordan? Ist das nicht ein Untergraben von Sittlichkeit, Tugend, Religion, Christentum und Anstand?

Denken Sie einmal über das alles nach, Stern Ihr Vater ist ein achtungswürdiges Haus, und ich bin sicher, er findet es gut, daß ich so auf Ihr Gemüt wirke, und er wird gern Geschäfte machen mit einem, der Tugend und Religion aufrecht erhält. Ja, Prinzipien sind mir heilig, und ich scheue mich nicht, gerade heraus zu sagen, was ich meine. Machen Sie also kein Geheimnis von dem, was ich sage, schreiben Sie es ruhig Ihrem Vater, daß Sie hier in einer soliden Familie sind, daß ich Sie auf das Gute hinweise, und fragen Sie sich selber, was aus Ihnen geworden wäre, wenn Sie zu Busselinck und Waterman gekommen wären? Da hätten Sie auch solche Verse aufgesagt, und da hätte man nicht auf Ihr Gemüt gewirkt, weil es Pfuscher sind. Schreiben Sie das getrost Ihrem Vater, denn wo Prinzipien im Spiele sind, fürchte ich niemand. Da wären die Mädchen auch mit Ihnen mitgegangen nach dem Ganges, und dann lägen Sie nun da unter jenem Baum im Grase, während Sie nun, weil ich Sie warne, bei uns bleiben können, in einem anständigen Hause. Schreiben Sie das alles Ihrem Vater, und sagen Sie ihm, daß Sie so dankbar sind, daß Sie zu uns gekommen sind, und daß ich so gut für Sie sorge, und daß die Tochter von Busselinck und Waterman weggelaufen ist, und grüßen Sie ihn sehr von mir, und schreiben Sie, daß ich noch 1 Prozent Courtage unter deren Gebot ablassen werde, weil ich die Schleicher nicht leiden kann, die einem Konkurrenten das Brot vom Munde stehlen durch günstige Offerten.

Und thun Sie mir den Gefallen, in Ihren Vorlesungen bei Rosemeyers etwas Tüchtigeres zu bringen. Ich habe in Sjaalmans Paket Aufstellungen über die Kaffee-Erzeugung der letzten zwanzig Jahre gesehen: lesen Sie einmal so etwas vor. Und Sie müssen auch die Mädchen und uns alle nicht so als Kannibalen hinstellen, die etwas von Ihnen aufgefressen haben. Das ist nicht anständig, mein Sohn; glauben Sie doch jemand, der weiß, was in der Welt los ist. Ich habe Ihren Vater schon vor seiner Geburt bedient (die Firma, meine ich, Last & Co., früher war es Last & Meyer); Sie begreifen also, daß ich es gut mit Ihnen meine. Und spornen Sie Frits an, daß er besser aufpaßt, und lehren Sie ihn keine Verse machen, und wenn er Gesichter schneidet gegen den Buchhalter, und dergleichen mehr, thun Sie, als ob Sie es nicht sähen. Geben Sie ihm ein Vorbild, weil Sie so viel älter sind, und bringen Sie ihm Ernst und Würde bei, weil er Makler werden soll.

Ich bin Ihr väterlicher Freund

Batavus Droogstoppel

 

(Firma Last & Co., Makler in Kaffee, Lauriergracht Nr. 37).

Elftes Kapitel

Stern fährt fort. Tischgespräche. Die Frauen von Südfrankreich. Maria Stuart und der japanische Steinhauer.

Ich will bloß, um mit Abraham Blaukaart zu reden, erklären, daß ich dieses Kapitel als »wesentlich« betrachte, weil es, wie ich meine, Havelaar besser kennen lehrt, und er scheint doch der Held der Geschichte zu sein.

