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Arena Eins: Die Sklaventreiber

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Aus der Reihe: Trilogie Des Überlebens #1
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SIEBENUN DZWANZIG

Ich suche verzweifelt unsere Umgebung ab und entdecke die Fassade des Gebäudes, das einmal Whole Foods war. Es ist verlassen, wie alles anderen Gebäude, komplett verfallen. Aber im Gegensatz zu den anderen Läden scheinen die Türen noch intakt zu sein. Ich frage mich, ob wir vielleicht herein können und sie hinter uns schließen.

„Hier lang!“, brülle ich Logan zu, der ratlos dasteht.

Wir rennen zum Eingang von Whole Foods, die Psychos sind nur noch 30 Meter hinter uns. Ich würde erwarten, dass sie schreien, aber sie schweigen. Bei alle dem Schnee machen sie überhaupt kein Geräusch, und irgendwie ist das noch gespenstischer, als wenn sie schreien würden.

Wir erreichen die Türen und ich bin erleichtert, dass ein Griff sich öffnet. Ich renne hinein, Logan hinter mir, dann drehen wir uns um und werfen die Tür hinter uns zu. Logan nimmt das schwere Maschinengewehr von seiner Schulter und schiebt es zwischen die Türgriffe, um sie zu blockieren. Er klemmt es hinein, es passt perfekt. Ich prüfe die Türen, und sie rühren sich nicht.

Wir wenden uns um und gehen durch den Laden. Es ist kalt hier drin, leer, verfallen. Es gibt keine Reste von Lebensmitteln, nur aufgerissene und leere Verpackungen überall auf dem Boden. Keine Waffen, keine Vorräte. Kein Ort zum Verstecken. Nichts. Was auch immer es hier gab, ist schon vor langer Zeit geplündert worden. Ich suche nach Ausgängen, aber ich finde keinen.

„Und jetzt?“, fragt Logan.

Es gibt einen plötzlichen Knall gegen die Metalltür, als Dutzende von Psychos dagegentreten. Unser Schloss wird sich nicht lange halten. Ich durchsuche wieder verzweifelt den Laden, auf der Suche nach einer Idee. Und dann entdecke ich etwas: ein Treppenhaus.

„Dort!“, brülle ich und zeige dorthin.

Wir rennen beide durch den Laden, durch die Tür, ins Treppenhaus. Logan sieht mich an.

„Hoch oder runter?“, fragt er.

Das ist eine gute Frage. Wenn wir runtergehen, finden wir vielleicht einen Keller. Vielleicht gibt es dort Vorräte, oder wir können uns dort verbarrikadieren. Aber es könnte auch eine tödliche Falle sein. Und so, wie es hier aussieht, bezweifle ich, dass es Vorräte gibt. Wenn wir nach oben gehen, gibt es dort vielleicht etwas. Vielleicht einen Ausgang auf dem Dach.

Meine klaustrophobische Seite gewinnt.

„HOCH!“, sage ich trotz der Schmerzen in meinem Bein.

Wir beginnen, die Metallstufen zu erklimmen. Logan ist so schnell, dass ich kaum mithalten kann. Er kommt zurück, greift mich mit einem Arm, hält mich fest und zieht mich die Treppen schneller hoch, als ich es allein geschafft hätte. Jeder Schritt ist eine Folter, als würde ein Messer in meine Wade schneiden. Ich verfluche den Tag, an dem diese Schlange geboren wurde.

Wir erklimmen Stockwerk um Stockwerk. Nach der vierten Etage muss ich eine Pause machen, Luft holen. Mein Atem rasselt und klingt unheimlich: Wie der einer 90-jährigen Frau. Mein Körper hat in den letzten 48 Stunden zu viel durchgemacht.

Plötzlich gibt es einen entsetzlichen Knall. Wir sehen uns an, dann das Treppenhaus herunter. Uns wird beiden gleichzeitig bewusst, dass die Psychos es geschafft haben, hereinzubrechen.

„KOMM SCHON!“, brüllt er.

