Empathie

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Aus der Reihe: Dein Leben
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Empathie
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Monika Hein

EMPATHIE

Ich weiß, was du fühlst

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten

sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

ISBN Buchausgabe: 978-3-86936-831-3

ISBN epub: 978-3-95623-699-0

Lektorat: Ulrike Hollmann, Hambergen

Umschlaggestaltung: Martin Zech Design, Bremen | www.martinzech.de

Autorinnenfoto: Ingo Fiß

Satz und Layout: Das Herstellungsbüro, Hamburg | www.buch-herstellungsbuero.de

© 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Das E-Book basiert auf dem 2018 erschienenen Buchtitel "Empathie" von

Monika Hein, © 2018 GABAL Verlag GmbH, Offenbach

Alle Rechte vorbehalten. Vervielfältigung, auch auszugsweise,

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Inhalt

Vorwort

1. Empathie – eine Kartierung des Mitfühlens

Die innere Landkarte

Eine Reise nach Sri Lanka

Was ist Empathie?

Empathie in der Forschung

Der empathische Blick auf die Welt

Selbstempathie

Empathie mit anderen – Herz oder Kopf?

Gefühle und ihre Konsequenzen

Können Gefühle denken?

Was weiß der Körper?

Risiken und Nebenwirkungen von Empathie

2. Die versperrte Sicht: zehn Empathie-Blocker

Das tägliche Kopfkino

Egoist oder Narzisst?

Die ständige Suche nach dem Glück

Der Fluch des ewigen Zweifels

Die Sekunde des Verurteilens

Die Lüge des Vergleichs

Der Wunsch nach Perfektion

Misstrauen und Eifersucht

Sprechen tilgt Empathie

Was der Bauer nicht kennt, frisst er nicht: ein Leben in der Komfortzone

3. Den Blick öffnen: zehn Empathie-Booster

Das Innehalten

Der magische Moment

Der Gedanke ändert die Richtung

Verzeihen

Verletzlich sein

Empathisch sehen

Empathisch hören

Empathisch sprechen

Empathisch schreiben

Empathisch lieben

Die empathische Revolution

Anhang

Dank

Literatur

Die Autorin

Für Marleen

Vorwort

Es war im Sommer 2016, als ich bei einem Meditationsprogramm, das ich jährlich in Darry, in der Nähe von Kiel, abhalte, einer ganz besonderen Dame begegnet bin. Mit einem wunderbaren Lächeln im Gesicht erkundigte sie sich nach meinem etwas angeschlagenen Hals, unter dem ich nun schon über einige Jahre gelitten hatte. Nach Abschluss des mehrtägigen Programms verabschiedete sie sich mit ihrem etwas älteren Hund von mir und vergaß nicht, meine Kontaktdaten über eine sehr enge Freundin einzuholen.

Das nächste Mal begegnete ich ihr beim Festival »Yoga. Wasser. Klang.« in Hamburg, wo sie mir eine ganz wunderbare Nachricht überbrachte. Sie hatte für mich einen Termin bei einer der besten europäischen Kliniken, der Hamburger Stimmklinik, vereinbart.

Diese Begegnungen haben mir einiges über diese Dame gezeigt. Sie verfügt über einen feinen Geist und kann sich sehr gut in die Menschen einfühlen. Sie ist eine Mutter und eine sehr intelligente, junge und kreative Dame, die ihre akademische Ausbildung mit einem Doktorat abgeschlossen hat. Ich spreche natürlich von Dr. Monika Hein, der Autorin dieses Buches.

Das Wort »Empathie« wird oft unterschiedlich interpretiert. Im Buddhismus verwenden wir die Pali-Begriffe »anukampa« und »sahanukampa«. Diese beiden Begriffe beschreiben den Wunsch, das Leiden und die Schmerzen anderer zu beseitigen.

Ich reise jedes Jahr um die Welt und begegne vielen Menschen mit verschiedenen gesellschaftlichen Hintergründen. Ich habe entdeckt, wie wichtig es ist, die Menschen zu verstehen, mit denen man in Kontakt steht. Die meisten Probleme in unserem Leben entstehen aus Fehlwahrnehmungen und Missverständnissen. Wir sollten keine voreiligen Schlüsse ziehen oder zu schnell entscheiden oder urteilen. Wir brauchen Zeit und Erfahrungen, um uns ein Bild von der Situation oder der Person zu machen.