»Tine, was ist das für Ketimon? Liebes Mädchen, thue niemals Pflanzensäure an Früchte. Gurken mit Salz, Ananas mit Salz, Pompelmusen mit Salz, alles, was aus der Erde kommt, mit Salz. Essig zu Fisch und Fleisch … bei Liebig steht etwas darüber …«

»Bester Max«, sagte Tine lachend, »wie lange sind wir schon hier? Dies Ketimon ist von Mevrouw Slotering.«

Und Havelaar hatte Mühe, sich zu erinnern, daß er eben erst gestern angekommen war, und daß Tine mit dem besten Willen in Küche und Hausordnung noch nichts hatte regeln können. Er war schon lange zu Rangkas-Betoeng Hatte er nicht die ganze Nacht damit zugebracht, im Archiv zu lesen, und war nicht bereits viel, was mit Lebak in Beziehung stand; durch seine Seele gegangen? Und da sollte er augenblicklich wissen, daß er erst seit gestern da war? Tine wußte das wohl; sie verstand ihn immer.

»Ach ja, es ist wahr«, sagte er. »Aber deswegen mußt du doch etwas von Liebig lesen. Verbrugge, haben Sie viel von Liebig gelesen?«

»Wer ist das?« fragte Verbrugge.

»Das ist einer, der viel über das Einlegen von Gurken geschrieben hat; auch hat er entdeckt, wie man Gras in Wolle verwandelt, verstehen Sie?«

»Nein«, sagten Verbrugge und Duclari gleichzeitig.

»Nun, die Sache selbst ist doch längst bekannt. Schicken Sie ein Schaf auf die Wiese und Sie sollen sehen. Aber er hat der Art und Weise nachgespürt, wie das geschieht, andere sagen wieder, daß er wenig davon weiß. Man ist nun hinterher, nach Mitteln zu suchen, um das Schaf in der Reihe auszulassen … o die Gelehrten Molière wußte es wohl … ich halte viel von Molière. Wenn ihr wollt, halten wir abends Lesestunde. Tine ist auch dabei, wenn Max zu Bette ist.«

Duclari und Verbrugge wollten das gern. Havelaar sagte, er hätte nicht zu viel Bücher, aber darunter wären doch Schiller, Goethe, Heine, Lamartine, Thiers Say, Malthus, Scialoja, Smith, Shakespeare, Byron, Vondel …

Verbrugge sagte, er läse kein Englisch.

»Was? Sie sind doch über dreißig alt. Was haben Sie denn die ganze Zeit gethan? Das muß doch für Sie auf Padang sehr langweilig gewesen sein, denn da wird viel englisch gesprochen. Haben Sie Miß Matta-api gekannt?«

»Nein, ich kenne den Namen nicht.«

»Es war auch ihr Name nicht; wir sagten bloß so, weil ihre Augen so glänzten. Sie wird wohl nun verheiratet sein; es ist schon lange her. Niemals habe ich so etwas gesehen … ja doch, zu Arles … da müssen Sie einmal hingehen. Das ist das Schönste, was ich auf meinen Reisen gefunden habe. Es giebt nichts, dünkt mich, was einem die Schönheit als Abstraktum, als sichtbares Bild des Wahren, des stofflos Reinen vorstellt, wie eine schöne Frau … glauben Sie mir, reisen Sie einmal nach Arles und Nîmes …«

Duclari, Verbrugge und, ich muß bekennen, auch Tine konnten ein lautes Lachen nicht unterdrücken bei dem Gedanken, so auf einmal aus der Westecke Javas nach Arles oder Nîmes in Südfrankreich überzusiedeln. Havelaar, der wahrscheinlich gerade auf dem Turme stand, der durch die Sarazenen auf dem Rande der Arena zu Arles gebaut ist, hatte sich erst zu besinnen, ehe er die Ursache dieses Lachens verstand, und dann fuhr er fort:

»Nun ja, ich meine, wenn Sie da einmal in die Gegend kommen. So etwas habe ich nie gesehen. Ich war gewöhnt, an allem, was so sehr verhimmelt wird, meine Abzüge vorzunehmen. Zum Beispiel Sehen Sie sich einmal die Wasserfälle an, von denen so viel gesprochen wird  ich habe wenig oder nichts gefühlt zu Tondano, zu Maros, zu Schaffhausen und am Niagara. Man muß in das Buch sehen, um dabei erst das Rechte seiner Bewunderung herauszufinden über ›so viel Fuß Abhang‹ und ›so viel Kubiksuß‹ Wasser in der Minute, und wenn die Zahlen hoch sind, sagt man ›Eh‹ Ich will nie wieder Wasserfälle sehen, wenigstens nicht, wenn ich deswegen einen Umweg machen müßte. Sie sagen mir nichts. Gebäude sprechen schon etwas lauter zu mir, besonders wenn sie Blätter in der Geschichte sind. Aber das Gefühl ist ganz anders, man ruft die Vergangenheit zurück, man läßt die Schatten der Toten vorbeiziehen, darunter sehr abscheuliche, und wie interessant das auch sein möge, man findet darin nicht immer das Genügen für sein Schönheitsgefühl, wenigstens nicht rein. Und ohne die Geschichte herbeizurufen, ist ja wohl viel Schönes an manchen Gebäuden, aber das Schöne wird wieder durch allerlei Führer  von Papier oder von Fleisch und Bein  verdorben, die einem den Eindruck ruinieren durch ihr eintöniges ›die Kapelle ist im Jahre 1423 von dem Bischof von Münster erbaut; die Säulen sind 63 Fuß hoch und ruhen auf‹  ich weiß nicht was. Das ist langweilig und ärgerlich; man fühlt, daß man gerade 63 Fuß Bewunderung zur Hand haben muß, um nicht für einen Vandalen oder einen Geschäftsreisenden zu gelten. Nun könnte man sagen: behalte doch deinen Führer in der Tasche, wenn er gedruckt ist, oder laß ihn draußen stehen oder schweigen im anderen Falle  aber abgesehen davon, daß man wirklich zu einigermaßen richtigen Urteilen oft eine Erklärung braucht, würde man doch, könnte man diese auch missen, vergeblich in manchem Bauwerk etwas suchen, was länger als einen sehr kurzen Augenblick unserer Neigung zum Schönen entspricht, weil es sich nicht bewegt. Das gilt, glaube ich, auch von Bildhauerwerk und Malerei. Natur ist Bewegung. Wachstum, Hunger, Denken, Fühlen ist Bewegung … Stillstand ist der Tod. Ohne Bewegung ist kein Schmerz, kein Genuß, kein Gefühl. Versuchen Sie es einmal, dazusitzen, ohne sich zu rühren, Sie werden sehen, wie bald Sie auf jenen anderen und sogar auf Ihre eigene Phantasie einen spukartigen Eindruck machen. Bei ›lebenden Bildern‹ verlangt man bald nach einer folgenden Nummer, wie eindruckmachend der Anblick auch zu Anfang war. Da nun unser Schönheitsgefühl nicht befriedigt ist mit einem Blick auf etwas Schönes, sondern nach einer Reihe aufeinander folgender Blicke auf die Bewegung des Schönen verlangt, so fühlen wir etwas Unbefriedigtes bei der Betrachtung dieser Art von Kunstwerken, und deshalb behaupte ich, daß eine schöne Frau, weil sie keine Portraitschönheit ist, die still steht, unserem Ideal des Göttlichen am nächsten kommt.

Wie groß dieses Bedürfnis nach Bewegung ist, das ich meine, können Sie sich ungefähr aus dem unangenehmen Gefühl klar machen, das eine Tänzerin, und wäre sie die Elßler oder Taglioni, Ihnen verursacht, wenn sie nach einem Tanz auf dem linken Fuße dasteht und das Publikum angrinst.«

»Das gilt hier nicht«, sagte Verbrugge, »denn das ist absolut häßlich.«

»Das finde ich auch; aber sie giebt es doch als schön, und als Steigerung des vorigen, in dem wirklich viel Schönes gewesen sein kann. Sie giebt es als ›Pointe‹ des Epigramms, als das ›aux armes‹ der Marseillaise, die sie mit ihren Füßen sang, oder als das Rauschen der Trauerweiden auf dem Grabe der eben betanzten Liebe. Und daß auch die Zuschauer, die gewöhnlich, wie wir alle mehr oder minder, ihren Geschmack auf Gewohnheit und Nachahmung gründen, diesen Augenblick als den packendsten betrachten, ergiebt sich daraus, daß man gerade dann in Beifall ausbricht, als wollte man rufen: All das Vorige war schön, aber jetzt kann ich es nicht mehr aushalten vor Bewunderung. Sie sagten, daß diese ›Posen‹ absolut häßlich wären; ich sage das auch. Aber woher kommt das? Es kommt daher, weil die Bewegung aufhörte und damit die Geschichte, die die Tänzerin erzählte. Glauben Sie mir, Stillstand ist Tod.«