Er greift nach mir, und ich fühle einen neuen Adrenalinschub, als wir die Treppe zwei Mal so schnell hochrennen. Wir schaffen die sechste Etage, dann die siebte. Ich höre, wie die Psychos ins Treppenhaus kommen. Sie laufen schon die Treppe hoch. Sie wissen genau, wo wir sind.

Noch ein Stockwerk. Ich zwinge mich, obwohl ich kaum noch Luft bekomme, die letzte Treppe hinauf. Wir gelangen auf den Absatz und rennen zu der Metalltür, die zum Dach führt. Logan drückt mit seiner Schulter dagegen, aber sie lässt sich nicht öffnen. Sie ist verschlossen. Offensichtlich von außen. Ich kann es nicht glauben.

Der Mob der Psychos kommt näher, das Geräusch ihres Trampelns auf der Metalltreppe ist ohrenbetäubend. In wenigen Momenten werden wir in Stücke gerissen werden.

„TRITT ZURÜCK!“, brülle ich Logan zu, ich habe eine Idee.

Dies ist die beste Gelegenheit, die ich für meine letzte Kugel noch habe. Ich ziehe meine Pistole, ziele und feuere mit meiner letzten Kugel auf das Türschloss. Ich weiß, dass es riskant ist, von so nahem zu schießen – aber ich sehe nicht, welche andere Wahl wir hätten.

Die Kugel prallt vom Metall ab, verfehlt uns nur um wenige Zentimeter, aber das Schloss öffnet sich.

Wir rennen durch die Tür, raus ins Tageslicht. Ich schaue über das Dach, frage mich, wo wir hinkönnen, ob es einen möglichen Fluchtweg gibt. Aber ich sehe nichts. Absolut nichts.

Logan nimmt meine Hand und rennt mit mir ans andere Ende. Als wir den Rand erreichen, sehen wir unter uns eine riesige Steinmauer. Sie umspannt den University Place, geht entlang der 14th Street weiter und trennt alles ab, was südlich davon liegt.

„Die Mauer an der 14th Street!“, schreit Logan. „Sie trennt das Ödland von der Wüste.“

„Der Wüste?“, frage ich.

„Dort ist die Bombe hochgegangen. Es ist alles verstrahlt – alles südlich von der 14th Street. Dort geht niemand hin. Nicht einmal die Psychos. Es ist zu gefährlich.“

Plötzlich scheppert wieder Metall, und die Tür zum Dach öffnet sich. Der Mob strömt heraus, direkt auf uns zu.

Tief unter uns sehe ich eine Schneebank, knapp drei Meter hoch. Der Schnee ist dick, und wenn wir genau richtig landen, dann kann das vielleicht, nur vielleicht, unseren Aufprall mildern. Aber es wird ein tiefer Fall, etwa fünfzehn Meter. Und wir wären dann auf der Wüsten-Seite der Mauer.

Aber ich sehe nicht, was für eine Wahl wir hätten.

„Die Schneebank!“, brülle ich und zeige dorthin. „Wir müssen dort hineinspringen!“

Logan schaut herunter und schüttelt den Kopf, er wirkt ängstlich.

Ich sehe über meine Schulter: Die Psychos sind nur noch 30 Meter entfernt.

„Wir haben keine Wahl!“, brülle ich.

„Ich habe Höhenangst“, gibt er schließlich zu, er sieht sehr blass aus.

Ich nehme eine Hand und trete auf den Sims. Er hält einen Moment inne, Furcht steht in seinen Augen, aber er kommt.

„Schließ Deine Augen!“, brülle ich. „Vertrau mir!“

Und dann, als die Psychos nur noch wenige Meter entfernt sind, springen wir.

ACHTUN DZWANZIG

Als wir durch die Luft stürzen, schreiend, hoffe ich, dass ich mein Ziel genau treffe. Wir rasen so schnell auf den Erdboden zu, dass wir, wenn wir nicht treffen, sicher sterben werden.

