Das Trauma des "Königsmordes"

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In theoretischer Hinsicht hat man die hier beschriebene Wechselwirkung zwischen individuell-psychischen Prädispositionen und historisch-sozialen Bedingungen als Schlüsselpunkt zu begreifen. Die Annahme einer solchen Wechselwirkung ermöglicht nicht nur die anlogisierende Parallelisierung individuellen und kollektiven Verhaltens34, sondern überbrückt auch darüberhinaus die Diskrepanz zwischen den ontologischen Konzeptionen vom Individuum und von der Gesellschaft, indem sie erklärt, durch welches Element die Individuen im kollektiven Rahmen aneinandergebunden werden und somit die Erhaltung des Kollektivs erst möglich machen. Erich Fromm drückt dies wie folgt aus: »Es sind die libidinösen Kräfte der Menschen, die gleichsam den Kitt formieren, ohne den die Gesellschaft nicht zusammenhielte, und die zur Produktion der großen gesellschaftlichen Ideologien in allen kulturellen Sphären beitragen.«35 D.h. also, dieselben Kräfte, von denen wir behaupteten, sie formierten den Charakter in der individuellpsychischen Sphäre, sind es auch, die jenen »Kitt« bilden, welcher auf die interpersonellen Beziehungen, auf das kollektive Leben also, einwirkt; diese Kräfte sind jedoch selbst von der sozialen Realität beeinflußt, in deren Rahmen sie sich zur Charakterstruktur entfalten. In diesem Sinne kann Adorno die Charakterstruktur als »eine Agentur« definieren, welche »soziologische Einflüsse auf die Ideologie vermittelt«.36

Diese Konzeption schreibt demnach der »Charakterstruktur« eine duale Natur zu. Sie enthält eine passive Seite, welche die Erscheinungen der objektiven Realität aufnimmt und auf sie reagiert, aber es gibt in ihr auch jene aktive Dimension, die (unter gewissen Bedingungen) fähig ist, sich einer »realistischen« Bezugnahme auf eben diese Erscheinungen zu entziehen. Obgleich er sie als vermittelnde »Agentur« definiert hat, betont daher Adorno:

»Die Charakterstruktur, obwohl Produkt der frühen Lebensbedingungen, ist, nachdem sie sich einmal entfaltet hat, dennoch kein bloßes Objekt der gegenwärtigen. Was sich entfaltet hat, ist eine Struktur im Individuum, etwas, das selbst zum Handeln gegenüber der sozialen Umwelt und zur Auswahl unter den mannigfaltigen von ihr ausgehenden Stimuli fähig ist; das, wenn es auch modifizierbar bleibt, gegen tiefgreifende Veränderungen häufig sehr resistent ist.«

Diese Konzeption erklärt auch das konsistent gleiche Verhalten in gegensätzlichen Situationen und die »Hartnäckigkeit ideologischer Trends angesichts ihnen widersprechender Fakten und radikal veränderter sozialer Bedingungen«. So kann denn Adorno postulieren: »Charakterstruktur ist ein Begriff, der für etwas relativ Dauerhaftes einsteht.«37

Begreift man das Individuum als Archetypen, welchem zwar eine historische Wirklichkeit eigen ist, jedoch nicht im Sinne eines »persönlichen Lebensschicksals«, sondern als »idealtypischem« Vertreter des kollektiven Rahmens, dem er angehört38, so kann man sich auf den Begriff des »Gesellschafts-Charakters« (social character) berufen, den Fromm als »den Teil der Charakterstruktur, welcher den meisten Mitgliedern der Gruppe gemeinsam ist«, definiert, und zu dem er bemerkt:

»Der Gesellschafts-Charakter […] umfaßt nur eine Auswahl aus diesen Wesenszügen [des Individual-Charakters], und zwar den wesentlichen Kern der Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe, wie er sich als Ergebnis der grundlegenden Erfahrungen und Lebensweise dieser Gruppe entwickelt hat. Wenngleich es immer ›Abweichler‹ mit einer völlig anderen Charakterstruktur geben wird, stellen doch die Charakterstruktur der meisten Mitglieder der Gruppe Variationen dieses Kerns dar, wie sie durch die zufälligen Faktoren von Geburt und Lebenserfahrung zustande kamen, die ja von Mensch zu Mensch verschieden sind.«39