»Aber«, warf Duclari ein, »Sie haben doch auch als Ausdruck für das Schöne die Wasserfälle verworfen … die bewegen sich doch «

»Ja, aber ohne Geschichte Sie bewegen sich, aber kommen nicht von der Stelle. Sie bewegen sich wie ein Wiegepferd, aber noch ohne das Hin- und Herschaukeln. Sie geben Töne, aber sie sprechen nicht … sie rufen: rru … rru … rru … Rufen Sie einmal sechstausend Jahre oder länger: rru, rru … und sehen Sie dann einmal nach, wie wenige Sie als einen unterhaltenden Menschen ansehen werden.«

»Ich will die Probe darauf lieber nicht machen«, sagte Duclari, »aber ich bin doch noch nicht mit Ihnen einig, daß die Bewegung so durchaus nötig ist. Ich verzichte nun auf die Wasserfälle; aber ein schönes Gemälde kann doch, meine ich, viel ausdrücken.«

»Gewiß, aber nur für einen Augenblick. Ich werde Ihnen meine Ansicht durch ein Beispiel zu erklären suchen. Es ist heute der 18. Februar …«

»Nicht doch«, sagte Verbrugge, »wir haben noch Januar …«

»Nein, nein, es ist heute der 18. Februar 1587, und Sie sitzen gefangen im Schlosse Fotheringhay.«

»Ich?« meinte Duclari, der meinte, nicht recht gehört zu haben.

»Ja, Sie. Sie langweilen sich und suchen Unterhaltung. Da in jener Mauer ist eine Öffnung, aber sie ist zu hoch, um durchzusehen, und das wollen Sie doch. Sie schieben Ihren Tisch heran und setzen darauf einen Schemel mit drei Beinen, von denen das eine ein bißchen schwach ist. Sie haben auf der Kirmes einen Akrobaten gesehen, der sieben Stühle aufeinander setzte und sich daraufstellte, den Kopf nach unten. Eigenliebe und Langeweile drängen Sie, dasselbe zu thun. Sie klettern auf Ihren Schemel, schon etwas wackelig, und Sie erreichen Ihr Ziel. Sie werfen einen Blick durch die Öffnung … O Gott … Sie fallen … Und wissen Sie, warum Sie gefallen sind?«

»Ich denke, weil das dritte Stuhlbein brach«, sagte Verbrugge würdevoll.

»Ja, das Stuhlbein brach  aber nicht darum sind Sie gefallen; das Stuhlbein ist gebrochen, weil Sie gefallen sind. Vor jeder anderen Öffnung hätten Sie ein Jahr lang auf diesem Stuhle ausgehalten, und jetzt mußten Sie fallen, und wenn dreizehn Beine unter dem Stuhle gewesen wären, ja selbst wenn Sie auf dem Fußboden gestanden hätten …«

»Ich mache mir ein Vergnügen daraus«, sagte Duclari; »ich sehe, daß Sie es sich in den Kopf gesetzt haben, mich, koste, was es wolle, fallen zu lassen. Da liege ich nun, so lang ich bin, aber ich weiß wahrhaftig nicht, warum?«

»Nun, das ist doch sehr einfach … Sie sahen da eine Frau, schwarz gekleidet, die vor einem Block auf den Knien lag, und sie beugte den Kopf hernieder, und weiß wie Silber war der Hals, der sich von dem schwarzen Sammet abhob … und da stand ein Mann mit einem großen Schwert, und er hielt es hoch, und sein Blick starrte auf diesen weißen Hals … und er suchte den Bogen, der sein Schwert beschreiben mußte, um dort … dort zwischen den Wirbeln, mit Genauigkeit und mit Kraft hindurchgetrieben zu werden … Und dann fielen Sie, Duclari, Sie fielen, weil Sie das sahen, und darum riefen Sie: O Gott nicht weil bloß drei Beine am Schemel waren  Und lange nachdem sie aus Fotheringhay erlöst waren, auf Fürsprache Ihres Neffen, oder weil es den Menschen langweilig wurde, Sie da wie einen Kanarienvogel festzuhalten  lange danach, ja, bis heute träumen Sie wachend von dieser Frau, und im Schlafe selbst erschrecken Sie und fallen mit schwerem Stoß auf Ihre Lagerstätte, weil Sie den Arm des Henkers fassen wollen … Ist es nicht so?«