Einen Moment später werden wir in eine Schneewolke eingehüllt, als wir direkt im Zentrum einer acht Meter-Schneebank landen. Logan hält immer noch meine Hand. Wir treffen mit rasender Geschwindigkeit auf und versinken darin, bis zum Boden, bis unsere Boden hart auf Zement treffen. Glücklicherweise ist der Schnee so dick, dass er den größten Teil unseres Aufpralls abdämpft. Als ich auf den Boden treffen, fühlt es sich an, als wäre ich nur ein paar Fuß tief gefallen.

Ich sitze am Boden, der Schnee stapelt sich hoch um uns herum, vollkommen in Schock. Sonnenlicht dringt durch den mehrere Fuß hohen Schnee über uns. Ich sitze dort, mir ist eiskalt, ich habe Angst, mich zu bewegen, aus dem Schneeberg herauszukrabbeln, herauszufinden, ob etwas gebrochen ist. Ich fühle mich, als wäre ich am Strand, begraben unter einem Sandhaufen.

Dann bewege ich langsam eine Hand, dann einen Arm, dann eine Schulter … Langsam ziehe ich mich heraus, befreie mich aus dem Loch, in dem ich bin. Es ist mühsam, aber langsam kann ich aus dem Schneehaufen hochkrabbeln. Ich stecke meinen Kopf heraus, wie ein Erdhörnchen aus einem Loch im Rasen. Als ich mich umdrehe, sehe ich, dass Logan dasselbe tut.

Ich recke meinen Nacken und schaue auf: Dort oben, weit weg, steht immer noch der Mob Psychos und schaut hinunter. Sie streiten miteinander, und es scheint, dass sie nicht bereit sind, so zu springen wie sie. Ich kann es ihnen nicht verübeln: Wenn ich mir die Höhe ansehe, bin ich erstaunt, dass ich selbst den Mut aufgebracht habe, diesen Sprung zu wagen. Wahrscheinlich würde ich es nicht noch einmal machen, wenn ich kurz innehalten würde und darüber nachdenken.

Ich stehe da, befreie mich aus der Schneebank, und Logan tut dasselbe. Ich bin komplett mit Schnee bedeckt und bürste ihn ab. Ich versuche ein paar Schritte, um zu sehen, ob etwas gebrochen ist. Meine Wade tut immer noch weh – schlimmer denn – aber davon abgesehen habe ich es erstaunlich intakt überlegt, nur einige wenige weitere Schmerzen und blaue Flecken.

Logan geht auch und ich bin erleichtert zu sehen, dass auch er sich nichts gebrochen hat. Und, was genauso wichtig ist, ich bin erleichtert, dass wir jetzt auf dieser Seite der Mauer sind. Die Wüste. Vielleicht bedeutet das einen langsamen Tod – aber zumindest sind wir für jetzt sicher.

Ich sehe mir den zerstörten, verlassenen University Place an: Alle Geschäfte sind ausgebrannt, einige bis auf die Grundmauern. Nichts und niemand ist hier. Wenn das Ödland chaotisch und gewalttätig war, ist es hier ganz ruhig. Friedlich. Und schließlich lasse ich zum ersten Mal seit langer Zeit meine Wachsamkeit fallen.

Aber ich weiß, das sollte ich nicht. Wenn dieser Teil der Stadt wirklich verstrahlt ist, ist er gefährlicher als alle anderen Orte zusammen. Jede Sekunde hier könnte uns kontaminieren. Und wer weiß, wer – oder was – in dieser Zone noch immer überlegt. Ich möchte ihn oder es ungerne treffen.

„Bewegung“, sagt Logan. Er folgt schon wieder den Busspuren, die direkt aus dem Bogen in der Wand kommen, und führen die University runter.

Wir gehen schnell die University herunter, blicken dabei immer wieder über unsere Schultern. Jetzt wünschte ich mehr denn je zuvor, ich hätte eine Waffe. Logan prüft gewohnheitsmäßig seinen Körper, und ich kann erkennen, dass er sich dasselbe wünscht. Unsere einzige Hoffnung ist jetzt, nur diesen Spuren zu folgen, Bree zu finden und dann so schnell wie möglich wieder hier rauszukommen.