Um Beziehungen zu erhalten, ist Kommunikation von höchster Wichtigkeit. Hierbei ist die Art der Kommunikation oft weniger wichtig als das Ziel und die Methodik der Kommunikation. Zuallererst sollten wir ein klares Verständnis dafür entwickeln, was wir eigentlich ausdrücken möchten, bevor wir beginnen zu kommunizieren. Dafür benötigen wir Empathie. Bevor ich etwas sage, muss ich den anderen fühlen können.

Empathie kann auf zwei Weisen gesehen werden. Grundlegend bezeichnet der Begriff einerseits die Fähigkeit, die Gefühle und Erfahrungen anderer zu verstehen. Andererseits ist auch die Selbstempathie von Bedeutung, die uns dazu auffordert, uns selbst gegenüber aufmerksam zu sein, bevor wir Schlussfolgerungen über andere treffen.

Jeder Mensch hat ein Ziel im Leben. Die Herangehensweise, um dieses Ziel zu erreichen, mag sich von der anderer Menschen unterscheiden. Allerdings streben alle Menschen im Leben nach Glück, das wir auf irgendeine Weise erlangen wollen. Dies ist allen Wesen gemein. Wir sollten zuerst achtsam und aufmerksam unserem eigenen Leben gegenüber sein, um unser Glück erreichen zu können. Daher sollten wir uns als Erstes selbst verstehen. Das hat nichts mit Egoismus zu tun, sondern mit einem tieferen Verständnis unseres Lebenszwecks, nämlich glücklich zu leben. Wir sind dann motivierter, auch anderen zu helfen und ihnen ein Verständnis der Dinge zu ermöglichen. Auf diese Weise werden wir andere nicht verurteilen, sondern wir können uns in sie einfühlen.

Grundlegend für unser Lebensglück ist der Zustand unseres Geistes. Dieser verändert sich oft in wenigen Sekunden, genauso wie der Himmel, der sich plötzlich zuzieht. Die Ursache liegt einerseits in zuvor gefestigten Mustern, andererseits in unvorhergesehenen Begegnungen.

In der buddhistischen Lehre verändert sich unser Geist in drei Stufen vom Normalzustand ins Aggressive:

1. Anusaya: In diesem Zustand ist der Geist frei von Agitation. Alle Gedanken schlafen. Von außen ist keine Bewegung wahrzunehmen.

2. Pariyuttana: Dies ist der Zustand des Geistes, wenn er die Stille durchbricht, sobald ein Gedanke auftaucht. Dies ist eine sehr subtile aggressive Bewegung im Geist.

 

3. Veethikkama: Hier entstehen bekümmerte Gedanken, die sich durch Worte und Handlungen Ausdruck verschaffen. Gewaltsames Verhalten und grobe, verletzende Rede kennzeichnen diesen Zustand.

Es ist klar, dass wir in jedem Moment unseres Wachbewusstseins in einem dieser drei Zustände verweilen. Wenn wir uns darüber bewusst sind, in welchem der drei Zustände wir uns befinden, können wir darüber nachdenken, wie viel Zeit und Raum wir uns geben, um etwas zu verstehen.

In der Gesellschaft müssen wir uns mit unseren Mitbürgern auseinandersetzen. Das Leben eines Kindes mit seinen Eltern entwickelt sich graduell entsprechend der Teilnahme an der allgemeinen Gesellschaft. In all diesen Beziehungen haben wir eine Rolle zu erfüllen, die uns als eine Art Pflicht auferlegt ist. Solange wir dem nicht gerecht werden, werden wir den Lohn nicht ernten können.

Empathie bedeutet die feine Aufmerksamkeit unseres Geistes, die dazu fähig ist, diese menschlichen Beziehungen zu verstehen. Als nicht erleuchtete Wesen ist es uns unmöglich, jemanden völlig zu verstehen, da der Mensch ein dynamisches und kein statisches Phänomen ist. Das bedeutet, dass jeder Mensch in jedem Moment dem Wandel unterliegt. Allerdings bemerken wir nur die Veränderung der anderen, nicht jedoch unsere eigene. Dies resultiert darin, dass wir uns von der Veränderung des anderen verletzt fühlen und daher den Kontakt zu ihm vermeiden oder ganz abbrechen.