Fromm sieht in der Konzeption des »Gesellschafts-Charakters« einen der Schlüsselbegriffe für die Erfassung sozialer Prozesse. Seiner Auffassung nach sind einerseits die Anpassungsformen menschlicher Bedürfnisse an die Seinsbedingungen einer bestimmten Gesellschaft im Charakter verkörpert, andererseits werden aber Denken, Fühlen und Handeln des Individuums von eben diesem Charakter geformt. Dies ist ein für unser Anliegen besonders wichtiger Punkt, da Fromm auch die intellektuelle Welt des Menschen nicht von dieser Auffassung ausgrenzt; mit Beziehung auf »Begriffe«, »Ideen« und »Doktrinen« als Elemente dieser intellektuellen Welt, behauptet er:

»Ein jeder derartiger Begriff und eine jede Doktrin besitzt eine emotionale Matrix, und diese Matrix ist in der Charakterstruktur des einzelnen verwurzelt. […] Die Tatsache, daß Ideen eine emotionale Matrix besitzen, ist von größter Bedeutung, denn sie ist der Schlüssel zum Verständnis des Geistes einer Kultur. Verschiedene Gesellschaften oder Klassen innerhalb einer Gesellschaft besitzen einen spezifischen Gesellschafts-Charakter, und auf dieser Basis entwickeln sich unterschiedliche Ideen, die zu mächtigen Triebkräften werden.«40

Er geht gar einen Schritt weiter und postuliert, die Triebkräfte der Ideen könnten sich erst dann voll entfalten, wenn sie eine Antwort auf die besonderen menschlichen Bedürfnisse eines spezifischen Gesellschafts-Charakters ermöglichten. Freilich ist auch in diesem Zusammenhang der Prozeß wechselseitig. Der Gesellschafts-Charakter entsteht natürlich nicht im leeren Raum; trotz des gestaltenden Einflusses, den er auf soziale Prozesse ausübt, ist er in nicht geringem Maße selber eine Funktion der aus dem gesellschaftlichen System resultierenden Zwänge und introjiziert äußere Bedürfnisse, um die menschliche Energie in die Aufgaben des wirtschaftlichen und sozialen Systems, in dessen Rahmen er sich verwirklicht, sozusagen einzubinden. Daher insistiert auch Fromm darauf, daß man die Gesellschaftsstruktur (oder die Persönlichkeitsstruktur der in ihr lebenden Individuen) nicht als Ergebnis des Erziehungsprozesses erklären könne, sondern, umgekehrt, »das Erziehungssystem mit den Erfordernissen erklären [müsse], die sich aus der sozialen und wirtschaftlichen Struktur der jeweiligen Gesellschaft ergeben.« Andererseits liegt die Wichtigkeit der Erziehungsmethoden darin, daß sie Mechanismen darstellen, mittels derer das Individuum »in die gewünschte Form gebracht wird«. Wenn wir also oben behauptet haben, der familiäre Rahmen spiele eine entscheidende Rolle in der Gestaltung der individuellen Charakterstruktur, so kann man mit Fromm »die Familie als die psychologische Agentur der Gesellschaft ansehen.«41

Auf diesen theoretischen Erwägungen stützt sich Fromm bei der Kategorisierung verschiedener Erscheinungsformen des Gesellschafts-Charakters, als deren für unser Anliegen wichtigste die des sogenannten »autoritären Charakters« erachtet werden muß. Er verwendet diese Benennung stellvertretend für die des »sado-masochistischen Charakters« und begründet dies damit, daß sich der sado-masochistische Mensch deutlich durch eine besondere Beziehung zur Autorität auszeichne42: »Er bewundert die Autorität und neigt dazu, sich ihr zu unterwerfen, möchte aber gleichzeitig selbst Autorität sein, der sich die anderen zu unterwerfen haben.«43 Es sei hervorgehoben, daß die Autorität nicht als Eigenschaft des Einzelnen, sondern als »zwischenmenschliche Beziehung« begriffen wird, »bei der der eine den anderen als ihm überlegen betrachtet.« Fromm unterscheidet in dieser Hinsicht zwischen zwei Idealtypen solcher Beziehungen, von denen er den ersten als »rationale Autoritätsbeziehung« (z.B. die Beziehung zwischen Lehrer und Schüler) und den zweiten als »hemmende Autoritätsbeziehung« (z.B. die zwischen dem Sklavenhalter und dem Sklaven) bezeichnet. Die elementaren Unterschiede zwischen beiden Beziehungsformen sieht er in der Interessengemeinschaft, welche die erste Beziehung im Gegensatz zur zweiten kennzeichnet, und in der grundlegend verschiedenen psychologischen Situation: In der ersten Beziehung herrschen vorwiegend positive Gefühle, wohingegen in der zweiten Ressentiment und Feindseligkeit vorherrschend sind. Natürlich vermischen sich in der Realität beide Arten der Autoritätsbeziehung, und jede Analyse einer konkreten Beziehung erfordert daher die spezifische Gewichtung der jeweils in ihr auftretenden Art.44 Obgleich wir hier also vorzüglich mit dem Begriff der zweiten Beziehungsart operieren werden, betonen wir ausdrücklich, daß die Unterschiede in der Realität, auch in der von uns anvisierten historischen Situation, keineswegs polarisiert sind, schon gar nicht dem Augenschein nach. Wir werden also bemüht sein zu zeigen, mit welchen Schwierigkeit die Auflehnung gegen die Autorität verbunden ist, und zwar gerade wegen der aus der psychologischen Verschmelzung beider Beziehungsarten resultierenden Ambivalenz.