 

Wir passieren die 10th Street, dann die 9th, dann die 8th, und dann ist rechts plötzlich eine offene Fläche. Ich schaue auf und bin erschrocken, als ich sehe, was einmal der Washington Square Park war. Ich erinnere mich an so viele Nächte hier, vor dem Krieg, als ich mit Freunden hier herumhing. Wir saßen einfach nur da und beobachteten die Skateboarder, die ihre Tricks auf der Zementplaza vorführten. Jetzt bin ich entsetzt, dass wirklich nichts mehr übrig ist. Der riesige Bogen, der seinen Eingang markierte, wurde umgestürzt und liegt auf dem Boden, mit Schnee bedeckt. Noch schlimmer, wo einst der Park war, ist jetzt nur noch ein großer Krater, der hunderte Meter tief in die Erde reicht. Er erstreckt sich soweit, wie man sehen kann. Es ist, als wäre ein ganzer Teil der Stadt einfach ausgestochen worden.

Logan muss sehen, wie ich den Krater anstarre.

„Hier ist die Bombe eingeschlagen“, erklärt er. „Die erste, die die Stadt getroffen hat“.

Ich kann es noch gar nicht glauben. Es sieht so aus wie der Grand Canyon. Ich kann sehen, wie die Bombe eingeschlagen ist, wie sie ausgestrahlt hat, wie die Fassaden der Gebäude in jeder Richtung weggeschmolzen ist. Alles, was ich einmal kannte, ist verschwunden. Jetzt sieht es so aus wie die Oberfläche des Mars.

„Gehen wir“, sagt Logan ungeduldig, und ich erkenne, dass der Anblick auch ihn verstört.

Die Busspuren gehen weiter die die University runter, bis zum Ende, dann links in die West 4th. Wir folgen ihnen, als sie das Village durchqueren und dann rechts in die Bowery abbiegen. Diese Avenue ist breiter, und auch hier ist alles verlassen. Es ist keine Seele in Sicht.

Ich sollte mich entspannter fühlen, aber seltsamerweise habe ich mehr Angst als je zuvor. Es ist zu ominös, zu ruhig. Alles, was ich höre, ist das Heulen des Windes. Der Schnee peitscht mir ins Gesicht. Aber ich kann nicht anders, als das Gefühl zu haben, dass mir jeden Moment etwas entgegenspringen könnte.

Aber nichts kommt. Stattdessen gehen wir und gehen wir, Block um Block, immer weiter downtown. Es ist, als würden wir eine große Wüste durchqueren, ohne Ende in Sicht. Und das, wie sich herausstellt, ist die wahre Gefahr dieser Zone. Die Entfernung. Die Kälte. Die Busspuren scheinen nie zu Ende zu gehen, und mit jedem Schritt wird mein Bein schlimmer und ich werde immer schwächer.

Langsam wird der späte Nachmittagshimmel, schwer von Gewitterwolken, dunkler. Als wir die riesige Straße überqueren, die ich einmal als Houston kannte, frage ich mich, wie viel weiter ich noch gehen kann.

Wenn Logan Recht hat, wenn sie Bree wirklich zum South Street Seaport bringen, dann haben wir noch einen weiten Weg vor uns. Mir ist schon schwindlig, benommen vor Hunger. Mein Bein fühlt sich fünf Mal so groß an und ironischerweise könnte dieser Marsch das Schlimmste von allem sein.

Irgendwie schaffe ich es weiter die Bowery hinunter. Wir wandern schweigend und wechseln kaum ein Wort miteinander. Dabei gibt es so viel, was ich ihm sagen will. Ich will ihm dafür danken, dass er mir das Leben gerettet hat. Dass er mich schon drei Mal an einem einzigen Tag gerettet hat. Und dass ich mich frage, ob das eine Schuld ist, die ich noch jemals zurückzahlen kann. Ich will ihm auch dafür danken, dass er sein Boot aufgegeben hat und mit mir gekommen ist. Ich denke daran, wie viel er für mich geopfert hat, und es überwältigt mich. Ich will ihn fragen, warum er es getan hat.

