Roter Mond

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Die gesellschaftliche Einstellung zur Menstruation

Jahrhundertelang war der menstruelle Zyklus der Frau etwas, dem man geradezu Abscheu und Verachtung entgegenbrachte. Er galt als schmutzig, als ein Zeichen der Sünde, und seine Existenz verfestigte die untergeordnete Position der Frau in einer von Männern dominierten Gesellschaft. Noch heute betrachtet man die Menstruation als einen biologischen Nachteil, der aus Frauen emotional reagierende, unvernünftige und unzuverlässige Arbeitskräfte macht. In unserer westlichen Industriegesellschaft, die sich so gerne für »aufgeklärt« hält, spricht man nach wie vor nur selten offen über den menstruellen Zyklus, und dann meist nur in medizinischen Fachbegriffen. Hier existiert eine Barriere zwischen Müttern und Töchtern, Frauen und Männern, Schwestern und Freundinnen oder Freunden. Viele Frauen hassen sich ihr Leben lang und fühlen sich schuldig, weil sie zu gewissen Zeiten im Monat deprimiert und reizbar sind und sich aufgebläht und ungelenk fühlen. Wie viele Frauen haben diesen Hass und diese Angst entweder verbal oder durch ihr Verhalten an ihre Töchter weitergegeben? Für wie viele Frauen war ihre erste Periode ein schreckliches Erlebnis, weil sie nichts darüber wussten oder bestenfalls mit einigen wenigen medizinischen Details vertraut waren, die ihnen in keiner Weise ihre Gefühle zu erklären vermochten? Wie viele Mädchen hatten in unserer modernen Gesellschaft, die über keine Initiationsriten mehr verfügt, das Gefühl, das Geschenk des Frauseins erhalten zu haben, und bekamen Anleitungen, wie sie diese Erfahrung zu ihrer Weiterentwicklung nutzen können? Wenn Frauen ihre menstruelle Erfahrung wieder als Geschenk verstehen und in einem positiven Licht betrachten können, werden sie auch ihre Töchter wieder dahin führen können, dass sie ihr Frausein und die damit verbundenen Zyklen willkommen heißen können.

Viele Frauen leiden während ihrer Menstruation sowohl mental wie auch physisch, und meist bekämpfen die angebotenen Hilfsmittel nur die Symptome. An der zugrunde liegenden Ursache, nämlich an ihrem Frausein, kann ganz offensichtlich nichts geändert werden. Zwar wird in unserer Gesellschaft allmählich die Existenz des prämenstruellen Syndroms akzeptiert, aber in seinen Auswirkungen wird es nach wie vor als negativ und destruktiv bewertet. Wir Frauen mussten sehr hart darum kämpfen, dass die Gesellschaft, Medizin und Jurisprudenz die Tatsache anerkennt, dass Frauen einen mit ihrer Menstruation zusammenhängenden veränderten Bewusstseinszustand durchmachen, es aber keine Strukturen oder Traditionen mehr gibt, die ihnen helfen, diesen Bewusstseinszustand in positiver Weise zu verstehen und zu nutzen.

Menstruell aktive Frauen sind von Natur aus einem Zyklus unterworfen, doch angesichts einer in Bezug auf Zeit und Ereignisse linear denkenden Gesellschaft fällt es uns oft schwer, uns diese Tatsache klarzumachen und in unserem Leben nutzbringend anzuwenden. Selbst wenn wir unsere Menstruationstage in einem Tagebuch oder Kalender vermerken, begreifen wir sie häufig nur mit Mühe als zyklisches Ereignis und sehen darin eher ein sich wiederholendes lineares Muster. Im Kapitel »Begegnung mit dem Mond« werden wir den Gebrauch einer Mond-Chronik erläutern, eine Methode, alle diesbezüglichen Informationen zu notieren und auf eine neue Weise zu betrachten. Wenn wir Frauen zu einem Bewusstsein darüber gelangen, dass wir während unseres menstruell aktiven Lebens zyklische Wesen sind, begreifen wir uns allmählich auch als Teil der größeren Rhythmen des Universums, akzeptieren unser wahres Wesen besser und finden zu mehr Harmonie in unserem Leben.

Das Menstruationstabu

Die Macht der Menstruation wurde in vergangenen Kulturen anerkannt und respektiert, und das ist in einigen wenigen Gesellschaften auch heute noch so. Doch die von den Frauen eingeführten Praktiken, die ihnen halfen, mit diesen starken und kreativen Energien umzugehen, wurden von den patriarchalischen Gesellschaften, die diese Macht als für Männer gefährlich ansahen, weitgehend in Misskredit gebracht. Und so wurde aus der Menstruation, die ehedem als heilig und sakrosankt galt, etwas Unreines und Verschmutzendes. Von nun an betrachtete man die menstruierende Frau als wandelnde Quelle destruktiver Energien, mit deren Weiblichkeit sich eine ungeheure magische Macht verband, die nur auf eine Weise im Zaum gehalten werden konnte, nämlich indem man sie vollständig vom Gemeinschaftsleben ausschloss. Man glaubte, dass sie mit dieser ungezügelten Magie alles kontaminierte, mit dem sie in Berührung kam, und dass sie vor allem für Männer, ihre Lebensweise, ihr Hab und Gut und ihr Vieh gefährlich war.