Fromm spricht von einem weiteren Aspekt der Autorität: »Die Autorität muß nicht unbedingt eine Person oder eine Institution sein, die sagt: ›Du mußt das tun‹ oder ›Das darfst du nicht tun‹. Man könnte diese Form als äußere Autorität bezeichnen, aber sie kann auch als innere Autorität: als Pflicht, Gewissen oder Über-Ich auftreten.«45 Im Grunde – so Fromm – läßt sich das ganze moderne Denken vom Protestantismus bis hin zu Kant als die Ersetzung der äußeren Autorität durch die internalisierte denken46:

»Durch die politischen Siege des aufsteigenden Bürgertums verlor die äußere Autorität an Ansehen, und das eigene Gewissen nahm den Platz ein, den diese innegehabt hatte, worin viele einen Sieg der Freiheit sehen. Sich (zum mindesten in religiösen Dingen) Anordnungen von außen zu unterwerfen, schien nun eines freien Mannes unwürdig. Dagegen sah man im Sieg über seine natürlichen Neigungen und in der ›Selbstbeherrschung‹, das heißt in der Beherrschung des einen Teils des Menschen – seiner Natur – durch einen anderen Teil seines Wesens – seine Vernunft, seinen Willen oder sein Gewissen – das Wesen der Freiheit. Die Analyse zeigt, daß das Gewissen ein ebenso strenger Zwingherr ist wie äußere Autoritäten. Außerdem zeigt sie, daß die Gewissensinhalte im letzten keine Forderungen des individuellen Selbst sind, sondern gesellschaftliche Forderungen, die die Würde ethischer Normen angenommen haben. Die Herrschaft des Gewissens kann sogar noch strenger sein als die äußeren Autoritäten, weil der Betreffende die Befehle seines Gewissens als ureigenste erfährt. Wie aber kann jemand gegen sich selbst rebellieren?«47

 

Fromms rhetorische Frage verdeutlicht die besondere Bedeutung, die dem Begriff »Auflehnung« (und dessen komplementäre Ergänzung »Gehorsam«) im anstehenden Zusammenhang zukommt; nicht von ungefähr bezeichnet er »die Einstellung zur Macht« als das wichtigste Merkmal des autoritären Charakters.48 Wie wir oben darlegten, bewundert der autoritäre Charakter die Macht, welche seine Liebe und seine Bereitschaft zur Unterwerfung entfacht, während Schwäche und Ohnmacht (seien es die eines Menschen oder einer Institution) in ihm Verachtung und die Angriffslust gegen sie erwecken. Es muß jedoch auch hier darauf hingewiesen werden, daß (ähnlich wie die oben beschriebenen Autoritätsbeziehungen) auch der autoritäre Charakter in seiner puren Form selten in der realen Welt vorzufinden ist. Mehr noch: Seine »realen« Erscheinungsformen können trügen; Fromm hebt dies ausdrücklich hervor, indem er auf die Neigung des autoritären Charakters, sich der Autorität zu widersetzen und gegen Einflüsse »von oben« zu wehren, eingeht. Er bemerkt, daß diese Widersetzung zuweilen dermaßen dominant sei, daß sie den äußeren Ausdruck der Unterwerfung bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Dieser Typ des autoritären Charakters widersetzt sich immer gegen irgendeine Autorität, ohne dabei wahrzunehmen, wann er sogar seinen eigenen Interessen zuwider handelt. Andere haben ein gespaltenes Verhältnis zur Autorität; sie können sich gegen eine bestimmte Autorität auflehnen (besonders gegen eine, die sich wider Erwarten als schwach entpuppt hat), um sich einer anderen Autorität zu unterwerfen, welche ihre »masochistischen Sehnsüchte« besser zu erfüllen vermag. Es gibt auch den autoritären Charakter, der seine Auflehnungsneigungen vollkommen verdrängt, so daß diese nur a posteriori in Form von Haßgefühlen gegenüber der Autorität auszumachen sind, besonders dann, wenn deren Macht schwindet und sie zu stürzen droht.