Ich bin von seinen kämpferischen Fähigkeiten beeindruckt. Logan erinnert mich daran, wie mein Vater in einer Schlacht gewesen sein muss – oder zumindest daran, wie ich ihn mir vorstelle. Ich beginne, mich zu fragen, wo Logan herkommt. Ob er von hier kommt. Ob er hier Familie hat. Oder irgendwo Familie hat, die noch am Leben ist. Ich will ihn auch fragen, wie es ihm mit mir geht. Ob er mich mag? Natürlich könnte ich ihn nie wirklich fragen. Aber trotzdem wundere ich mich. Hat er irgendwelche Gefühle für mich? Warum ist er nicht geflohen, als er die Möglichkeit dazu hatte? Warum hat er sein Leben aufs Spiel gesetzt, um mir zu folgen? Wenn ich darüber nachdenke, fühle ich mich schuldig. Ich habe ihn in Gefahr gebracht. Er könnte jetzt irgendwo in Sicherheit sein.

Und am dringendsten will ich wider Willen wissen, ob er eine Freundin hat. Oder jemals eine hatte. Sofort schelte ich mich, fühle mich illoyal Ben gegenüber, von dem ich schließlich gerade erst weg bin. Aber die beiden – Logan und Ben – sind einfach so verschieden. Sie sind wie zwei verschiedene Spezies. Ich denke über die Gefühle nach, die ich für Ben habe, und mir wird klar, dass sie immer noch dort sind, und immer noch ehrlich: Es gibt etwas an ihm, eine Empfindsamkeit, eine Verwundbarkeit, die ich wirklich mag. Wenn ich in Ben große, leidenden Augen sehe, ist da etwas, wozu ich eine Beziehung empfinde.

Aber wenn ich Logan ansehe, fühle ich mich auf eine ganz andere Art und Weise zu ihm hingezogen. Logan ist groß und stark und leise. Er ist nobel, ein Mann der Tag, und hat sich ganz eindeutig im Griff. Ein bisschen ist er ein Geheimnis für mich, und ich wünschte, ich wüsste mehr. Aber das mag ich.

Ich stelle fest, dass ich bestimmte Dinge an Ben wirklich mag und bestimmte andere, verschiedene, an Logan. Irgendwie scheinen meine Gefühle für die beiden nebeneinander zu existieren, vielleicht, weil sie so unterschiedlich sind, dass ich nicht das Gefühl habe, sie würden miteinander konkurrieren.

Ich erlaube mir selbst, mich in diesen Gedanken zu verlieren, während wir weiter wandern, direkt in den Schneesturm hinein. Es lenkt meinen Geist von dem Schmerz ab, vom Hunger und von der Kälte.

Die Straßen werden wieder schmaler, als wir ein kleines Viertel durchqueren, das ich einmal als Little Italy kannte. Ich erinnere mich, wie ich mit Papa herkam. Wir gingen bei einem der kleinen, überfüllten italienischen Restaurants voller Touristen essen. Jetzt ist nichts mehr davon übrig. Alle Schaufenster sind zerstört. Da ist nichts außer Müll. Leere.

Wir schleppen uns weiter, und das Gehen wird schwieriger, als der Schnee unsere Knie erreicht. Ich zähle inzwischen die Schritte, bete, dass wir ankommen. Wir erreichen eine andere breite Straße, auf dem verbogenen Schild steht „Delancey“. Ich sehe nach links, erwarte, die Williamsburg Bridge zu sehen.

Unglaublicherweise ist sie verschwunden.

Die riesige Brücke ist abgerissen, offensichtlich in einer Schlacht zerstört. Ihr Metalleingang ragt verdreht in den Himmel hinauf wie eine Art moderner Skulptur. All die Arbeit, die Gestaltung, alles – alles zerstört, und zwar wahrscheinlich innerhalb von wenigen Augenblick. Wofür? Für nichts.

Ich sehe angewidert weg.

Wir gehen weiter ins Stadtzentrum, überqueren die Delancey. Nach einigen weiteren Blöcke stoßen wir auf die Canal Street, eine Hauptstraße, und ich habe fast Angst, nach der Manhattan Bridge zu schauen. Ich zwinge mich. Ich wünschte, ich hätte es nicht getan. Wie die Williamsburg ist diese Brücke zerstört, nichts als Metallstücke sind übrig, verdreht und abgerissen. Über dem Fluss klafft eine riesige Öffnung.