Solange wir nicht diese Natur des konstanten Wandels verstehen, wird es uns schwerfallen, gesunde menschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten. Ein Verständnis für die unterschiedlichen Charaktere der Menschen zu entwickeln, hilft uns, wirklich zu verstehen. Jeder Mensch besitzt seinen höchsteigenen Charakter. Wenn wir dies etwas besser verstehen, können wir die Lösung zu vielen Problemen finden. Um zu erkennen, dass wir nicht von allen das Gleiche erwarten können, ist Empathie unerlässlich.

Durch die zunehmende Bewertung menschlicher Beziehungen nach monetären oder diversen gesellschaftlichen Maßstäben scheint die Intimität in verschiedenen sozialen Kontexten verschwunden zu sein. Enge Freundschaften jedoch bauen auf dem Miteinander auf, und eine Umarmung ist bedeutsamer als Geld, um die Beziehung zu stärken. Niemand auf diesem Planeten ist perfekt oder frei von Fehlern und Schwächen. Man kann niemanden für immer als Verbrecher verurteilen, nur weil er Fehler und Schwächen hat. Wir Menschen haben ein Bedürfnis, diese Fehler und Schwächen zu bestrafen. Strafen werden aus drei Gründen gegeben:

1. als Vergeltung,

2. um ein Exempel in der Gesellschaft zu setzen oder

3. um den Missetäter vor weiteren Fehlern zu bewahren und ihm den richtigen Weg zu weisen.

Hier ist die dritte Intention die richtige. Wenn jemand, den man liebt, einen Fehler macht, sollte man ihm Liebe und Mitgefühl entgegenbringen. Vergeltung zu üben, führt nur zu Hass und Zorn, und die zweite Variante führt zu Unfairness.

Dr. Monikas Ansatz schöpft aus einer anderen Herangehensweise, nämlich den Menschen Einsichten zu vermitteln, um geschwächte Beziehungen wieder zu stärken. In den Gesprächen mit ihr habe ich ihr meine Erfahrungen geschildert, und wir stimmten darin überein, dass Vorwürfe anstelle von Verhandlungen und Beschwerden anstelle von Erklärungen nur zu Missverständnissen und damit zur unnötigen Schwächung von Beziehungen führen.

Dr. Monika Hein verfügt über einen breiten sozialen Erfahrungsschatz. Ihr unermüdlicher Einsatz ist lobenswert und ich wünsche ihr jeden Erfolg für all ihre Vorhaben.

Venerable Dangala Kusalagnana thissa thero,

buddhistischer Mönch

Übersetzung: Martin Laschkolnig und Monika Hein

1. Empathie – eine Kartierung des Mitfühlens

Empathie ist zunächst einmal ein schönes Wort: Warmherzig und angenehm stellen wir uns empathische Menschen vor. Wir baden gerne in der Wanne der Empathie: Alle haben sich lieb und sind gut zueinander. Dazu ein Räucherstäbchen, Erdbeertee, eine Meditationsmusik und alles wird fein.

Es ist allerdings auch etwas vage, was genau wir mit diesem Begriff meinen: Freundlichkeit? Nett sein? Sensibel, spirituell, weich sein? Friedlich sein? Das alles mag zutreffen, doch Empathie ist darüber hinaus noch viel mehr. Sie ist mühsam, umständlich, manchmal anstrengend. Sie fordert uns emotional und intellektuell heraus und will mehr von uns, als wir manchmal zu geben bereit sind. Oftmals ist sie nicht die erste Idee, die uns in den Sinn kommt, und sie hinterfragt uns. Lässt uns Risiken eingehen, öffnet unser Herz und macht uns verletzlich. Sie kann unser Leben radikal verändern und die Welt zu einem besseren Ort machen. Und sie fordert uns heraus, Gefühle genauer anzuschauen, sie anzunehmen, mit ihnen umzugehen. Zur Empathie gibt es keine Alternative.

Warum sehnen wir uns so sehr nach Empathie und Mitgefühl? Warum ist die Frage nach der Empathie ein so populäres Thema geworden, und warum haben wir den Eindruck, dass sie besonders heutzutage so wichtig ist?

Wirft man einen Blick auf die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, dann scheint sie tatsächlich gerade Mangelware zu sein. Die Welt versinkt in einem Chaos, es werden innere und äußere Mauern gebaut, wir trennen uns voneinander, werden zu »wir« und »die anderen«. Kaum jemand scheint sich für die Gefühle des anderen zu interessieren.