Wenigstens bei der ersten Kategorie – so Fromm – handelt es sich vermeintlich um Menschen mit einem stark ausgeprägten Unabhängigkeitsbedürfnis, die mutig gegen jene Machthaber und Autoritäten ankämpfen, welche der Erfüllung dieses Bedürfnisses im Wege zu sein scheinen. Dieser Schein trügt jedoch, denn der Kampf des autoritären Charakters gegen die Autorität ist seinem Wesen nach im »Trotz« verankert49; es handelt sich um den Versuch, das Gefühl der Ohnmacht zu überwinden, ohne daß dabei das (bewußte oder unbewußte) Bedürfnis, sich der Autorität zu unterwerfen, tatsächlich bewältigt würde: »Ein autoritärer Mensch ist niemals ein ›Revolutionär‹, lieber würde ich ihn einen ›Rebellen‹ nennen. Viele Menschen und viele politische Bewegungen sind dem oberflächlichen Beobachter ein Rätsel, weil sie anscheinend unerklärlicherweise vom ›Radikalismus‹ zu einem äußerst autoritären Gehabe hinüberwechseln. Psychologisch handelt es sich bei solchen Menschen um typische ›Rebellen‹«. Fromm geht gar in seiner Behauptung einen Schritt weiter:

»Die Einstellung des autoritären Charakters zum Leben, seine gesamte Weltanschauung wird von seinen emotionalen Strebungen bestimmt. Der autoritäre Charakter hat eine Vorliebe für Lebensbedingungen, welche die menschliche Freiheit einschränken, er liebt es, sich dem Schicksal zu unterwerfen. Was er unter ›Schicksal‹ versteht, hängt von seiner gesellschaftlichen Stellung ab. […] Man kann Schicksal philosophisch als ›Naturgesetz‹ oder als ›Los des Menschen‹, religiös als ›Willen des Herrn‹ oder moralisch als ›Pflicht‹ rationalisieren – für den autoritären Charakter ist es stets eine höhere Macht außerhalb des einzelnen Menschen, der sich jeder nur unterwerfen kann. Der autoritäre Charakter verehrt die Vergangenheit. Was einmal war, wird in alle Ewigkeit so bleiben. Sich etwas noch nie Dagewesenes zu wünschen oder darauf hinzuarbeiten, ist Verbrechen oder Wahnsinn. […] Der Mut des autoritären Charakters ist im wesentlichen ein Mut, das zu ertragen, was das Schicksal oder ein persönlicher Repräsentant oder ›Führer‹ für ihn bestimmt hat. […] Nicht das Schicksal zu ändern, sondern sich ihm zu unterwerfen, macht den Heroismus des autoritären Charakters aus.«50

Es sei wiederum betont: Völlige Unterwerfung, vorübergehende Rebellion gegen die Autorität, ohne sie tatsächlich gänzlich stürzen zu wollen, oder Auflehnung gegen eine Autorität aus Sehnsucht nach einer anderen, gar stärkeren, sind graduell unterschiedliche Erscheinungsformen desselben autoritären Patterns: die Abhängigkeit von der Autorität ist in allen Formen als konstante Determinante erkennbar; in dieser Abhängigkeit ist die emotionale Matrix des autoritären Charakters verkörpert, durch sie wird seinVerhalten und seine Handlungsweise, auch wenn dies zunächst nicht klar ersichtlich zu sein scheint, bestimmt. Mehr noch: Diese Abhängigkeit »neigt« dazu, sich selbst zu erhalten, denn gerade weil sie die »psychologische Sicherheit« des Bekannten und des Gewissen sowie die Abwehr gegenüber der Bedrohung durch das Unbekannte und das ungewisse Neue verkörpert, bedarf es für gewöhnlich mächtiger Anstrengungen, um sich von ihr loszulösen. Die Angst des autoritären Charakters vor der Loslösung von der Autorität ist daher mit seiner Angst vor der Verantwortung, welche es bei der Gestaltung der neuen Lage ohne Schirmherrschaft der Autorität zu übernehmen gilt, aufs engste verbunden. Die Verehrung der Vergangenheit, von der Fromm spricht, ist in diesem Sinne nichts anderes als die Angst vor der Zukunft.