»Ich will es wohl glauben, aber bestimmt kann ich es nicht sagen, weil ich niemals zu Fotheringhay durch ein Loch in der Mauer gesehen habe.«

»Gut, gut, ich auch nicht. Aber nun nehme ich ein Gemälde, das die Enthauptung Maria Stuarts vorstellt. Nehmen Sie an, daß die Auffassung vollkommen ist. Da hängt es, in vergoldetem Rahmen, an einer roten Schnur, wenn Sie wollen … ich weiß, was Sie sagen wollen, gut Nein  Sie sehen den Rahmen nicht … Sie vergessen sogar, daß Sie am Eingang in den Bildersaal Ihren Spazierstock abgegeben haben … Sie vergessen Ihren Namen, Ihr Kind, die neue Polizeimütze, um nicht ein Bild zu sehen, sondern wirklich darauf Maria Stuart zu schauen, gerade wie zu Fotheringhay. Der Henker steht gerade so, wie er wirklich gestanden haben mag, ja, ich will so weit gehen, daß Sie den Arm ausstrecken, um den Schlag abzuwehren, so weit, daß Sie rufen: Laß die Frau leben, vielleicht bessert sie sich … Sie sehen, ich gebe Ihnen alles vor, was die Ausführung des Bildes angeht …«

»Ja, aber was weiter? Ist dann der Eindruck nicht der nämliche, als wenn ich dasselbe in Wirklichkeit in Fotheringhay sähe?«

»Nein, durchaus nicht, und vielleicht deswegen nicht, weil Sie nicht auf einen Stuhl mit drei Beinen gestiegen sind. Sie nehmen einen Stuhl  mit vier Füßen diesmal vielleicht einen Sessel  Sie setzen sich vor dem Bilde nieder um gut und lange zu genießen (wir ›genießen‹ nun einmal bei etwas Grausigem), und was glauben Sie nun, was der Eindruck ist, den es macht?«

 

»Nun, Schreck, Angst, Mitleid, Rührung … ebenso als ob ich durch die Öffnung in der Mauer sähe. Sie haben angenommen, daß die Malerei vollkommen ist, ich muß also davon ganz denselben Eindruck haben als von der Wirklichkeit.«

»Nein, binnen zwei Minuten fühlen Sie Schmerzen im rechten Arm aus Sympathie mit dem Henker, der so lange das schwere Stück Stahl unbeweglich in die Höhe hält …«

»Sympathie mit dem Henker?«

»Ja, Mitgefühl, Mitleid … und ebenso mit der Frau, die da so lange in unbequemer Haltung, und wahrscheinlich auch in ungemütlicher Stimmung, vor dem Block liegt. Sie haben immer noch Mitleid mit ihr; aber diesmal nicht, weil sie enthauptet wird, sondern weil man sie so lange warten läßt, bis sie enthauptet wird. Und wenn Sie noch irgend etwas sagen oder rufen möchten, würde es schließlich  vorausgesetzt, daß Sie sich überhaupt in die Sache einmischen wollen  nichts anderes sein können als: Schlag doch endlich zu, Mann, sie wartet ja darauf Und wenn Sie später das Bild wiedersehen und nochmals wiedersehen, ist selbst der erste Eindruck schon der: Ist es noch nicht vorbei? steht er und liegt sie noch immer da?«

»Aber was ist denn für Bewegung in der Schönheit der Frauen von Arles?« fragte Verbrugge.