Wir treiben uns weiter, meine Füße und Hände sind so gefroren, dass ich anfange, mich zu fragen, ob ich Erfrierungen habe. Wir durchqueren, was einst Chinatown war, mit seinen höheren Gebäuden und engen Gassen. Jetzt ist es nicht mehr erkennbar. Wie jedes andere Viertel ist es einfach nur ein verlassener Haufen Schutt.

Die Bowery dreht sich nach rechts, wird zur Park Row. Ich atme schwer, als wir ein paar weitere Blocks schaffen und schließlich zu einer großen Kreuzung kommen. Ich halte an und starre in Ehrfurcht.

Zu meiner rechten liegen die Reste dessen, was einmal die City Hall war: Jetzt eine Ruine, ein Haufen Schutt. Es ist schrecklich. Dieses unglaubliche Gebäude, einst so großartig, ist jetzt nur noch eine Erinnerung.

Ich habe Angst, mich umzudrehen und zur Brooklyn Bridge hinter mir zu schauen – diesem wundervollen Kunstwerk, über das ich an warmen Sommertagen so gerne mit Bree gegangen bin. Ich bete, dass sie noch da ist, wenigstens etwas Schönes geblieben ist. Ich schließe meine Augen und drehe mich langsam um.

Ich bin entsetzt. Wie die beiden anderen Brücken ist sie zerstört. Nichts ist übrig, nicht einmal die Grundpfeiler. Nur eine riesige Lücke über dem Fluss. Nur einige riesige Haufen aus verdrehtem Metall ragen aus dem Wasser.

Und, was noch erschreckender ist, aus der Mitte des Flusses ragen in einem schiefen Winkel die Reste eines riesigen Militärflugzeuges hoch, halb eingetaucht, sein Schwanz zeigt nach oben. Es sieht aus, als wäre es mit der Nase zuerst eingetaucht und nicht mehr hochgekommen. Es ist schockieren, so ein riesiges Flugzeug da aus dem Wasser ragen zu sehen, als hätte ein Kind sein Spielzeug in eine Badewanne geworfen und sich nie die Mühe gemacht, es wieder herauszunehmen.

Jetzt ist es dunkler, fast Dämmerung, und ich kann nicht mehr weiter gehen. Erstaunlicherweise können der Wind und der Schnee nur immer noch stärker werden. Der Schnee geht mir schon über die Knie, und ich fühle mich, als würde ich bei lebendigem Leib verschlungen werden. Ich weiß, dass der Seehafen nicht mehr weit ist, aber jeder Schritt ist zu schmerzhaft.

Ich lege eine Hand auf Logans Schulter. Überrascht sieht er mich an.

„Mein Bein“, sage ich, durch zusammengebissene Zähne hindurch. „Ich kann nicht mehr gehen.“

„Leg einen Arm über meine Schulter“, sagt er.

Das mache ich, und er lehnt sich herüber, legt eine Hand hinter meinen Rücken, hält mich gerade und aufrecht.

Wir gehen gemeinsam, und der Schmerz lässt nach. Es ist mir peinlich, ich bin gehemmt: Ich wollte nie von einem Mann abhängig sein. Oder von irgendjemandem. Aber jetzt brauche ich das wirklich.

Wir biegen links ab, gehen unter einer Rampe durch, die einmal zur Brücke führte, und dann rechts auf das, was einmal die Pearl Street war. Es ist gespenstisch. Nach diesem ganzen Weg sind wir schließlich in dem Stadtviertel angekommen, in dem ich aufgewachsen bin. Es ist so komisch, wieder hier zu sein. An dem Tag, als ich gegangen bin, habe ich geschworen, nie wiederzukommen. Nie. Ich war sicher, dass Manhattan zerstört werden würde und mir nie vorgestellt, dass ich es noch einmal wiedersehen würde.