Auf der Grundlage dieses Begriffssystems können wir nun zur Darlegung der Hauptthese dieser Untersuchung übergehen. Wir behaupten, daß die historiographische Rezeption der Französischen Revolution im vormärzlichen Deutschland von dem in breiten Schichten des deutschen Bürgertums und der ihm angehörenden Intelligenz vorwaltenden autoritären Pattern entscheidend geprägt, wenn nicht gar gänzlich bestimmt wurde. Da man den Ablauf der Revolution (zumal in ihren Anfangsphasen) sowohl politisch als auch kollektiv-psychisch als eine Auflehnung gegen die Autorität begreifen kann, meinen wir in diesem Aspekt einen besonders abschreckenden Faktor einer Rezeption der Revolution als Modell einer möglichen Nachahmung in Deutschland erkennen zu dürfen. Unter diesem Gesichtspunkt erhält denn auch die Hinrichtung des französischen Königs eine ganz besondere Bedeutung; sie symbolisiert die gewaltsame Auflehnung gegen die Autorität im allerarchaischsten Sinne: der »Königsmord«, wie ihn viele jener Epoche zu nennen pflegen, wird mit der psychischen Folie des »Urvatermords«51 rezipiert, wenn man will: Der Landesvater wird von den Landeskindern ermordet.

Das historische Indiz für eine solche Interpretation läßt sich am deutlichsten an der Wende in der Reaktion der meisten deutschen Gebildeten auf die Revolution erkennen. Diese Wende setzt zwar vor der Hinrichtung an, jedoch auch da immer im Zusammenhang mit dem, was sich als Auflehnung gegen die Autorität auslegen läßt. In ihren Anfängen wird die Revolution mit großem Jubel empfangen, der in den beiden ersten Jahren teilweise verklingt, mit dem Schock, den die Hinrichtung des Königs auslöst, aber vollends in Abscheu und allgemeine Verwerfung umschlägt. Dieser Prozeß reflektiert an sich das Element der Ambivalenz in der Beziehung zum Gesamtereignis. Von Anfang an ist die Französische Revolution im Grunde nichts anderes als eine Auflehnung gegen die Autorität52, und eben diese ersten Phasen werden von den deutschen Gebildeten begrüßt, weil sich in ihnen der Ausdruck einer eigenen Aggression gegen die Autorität ermöglicht; es handelt sich hierbei freilich um den von Fromm als »Rebellion« bezeichneten Reaktionsmodus: Die deutschen Gebildeten können eine Rebellion gegen die Autorität akzeptieren, nicht aber eine wirkliche Revolution, welche die Autorität gänzlich stürzen würde. Als die französischen Revolutionäre den entscheidenden Schritt machen, indem sie die Monarchie abschaffen und den König physisch liquidieren, setzt sich der autoritäre Charakter der deutschen »Beobachter« in eine psychisch motivierte ideologische Reaktion um, welche sie alsdann veranlaßt, dem gesamten Geschehen den Rücken zu kehren.

Wir werden die individuell-psychischen Quellen der Ambivalenz weiter unten noch zu erörtern haben. Es scheint indes angebracht, schon an dieser Stelle hervorzuheben, daß sich das in diesem konkreten historischen Zusammenhang beschriebene Pattern bei allen politischen Schlüsselereignissen im Verlauf der deutschen Geschichte – von der Französischen Revolution bis hin zum Revolutionsversuch von 1848, wo es am entscheidenden Moment moderner deutscher Geschichtsentwicklung am krassesten zum Ausdruck kommt und den erfolgreichen Abschluß der Revolution letztlich verhindert – reproduzierend wiederholt.