Gefühle

Gefühle sind überall. Ganz egal, in welchem Umfeld wir arbeiten, leben, lieben und wirken, wir empfinden sie, sprechen sie aus, durchleben sie, genießen sie, erdulden sie. Manchmal sind sie nur schwer auszuhalten. Sie diktieren in der Regel unser Tun, beeinflussen unsere Stimmung und prägen die Beziehungen zu anderen. Und nicht selten sind sie auch schnell wieder verschwunden. Gefühle sind wie spontane Besucher. Wir können sie einladen, länger zu bleiben, oder wir können sie gehen lassen.

Wir sprechen in diesem Buch nicht nur über die eigenen Gefühle, sondern auch und gerade über die Gefühle anderer Menschen. Auch sie wirken auf uns, ob wir das wollen oder nicht. Leid und Freude, Trauer und Glück – sie sind sichtbar, spürbar, greifbar und prägen die Stimmung, die Atmosphäre. Überall, wo Menschen zusammenkommen, haben wir es mit vielen verschiedenen Gefühlen zu tun. Es liegt an uns, wie wir mit ihnen verfahren: Lassen wir uns auf sie ein, geben wir diesen Gefühlen der anderen Raum? Lassen wir uns beeinflussen, berühren, oder schauen wir einfach interessiert zu, aus einer sicheren Distanz? Wie nah kommen wir den Gefühlen anderer? Wie nah möchten wir ihnen überhaupt kommen?

Diese Fragen führen uns zwangsläufig zum Thema Mitgefühl. Dabei geht es um die Kunst, mit anderen Menschen zu fühlen, sich in sie hineinzuversetzen, in anderen Schuhen zu stehen oder sogar darin zu laufen. Gleichzeitig gilt es, unsere eigenen Gefühle wahrzunehmen und in gleichem Maß anzuerkennen.

Wenn alles gut ist, wenn wir uns verstehen, fühlen wir uns wohl miteinander. Dann wird im direkten Kontakt auch kein Ruf nach mehr Empathie laut, richtig? Denn wo die Beziehungsebene stabil steht, da, wo wir uns einig sind, da sind wir meistens empathisch, zumindest fühlt es sich so an. Wenn wir es mal nicht sind, können wir es einander leichter verzeihen. Oder entspringt dieses Verzeihen nicht unserer Empathie, sondern »nur« unserer Sympathie füreinander? Der Tatsache, dass wir uns gegenseitig spiegeln, uns ähnlich sind und einander in dem bestätigen, wie wir nun mal sind?

Wenn Menschen dagegen in größerer Distanz von uns leben, fällt es uns schwerer, uns in sie einzufühlen. Denn: Je fremder Menschen sind, desto weniger kümmert es uns, wie es ihnen geht. Jeannette Hagen beschreibt in ihrem Buch »Die leblose Gesellschaft«, wie uns Kriegsszenarien, Bilder von Flüchtlingen, schreckliche Zustände, hungernde Kinder auf der Flucht immer weniger betreffen. Wie wir einfach unserem Alltag nachgehen, den Fernseher ausschalten und gemütlich schlafen gehen, als ob es all diese Dramen auf der Welt, quasi vor unserer Haustür, nicht gäbe.

In der Tat: Würden wir uns in jedem Moment betreffen lassen von all dem Leid auf der Welt, würden wir unseres Lebens nicht mehr froh, könnten dem Alltag nicht mehr standhalten.

Bei der Fülle an Dramen, die wir täglich medial serviert bekommen, ist es klar, dass wir im Geiste immer mehr abstumpfen, völlig überfordert sind von so viel Leid. Dann sinkt die Bereitschaft oder sogar die Kapazität für Empathie: Wir machen uns keine Gedanken über diese Nachrichten, schieben sie weit weg, irgendwohin, wo sie uns möglichst nicht stören oder wehtun. Denn es scheinen so viele zu sein, dass sie uns zu erdrücken drohen.

Doch auch im Kleinen werden wir immer verschlossener für die Gefühle anderer. Es muss sich gar nicht um einen Krieg oder eine große Not handeln, es reicht schon, wenn zwei Menschen den gleichen Parkplatz ansteuern: Empathie fehlt an vielen Ecken und Enden, schon in scheinbar unspektakulären Momenten unseres Lebens können wir üben, empathischer zu leben.