»O das ist etwas anderes. Sie spielen Geschichte aus in ihren Zügen. Karthago blüht und baut Schiffe auf ihrer Stirn … hören Sie Hannibals Eid gegen Rom … da flechten sie Sehnen für die Bogen  da brennt die Stadt …«

»Max, Max, ich glaube, du hast dein Herz in Arles gelassen«, sagte Tine.

»Ja, für einen Augenblick … aber ich habe es schon wieder, du sollst es sehen. Stellt euch vor, ich sage nicht: da habe ich eine Frau gesehen, die so oder so schön war; nein, alle waren sie schön, und es war daher eine Unmöglichkeit, sich zu verlieben, weil jede folgende immer wieder die vorhergehende in der Bewunderung verdrängte; und ich dachte wirklich an Caligula oder Tiberius  von wem erzählt man die Fabel?  der wünschte, daß das ganze Menschengeschlecht nur einen Kopf hätte … so kam auch unwillkürlich mir der Wunsch, daß die Frauen von Arles …«

»Nur einen Kopf zusammen hätten?«

»Ja …«

»Um ihn abzuschlagen?«

»O nein … um ihn auf die Stirn zu küssen, wollte ich sagen, aber das ist es nicht, um ihn anzuschwärmen, um davon zu träumen, und um … gut zu sein«

Duclari und Verbrugge fanden sicherlich diesen Schluß wieder sehr sonderbar. Aber Max merkte das nicht und fuhr fort:

»Denn so edel waren die Züge, daß man etwas wie Scham fühlte, nur ein Mensch zu sein, und nicht ein Funken, ein Strahl … nein, das wäre noch Stoff … ein Gedanke Aber … dann saß da so ein Bruder oder ein Vater bei diesen Frauen … und Gott steh mir bei, ich habe gar eine gesehen, die sich die Nase schneuzte«

»Ich wußte wohl, daß du wieder einen schwarzen Strich darüber zeichnen würdest«, sagte Tine.

»Kann ich dafür? Ich hätte sie lieber tot umfallen gesehen;  darf solch ein Mädchen sich profanieren?«

»Aber Mijnheer Havelaar«, fragte Verbrugge, »wenn sie nun erkältet ist?«

»Sie darf nicht erkältet sein mit so einer Nase«

Als ob der Böse seine Hand im Spiele hatte, auf einmal mußte Tine niesen … und bevor sie daran dachte, hatte sie sich geschneuzt

»Bester Max Du wirst mir doch darum nicht böse werden« sagte sie mit verhaltenem Lachen.

Er antwortete nicht, und wie närrisch es scheine oder sei, ja, er war böse darum. Und was auch merkwürdig klingen mag, Tine freute sich, daß er böse war und von ihr verlangte, daß sie mehr sei als die Phokäischen Frauen zu Arles, wenn sie auch gerade keinen Grund hatte, auf ihre Nase stolz zu sein.

Wenn Duclari noch meinte, daß Havelaar »närrisch« war, hätte man es ihm nicht übel deuten können, wenn er, bei Beobachtung der kurzen Verstörtheit, die auf Havelaars Gesicht bei dem Naseschneuzen bemerkbar war, in dieser Meinung bestärkt worden wäre. Aber dieser war zurückgekehrt von Karthago, und mit der Schnelligkeit, mit der er lesen konnte, wenn er nicht gerade mit seinem Geist zu weit von Hause fort war, las er auf den Gesichtern seiner Gäste, daß sie zwei Thesen aufstellten:

Erstens, wer nicht will, daß seine Frau sich die Nase schneuzt, ist ein Narr.

Zweitens, wer glaubte, daß eine in schönen Linien gezeichnete Nase nicht geschneuzt werden darf, thut falsch, diesen Glauben auch auf Mevrouw Havelaars Nase zu übertragen, deren Nase ein bißchen »Kartoffel« ist.

Die erste Behauptung ließ Havelaar auf sich beruhen, aber die zweite

»O«, rief er, als ob er antworten müßte, obschon seine Gäste zu höflich gewesen waren, um diese Gedanken auszusprechen, »das will ich dir erklären, Tine …«

»Bester Max« sagte sie bittend.