Damit soll nicht behauptet werden, der autoritäre Charakter sei ein Produkt der Französischen Revolution gewesen. Seine kollektive Genese hing vielmehr mit der historischen Sonderheit der strukturellen Entwicklung Deutschlands in den der Revolution vorangegangenen Jahrhunderten, mit den der territorialen Zersplitterung einwohnenden Erziehungsprozessen und mit der aus ihnen erwachsenen partikularistischen Mentalität und »politischen Kultur« zusammen.53 Und dennoch: Die Bedeutung der Französischen Revolution als katalysierender Faktor für die Verfestigung und historische Objektivierung des latenten Patterns in der Ára nach dem großen französischen Ereignis kann gar nicht übertrieben werden; denn die Revolution, als Scheideweg moderner Geschichte, erstellt einen neuen und bis dahin unbekannten Maßstab für die politische Ideologiepraxis. Sie bettet die Auflehnung gegen die konventionelle Autorität in eine umfassende Konzeption der Emanzipation ein: Sie affirmiert nicht nur die bewußtseinsmäßige Möglichkeit, daß der Sturz der Autorität weder eine Sünde noch die Übertretung eines sakralen Tabus darstelle, sondern erhebt ihn gar zur notwendigen Bedingung für die Befreiung des Menschen von seinen herkömmlichen sozialen und politischen Fesseln. Das der Revolution von der Seite »zuschauende« Kollektivsubjekt (wie etwa die deutsche Gebildetenschicht) kann diese Option nicht mehr ignorieren, wenn es daran geht, seine politischen und sozialen Zielsetzungen zu definieren. Freilich, gerade das Revolutionäre am Beschreiten des neuen Weges – d.h. gerade das Verlassen bekannter Strukturen zugunsten der bedrohenden Kontingenz einer ungewissen Zukunft (und trotz der in ihr utopisch umrissenen emanzipatorischen Verheißung) – kann all jene Ängste aufkommen lassen, welche die revolutionäre Wegbeschreitung verhindern und die Klammerung an die bestehenden Verhältnisse sichert, deren wichtigstes und bekanntestes Kontinuitätssymbol eben von der politischen Autorität verkörpert wird.

Wir betonen die Dimension der Entscheidung hinsichtlich der Rezeption der Revolution und der in ihr enthaltenen Optionen. Wir meinen hierbei nicht eine bewußte, auf Zweckrationalität ausgerichtete Entscheidung54, sondern die psychologisch motivierte, auf die Befriedigung emotionaler und mentaler Bedürfnisse zielende Entscheidung, der sich das Subjekt, trotz ihres offensichtlichen Widerspruchs zu seinen sozialen, ökonomischen und politischen Interessen, verschreibt.55 Dies bedeutet, daß die deterministische Dimension des autoritären Charakters als ihrem Wesen nach relativ zu begreifen ist und nicht als eine a priori gegebene alternativlose Unumgänglichkeit. Die Alternative manifestiert sich im Bewußtsein des Subjekts, im Bewußtsein seiner objektiven Lebensbedingungen und der zu deren emanzipierenden Veränderung aufzubringenden Opfer.56 Wenn das Subjekt es vorzieht, in seinen herkömmlich vorgegebenen Lebensbedingungen zu verharren, um sich deren Veränderung zu entziehen, trifft es eine Entscheidung, wenn es sich ihrer auch nicht immer bewußt ist. Die »Rechtfertigung« (d.h. die »logische« Erklärung für das Verharren in Bedingungen, die den eigenen Interessen widersprechen) nennen wir beim Individuum »Rationalisierung« und beim Kollektiv »Ideologie«.57 In diesem Sinne können wir also behaupten, daß jene typische Ideologiestruktur, welche sich in der Beziehung der Gebildetenschicht des Vormärz zur Revolution als politischem Mittel überhaupt und zur Französischen Revolution als historischer Vorgabe ausmachen läßt, ihre Quelle in einem für sie aufgrund einer historischen Entscheidung charakteristisch gewordenen autoritären Pattern hat.58

 