Mitgefühl üben

Wie können wir uns in andere einfühlen und trotzdem weiter glücklich sein? Wie können wir Gleichgültigkeit gegenüber fremdem Leid vermeiden und gleichzeitig dankbar unser Leben leben? Es wiederholt sich zigmal am Tag, in den unterschiedlichsten Kontexten, im Privatleben, in Unternehmen, in der Erziehung, unter Freunden, in der Politik, im täglichen Umgang zwischen Menschen – überall blitzen Gefühle und Befindlichkeiten auf. Es geht gar nicht ohne. Das betrifft größere, öffentliche Situationen, emotionale und wichtige Vorgänge, aber auch ganz kleine, private, scheinbar unwichtige Momente, die in ihrer Gesamtheit viel wiegen und letztlich etwas auslösen, was das Leben schwerer oder leichter macht.

Schauen wir einmal auf diese kleinen Situationen, in denen wir üben können. Jeder scheinbar noch so unbedeutende Akt des Mitgefühls ist wertvoll, er zählt. Hier können wir starten: Wir können Mikro-Empathie leben. Sie werden sehen: Jedes Mal, wenn wir es in diesen kleinen Momenten schaffen, empathisch zu sein, zaubern wir uns selbst und anderen ein Lächeln auf die Lippen. Ich glaube fest daran, dass wir schon auf diese Weise die Welt verändern können.

Beispiel 1: Empathie in der Ausbildung

Mit 21 Jahren ging ich nach Hamburg, um Musical zu studieren. Es gab eine Schauspielstunde, die ich niemals vergessen werde, denn sie hat mich bis heute geprägt. Es ging um eine einfache Übung: »Erzählt den Verlauf eures Morgens, vom Aufwachen bis zu dieser Stunde hier«, so die Anweisung des Schauspiellehrers.

Ein Musicalschüler nach dem anderen betritt die Bühne und fängt an zu erzählen. Irgendwann bin ich an der Reihe. Nervös berichte ich von meinem Frühstück, meiner Busfahrt in die Innenstadt, meinem Fußweg zur Schule und meinem Ankommen. Als ich fertig bin, sagt der Lehrer, zur Klasse gewandt: »Seht ihr, so kann es gehen. Da ist ein Mensch mit einer gewissen Ausstrahlung, wir schauen ganz gerne hin. Und dann geht dieser Mensch auf die Bühne – und alles ist weg.«

In mir bricht in diesem Moment eine kleine Welt zusammen. Meine Ausstrahlung ist also weg, sobald ich eine Bühne betrete. Das wurde mein Glaubenssatz. Bis zu meinen beruflichen Anfängen als Rednerin plagte ich mich mit dieser Überzeugung herum. Heute weiß ich, dass an diesem Satz nichts stimmt. Dass an diesem Satz gar nichts stimmen kann, denn dieser Lehrer hatte bewertet, geurteilt, ohne auch nur einen Funken Gefühl dafür zu haben, was eine junge Frau dabei empfinden könnte, wenn sie so etwas über sich hört. Wusste er nicht, wie es sich anfühlt, vorgeführt und abgewertet zu werden?

Wie sollen junge Menschen wachsen, wenn man sie kleinmacht? Wie sollen Menschen sich öffnen, wenn ihnen dauernd der Mangel zugesprochen wird? Das ist mir bis heute ein großes Rätsel. Doch dieses Rätseln hat mich als Dozentin geprägt. Insofern könnte ich diesem Lehrer im Grunde auch dankbar sein, denn er hat mir unbewusst einen Wert vermittelt, der meine Lehre bereichert. Ich habe damals gelernt: Empathie hat auch mit Macht und Status zu tun. Je mehr Macht Menschen haben, desto weniger machen sie sich oft die Mühe, sich in Schutzbedürftige einzufühlen. Gerade die Bühne erfordert, dass Menschen sich öffnen, Vertrauen fassen, sich zeigen. Da kann so ein destruktiver Kommentar alle Türen mit einem Mal zuschlagen.

Rückblickend kann ich sagen: An dieser Ausbildungsstätte waren zu jener Zeit viele Lehrer tätig, die genau diesen Stil beim Unterrichten verfolgten: erst kleinmachen, dann wieder aufbauen, nach ihrem eigenen Bild. Das kann natürlich funktionieren – bei Menschen mit einem starken Selbstwert, einer großen Portion Ehrgeiz und dem starken Willen, gegen diese Angriffe anzukämpfen und mit ihrer Hilfe noch besser zu werden. Die fühlen sich ggf. noch angespornt, wenn sie niedergemacht werden. Bei Menschen, die auch nur den geringsten Zweifel an sich selbst in sich tragen, ist diese Art des Umgangs Gift für die Seele.