Wieder hier durchzugehen, durch diese schmalen Kopfsteinpflastergassen, diesen alten historischen Stadtteil, der einst voller Touristen war, mit allem, was ich kannte, ist das Schmerzhafteste von allem. Die Erinnerungen kommen zurück, überall sind Orte, an denen Bree und ich gespielt haben. Erinnerungen an meine Zeit mit Mama und Papa hier. Als wir tatsächlich glücklich miteinander waren.

Unsere Wohnung befand sich im Einkaufsviertel über einem der Läden in einem kleinen, historischen Gebäude. Als ich aufgewachsen bin, habe ich das gehasst. All diese nervigen Samstagabende, wenn das Nachtleben nie zu enden schien, wenn die Leute bis fünf Uhr morgens unter meinem Fenster standen, quatschten und rauchten. Was für ich jetzt für dieses Geräusch, diese Aktivität geben. Ich würde alles dafür geben, einfach auf die andere Straßenseite in ein Café gehen und Frühstück bestellen zu können. Von dem Gedanken bekomme ich entsetzlichen Hunger.

Wie das Schicksal so spielt, biegen wir in die Water Street ab – genau der Block, in dem ich lebte. Mein Herz flattert, als ich erkenne, dass wir direkt an meinem Apartment vorbeigehen werden. Ich frage mich, ob Papa heruntersieht, mich führt. Oder vielleicht ist es Mama, wenn sie tot ist. Vielleicht ist sie diejenige, die heruntersieht. Oder vielleicht scheltet sie mich. Macht mir Vorwürfe. Immerhin ist dies der Ort, an dem ich sie aufgegeben habe, vor all diesen Jahren. Sie hätte mit mir kommen können. Aber sie wollte nicht gehen. Und ich wusste das. Dennoch habe ich das Gefühl, ich habe getan, was ich damals tun musste – für mich, und vor allem für Bree. Was hätte ich sonst tun sollen? Mit ihr hier sitzen bleiben und auf unseren Tod warten?

Dennoch kann ich nicht anders, als die Ironie in allem zu erkennen, nach allen Wendungen, die unser Leben seitdem genommen hat. Ich bin mit Bree in die Sicherheit geflohen, aber nun ist sie entführt und genau hier, wo wir angefangen haben. Und wahrscheinlich bekomme ich sie nie mehr zurück. Und so, wie ich mich im Moment fühle, kann ich mir nicht vorstellen, selbst noch mehr als ein paar Stunden zu überleben. Was hat uns also unsere Abreise trotz allem geholfen? Wenn ich einfach hiergeblieben wäre, bei Mama, wären wir wenigstens alle zusammen gestorben, in Frieden. Nicht den langsamen, qualvollen Tod durch Verhungern. Vielleicht hatte Mama die ganze Zeit Recht.

 

Wir gehen auf das Apartmentgebäude zu und ich reiße mich zusammen, frage mich, wie es aussehen wird. Ich weiß, dass es lächerlich ist, aber ein Teil von mir fragt sich, ob Mama immer noch da ist, in einem Fenster sitzt. Wartet.

Mein ehemaliges Haus ist nur noch ein Haufen Schutt, mit Schnee bedeckt. Hohe Unkräuter wachsen zwischen den Steinen hervor, und es sieht aus, als wäre es schon vor langer Zeit zusammengebrochen. Ich fühle mich, als hätte mich jemand in den Bauch getreten. Mein Zuhause ist weg. Mama ist wirklich weg.

„Was ist los?“, fragt Logan.

Ich habe angehalten. Ich stehe dort und starre die Haufen Schutt an. Ich senke den Kopf, greife nach seiner Schulter und gehe weiter.

„Nichts“, antworte ich.

Wir dringen weiter in das Herz des Einkaufsviertels von South Street Seaport ein. Ich erinnere mich, wie ich dort sah, mit das glänzende Kopfsteinpflaster ansah, all die teuren Läden, als wäre ich am kostbarsten Ort der Welt. Ein Ort, der sich unmöglich verändern könnte. Nun sehe ich nichts als Verwüstung. Es gibt nicht einmal mehr Schilder oder Hinweise, an denen man erkennen könnte, was einmal wo war.