Die inhärente Verbindung zwischen dem autoritären Pattern und der politischen Ideologie des Bürgertums ist in der hier zur Debatte stehenden historischen Epoche besonders eng, und zwar gerade wegen der eigentümlichen Rezeption der Französischen Revolution. Hatte doch diese Revolution die mit der Zügellosigkeit der unteren Schichten einhergehende »Gefahr« und »Bedrohung« deutlich bewiesen, indem sie deren von der »Freiheit« sozusagen sanktionierten »triebhafte Wildheit« konkret veranschaulichte. Es kann freilich von einer etablierten, auf die Kaschierung von Klasseninteressen ausgerichtete Ideologie, wie etwa die des Kapitalismus, noch nicht die Rede sein, denn der Industrialisierungsprozeß und die aus ihm resultierenden polaren Klassengegensätze waren im Vormärz-Deutschland noch nicht weit genug fortgeschritten und entwickelt. Es lassen sich gleichwohl erste Blüten dieses Prozesses nachweisen, und in jedem Fall bestand schon seit längerem die Neigung des Bürgertums, sich selbst »nach unten« hin zu bestimmen und abzugrenzen, und sei es mittels der Konzeption der »Bildung«, welche (genau genommen) zu einer Art politischen Parole dieser Klasse geworden war59; in dieser Situation symbolisieren die unteren Schichten die »Unordnung«, die »Anarchie« und das »Chaos«. Diese Bedrohung ist deutlich genug, denn, wie gesagt, hatte die Französische Revolution die »Massen« als aktives Kollektivsubjekt mit konkret artikuliertem Willen und zielgerichteten Aspirationen auf die Bühne der Geschichte gehievt. Zwar läßt sich daher die ständig lauernde Gefahr der Gewalttätigkeit nicht aus der Welt schaffen, aber man kann ihr zumindest eine Schranke in der Gestalt der herkömmlichen politischen Autorität setzen, um wenigstens ihren akuten Ausbruch zu verhindern; gegen einen König erhebt man sich nun mal nicht so ohne weiteres, er garantiert daher die Erhaltung der althergebrachten sozialen Ordnung.60 Nach unserem Dafürhalten wurzelt das Streben des deutschen Liberalismus nach der konstitutionellen Monarchie und seine Bekämpfung der Republik in diesem für Deutschland eigentümlichen Zusammentreffen einer Verehrung »nach oben« und einer Angst »vor unten«, d.h. in der affirmierenden Verknüpfung des autoritären Charakters mit der politischen Ideologie.

Diese enge Verbindung zwischen dem kollektiv-psychischen Pattern und der ideologischen Struktur ist der Schlüssel zum Verständnis der Tragweite der Französischen Revolution in ihrer Bedeutung als ein die politische Kultur des Bildungsbürgertums im Vormärz und in der Folgezeit prägender Faktor. Wir haben oben dargelegt, daß der Revolutionsrezeption eine emotionale Matrix unterlegt ist, welche sich kognitiv in einem ideologischen System artikuliert.61 Es erhebt sich nun die Frage, durch welche in der Französischen Revolution auftauchenden Motive die beide Beziehungsebenen, nicht nur während des aktuellen Geschehens, sondern auch noch vierzig oder fünfzig Jahre später aktiviert werden. Die Beantwortung dieser Frage hängt mit einer prinzipiellen Klärung des Begriffs »Rezeption« zusammen, wie wir ihn hier verwenden. Wir gehen von der Grundannahme aus, daß historische Ereignisse gemeinhin kodifiziert erfaßt werden: Der Gesamtkomplex historischer Tatsachen enthält Schlüsselworte, Namen und Begriffe, deren Gebrauch eine bestimmte Assoziationsstruktur erweckt. Die Assoziationen können sich mit den Tatsachen verbinden oder gar decken, sie können sich aber auch – und das ist im anstehenden Zusammenhang besonders wichtig – vom eigentlichen historischen Ereignis loslösen, um sich als quasi autonome Gedankengebilde zu verselbständigen. Wir nennen solche Schlüsselbegriffe »Kodes« und schreiben ihnen die Funktion der Symbolisierung von Gestalten, Dingen, Ideen oder Prozessen zu. Unserer Ansicht nach ist es die jedem historischen Ereignis innewohnende »Kode-Matrix«, welche die Rezeption eben dieses historischen Ereignisses erst eigentlich ermöglicht.