Das wollte sagen: Erzähle doch diesen Herren nicht, warum ich in deinen Augen über Erkältung erhaben sein muß …

Havelaar schien zu verstehen, was Tine meinte, denn er antwortete:

»Gut, Kind. Aber wissen Sie, meine Herren, daß man sich oft irrt im Beurteilen der Rechte der Menschen auf materielle Unvollkommenheit?«

Ich glaube bestimmt, daß die Gäste von diesen Rechten noch nie etwas gehört hatten.

»Ich habe auf Sumatra ein Mädchen gekannt«, fuhr er fort, »die Tochter von einem Datoe … nun, ich meine, daß sie auf diese Unvollkommenheit kein Recht hatte, und doch habe ich sie bei einem Schiffbruch ins Wasser fallen sehen … wie jeden anderen. Ich, ein Mensch, habe ihr helfen müssen, um ans Land zu kommen.«

»Aber hätte sie denn fliegen sollen wie eine Möwe?«

»Gewiß … oder, nein … sie hätte keinen Körper haben dürfen. Soll ich Ihnen erzählen, wie ich ihre Bekanntschaft machte? Es war im Jahre 42, ich war Kontroleur von Natal. Sie sind ja wohl dagewesen, Verbrugge?«

»Ja.«

»Nun, dann wissen Sie, daß im Natalschen Pfefferkultur ist. Die Pfefferpflanzungen liegen zu Taloh-Baleh, nördlich von Natal, an der Küste. Ich sollte sie inspizieren, und da ich von Pfeffer nichts verstand, nahm ich in der Prahoe (Praku) einen Datoe mit, der mehr davon wußte. Sein Töchterchen, damals ein Kind von dreizehn Jahren, kam mit. Wir segelten die Küste entlang und langweilten uns …«

»Und dann habt ihr Schiffbruch gelitten?«

»Nein, es war schönes Wetter … der Schiffbruch fiel erst viel später vor; sonst würde ich mich wohl nicht gelangweilt haben. So segelten wir die Küste entlang und es war stickendheiß. Solch eine Prahoe bietet wenig Gelegenheit zur Zerstreuung, dazu war ich gerade in sehr verdrießlicher Stimmung, wozu viele Ursachen beigetragen hatten. Ich hatte erstens eine unglückliche Liebe  das war damals mein täglich Brot  ferner befand ich mich auf einer Station zwischen zwei Anfällen von Ehrsucht. Ich hatte mich zum König gemacht und war entthront worden, ich war auf einen Turm gestiegen und zur Erde niedergestürzt … ich will jetzt überschlagen, wie es kam. Genug, ich saß da in der Prahoe mit saurem Gesicht und schlechter Laune, ich war, was die Deutschen, ›ungenießbar‹ nennen. Ich fand, daß es nicht angebracht war, mich Pfeffergärten inspizieren zu lassen, und daß ich schon lange hätte als Gouverneur eines Sonnensystems angestellt sein sollen. Dabei kam es mir vor wie moralischer Mord, einen Geist wie den meinen in eine Prahoe zu setzen mit diesem dummen Datoe und seinem Kinde.

Ich muß Ihnen sagen, daß ich sonst die malayischen Großen gut leiden konnte und gut mit ihnen fertig wurde. Sie haben vieles, was sie in meinen Augen über die javanischen Großen stellt. Ich weiß wohl, Verbrugge, daß Sie da nicht einstimmen; es sind wenige, die mir darin recht geben … aber lassen wir das.

Hätte ich diese Fahrt einen anderen Tag gethan  mit weniger Raupen im Kopfe  so wäre ich wahrscheinlich bald mit diesem Datoe ins Gespräch gekommen, und ich hätte vielleicht gefunden, daß er das Gespräch wohl wert war. Vielleicht hätte ich dann auch das Mädchen zum Sprechen gebracht, und das hätte mich unterhalten können; denn ein Kind hat meistens etwas Ursprüngliches  obschon ich auch selbst noch zu sehr Kind war, um auf Ursprünglichkeit viel zu geben. Jetzt ist das anders. Jetzt sehe ich in jedem dreizehnjährigen Mädchen ein Manuskript, in dem noch wenig oder nichts gestrichen ist. Man überrascht den Verfasser im Negligé, und das ist oft nett.

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