Wir biegen links in die Fulton ab und in der Ferne entdecke ich das Wasser. Es ist jetzt Dämmerung, dicke graue Wolken ziehen am Horizont auf, und schließlich empfinde ich etwas Hoffnung, als ich das Wasser nur noch wenige Blocks entfernt sehe. Die Busspuren biegen in diese Straße ab, enden am Pier. Wir haben es geschafft.

Wir gehen schneller, ein Adrenalinschub durchfährt mich, als ich mich frage, ob Bree noch dort sein könnte, am Pier. Unbewusst taste ich meinen Gürtel nach Waffen ab, bevor mir wieder einfällt, dass ich keine mehr habe. Egal. Wenn sie dort ist, werde ich einen Weg finden, sie zurückzubekommen.

Wir gehen auf den Holzpier des Seehafens hinaus, auf dem es nur so vor Touristen wimmelte. Jetzt ist er verlassen. Die großen, historischen Segelschiffe sind immer noch da, schaukeln im Wasser – aber sie sind nur noch verfaulende Wracks. Am Ende des Piers sehe ich den Bus. Ich eile darauf zu, mein Herz klopft, ich hoffe, dass Bree aus irgendeinem Grund noch dort ist.

Aber natürlich ist der Bus schon vor langer Zeit ausgeladen worden. Ich erreiche die Seite des Busses, er ist leer. Im Schnee sehe ich die Spuren, wo die Mädchen ausgeladen wurden, die Rampe zu einem Boot hinuntergeführt. Ich sehe ins Wasser hinaus und in der Ferne entdecke ich eine große, rostige Barkasse, vielleicht eine halbe Meile weit weg, an Governor's Island angedockt. Die Reihe Mädchen wird drüben gerade entladen. Bree ist dabei. Ich kann es fühlen.

Ich empfinde eine neue Entschlossenheit. Aber auch Hoffnungslosigkeit. Wir haben das Boot verpasst. Wir sind zu spät.

„Am Morgen fährt ein weiteres Boot“, sagt Logan. „Bei Sonnenaufgang. Immer, jeden Tag. Wir müssen nur warten. Und einen Unterschlupf für die Nacht finden.“

Wenn Ihr es durch die Nacht schafft“, kommt eine seltsame Stimme von hinter uns.

Wir wirbeln herum.

Dort steht etwa zehn Meter entfernt eine Gruppe von einem Dutzend Leuten, in gelbe Militäranzüge gekleidet. In ihrer Mitte steht eine Person, die wie ihr Anführer aussieht. Sein Gesicht ist geschmolzen, verformt, wie die Gesichter der anderen. Er sieht sogar noch schlimmer aus als die Bioopfer, falls das möglich ist. Vielleicht kommt es davon, dass sie in dieser verstrahlten Zone leben.

Irgendwie müssen sie es geschafft haben, sich anzuschleichen. Wir sind in der Unterzahl und wir haben nichts, um es mit den Waffen in ihren Gürteln und ihren Händen  Wir haben keine Chance.

„Ihr seid jetzt in unserem Gebiet“, fährt er fort. „Warum sollten wir Euch nicht selbst töten?“

„Bitte“, flehe ich. „Die Sklaventreiber haben meine Schwester entführt. Ich muss sie zurückholen.“

„Wir mögen die Sklaventreiber genauso wenig wie Ihr. Sie fahren mit ihren Bussen hier durch, als wäre es ihr Gebiet. ES IST MEIN GEBIET!“, kreischt her, sein Gesicht verzerrt sich noch mehr, seine Augen treten heraus. „HÖRST DU MICH? MEINS!“

Ich zucke beim Klang seiner Stimme zusammen, sie ist so verzerrt vor Wut. Ich bin benommen vor Erschöpfung und vor Schmerz, ich kann kaum noch stehen.

Er geht einen Schritt auf uns zu und ich mache mich auf einen Angriff gefasst. Aber bevor ich den Gedanken auch nur zuende führen kann, fängt meine Welt an, sich zu drehen. Sie dreht sich wieder und wieder und ich falle.

Und dann ist alles schwarz.