Die Französische Revolution assoziert sich, beispielsweise, wie von selbst mit Begriffen und Namen wie »Menschenrechte«, »Guillotine«, »Terror«, »Robespierre«, »Danton« u.s.w. Es ist klar, daß der Begriff »Menschenrechte« (zumindest bei uns heute) eine emanzipatorische Assoziation hervorruft, wohingegen »Guillotine« und »Terror« die von Gewalt und Unterdrückung. »Robespierre« kann sowohl die Gewalt als auch die Befreiung der »Massen« repräsentieren – es hängt ganz vom ideologischen Ansatz ab62; im Grunde kann sich der Begriff »Revolution« selbst sowohl mit »besserer Welt« als auch mit »Zerstörung und Chaos« in Verbindung setzen lassen. Oft erscheint eine solche Zweideutigkeit nicht unbedingt als dichotomische Möglichkeit der Wahl, sondern als untrennbare Einheit (z.B. »Menschenrechte« und »Terror« oder »Mirabeau« und »Marat«). Dies hängt mit der Ambivalenz zusammen, welche sich gemeinhin mit der Idee der Revolution verbindet; sie wird begriffen als ein Etwas, das sowohl die Verheißung einer besseren Zukunft als auch den Preis der Zerstörung und des Chaos für die Verwirklichung eben dieser Verheißung zum Inhalt hat. So lassen sich denn die spezifischen Kodes der Französischen Revolution in vier Sinnwelten zusammenfassen, welche, aneinandergereiht, ihre Kode-Matrix darstellen: »Auflehnung gegen die Autorität«, »Gewalt«, »Emanzipation« und »Ambivalenz«. Obwohl sich die Erscheinungsform dieser Kodes von Fall zu Fall ändern kann und obgleich sie nicht immer leicht zu identifizieren sind, meinen wir feststellen zu dürfen, daß sie in dieser oder jener Form in jeder historiographischen (und wohl nicht nur historiographischen) Rezeption der Revolution vorzufinden seien.

Man kann dagegen einwenden, daß diese Feststellung wohl eine Selbstverständlichkeit sei: Begann doch die Revolution tatsächlich als eine Auflehnung gegen die traditionellen Autoritäten, es gab in ihr wirklich extreme Erscheinungen der Gewalttätigkeit, und sie bewirkte in der Tat die politische Emanzipation der sich auflehnenden Bevölkerung; und weil eben in ihr Freiheit und Tod, Emanzipation und Repression nebeneinander und gleichzeitig auftraten, kann das Gefühl der Ambivalenz als legitim und natürlich erachtet werden. Die Kode-Matrix hat also nichts anderes zum Inhalt als was die historischen Fakten ohnehin zeigen, und es ist von daher nur zu logisch, daß sie sich aus jeder einigermaßen akzeptablen Geschichtsschreibung der Französischen Revolution herauslesen läßt. Darauf muß in zweierlei Hinsicht geantwortet werden:

Erstens: Nicht der Konnex zwischen den Kodes und dem historischen Ereignis ist im zur Debatte stehenden Zusammenhang relevant, sondern die Tatsache, daß die Kodes zwischen dem, was in dem Ereignis selbst motivisch enthalten ist, und dem Assoziationshorizont, der sich (unabhängig von der Beziehung zum konkreten historischen Geschehen) auf der Grundlage dieser Motive auftut, vermitteln. D.h., wir sind nicht an der Strukturierung der Französischen Revolution zwecks besseren Verständnisses ihrer selbst interessiert, sondern an den in ihr befindlichen Gebilden, welche ihren Rezeptionsprozeß im historischen Zusammenhang dieses Prozesses selbst bestimmen.63

Zweitens (und dieser Punkt ist entscheidend für unsere These): Die oben dargestellte Kode-Matrix ist nicht nur die der Französischen Revolution. Wie wir im 2. Kapitel noch ausführlich darlegen werden, sind die in ihr enthaltenen Kodes auch Schlüsselbegriffe der Freudschen Konzeption des ödipalen Konflikts. Kodifiziert läßt sich dieser Konflikt beschreiben als emotionales Bestreben des (männlichen) Kindes zur gewalttätigen Auflehnung gegen die Autorität des Vaters (um der Mutter willen); dieses Bestreben ist in der Realität zum Scheitern verurteilt, unter anderem wegen der ambivalenten Gefühle des Kindes seinem potentiellen Opfer gegenüber. Das aus diesem Konflikt resultierende Schuldgefühl ist ein Haupthindernis im langwährenden Kampf um die Emanzipation, welches das Kind bestreiten muß, um seine emotionale Abhängigkeit von den Eltern überwinden und sich auf dem Weg der Entwicklung zum eigenständigen Individuum von der Autorität seines Vaters lösen zu können.