So wurden Frauen oft beim ersten Anzeichen der Blutung von der Gemeinschaft abgesondert. In vielen Kulturen lebten sie für diese Zeit in einer abseits vom Dorf gelegenen Hütte, die speziell zu diesem Zweck für alle Frauen des Stammes reserviert war. Die menstruierenden Frauen durften keine Gegenstände des Alltagslebens berühren und alles, was sie berührten, war »kontaminiert« und musste zerstört werden. Und vor allem durften die menstruierenden Frauen nichts berühren, was einem Mann gehörte. Man glaubte, dass sie mit ihrer Macht den Tod eines Mannes verursachen oder den Verlust seiner Jagdfähigkeiten bewirken konnten. In manchen Gesellschaften wurde die Verletzung dieses Tabus mit dem Tod bestraft. Die menstruierenden Frauen durften zwar von anderen Frauen besucht werden, die Männer aber durften sie nicht sehen, noch war es den Frauen erlaubt, die Männer anzusehen.

Die menstruierende Frau war nicht nur in ihrer Bewegungsfreiheit, in dem, was sie berühren und wen sie sehen, sondern häufig auch in dem, was sie essen durfte, Restriktionen unterworfen. In manchen Fällen war es ihr verboten, Fleisch zu essen oder Milch zu trinken, weil sonst die Jagd schlecht ausfallen oder die Milch der Kühe versiegen konnte. Die menstruierende Frau galt als so unrein, dass sie sozusagen die Natur verletzte und die natürliche Ordnung der Dinge veränderte.

Als die für die Gemeinschaft »gefährlichste« Zeit galt die des Einsetzens der ersten Periode. Dann wurde das betreffende Mädchen oft noch extremeren Beschränkungen unterworfen, als sie den erwachsenen Frauen auferlegt wurden. Es konnte passieren, dass es sieben Jahre lang in einen kleinen Käfig gesperrt wurde und in dieser ganzen Zeit niemals draußen herumlaufen oder die Sonne sehen durfte.

Menstruationstabus sind keineswegs auf primitive Gesellschaften oder auf die Vergangenheit beschränkt. In vielen Regionen ist die menstruierende Frau auch heute noch mentalen und physischen Einschränkungen unterworfen. Im Islam darf eine menstruierende Frau noch heute keine Moschee betreten; in der Vergangenheit wurde die Übertretung dieses Verbots mit dem Tod bestraft. In manchen christlichen Kulturen steht die Menstruation für die Erbsünde Evas, eine Sünde, mit der jedes Mädchen geboren wird. Christliche Frauen gelten als ewig mit dieser Sünde beladen und müssen ständig dafür büßen, wenn sie jemals in den Himmel kommen wollen. Das stellt sicher, dass Frauen niemals heilig genug sind, um im religiösen Leben eine aktive Rolle zu übernehmen.

Frauen müssen sich darüber klar werden, dass die Einstellung zur Menstruation in einem außerordentlich starken Maß von der Geschichte ihrer Kultur und Gesellschaft geprägt wurde und wird. Und haben sie dies erst einmal erkannt, können sie auch diese gesellschaftliche Konditionierung durchbrechen, die Menstruation in einem neuen Licht betrachten und herausfinden, was diese für sie unabhängig von den Ansichten irgendwelcher anderer Personen oder Gruppen bedeutet.

Die menstruellen Energien

In diesem Buch wird der Begriff »menstruell« zur Kennzeichnung aller Dinge verwendet, die mit dem gesamten Monatszyklus und nicht nur mit der Zeit der Regelblutung in Zusammenhang stehen. Die mit dem menstruellen Zyklus verbundenen kreativen Energien weisen unterschiedliche Orientierungen und Aspekte auf und sind mit dem Zyklus der Gebärmutter beziehungsweise der weiblichen Fortpflanzungsorgane verknüpft. Wenn das durch den Eisprung freigesetzte Ei befruchtet wird, drücken sich diese Energien in der Formierung neuen Lebens aus. Bleibt das Ei unbefruchtet, nehmen sie irgendeine andere Gestalt an.

Die Energien des menstruellen Zyklus dürfen nicht behindert oder unterdrückt werden. Eine Blockierung oder Beeinträchtigung kann dazu führen, dass sie sich auf zerstörerische Weise äußern. Die Energie muss als ein sich auf seine eigene Weise ausdrückender Energiestrom akzeptiert werden. Kämpfen Sie gegen diesen Energiefluss an, kann dies mentale und physische Schmerzen verursachen, weil Sie in diesem Fall gegen Ihre eigene Natur ankämpfen, und das hat oft Aggression, Wut und Frustration zur Folge. Die menstruellen Energien finden in den vielen Formen der schöpferischen Natur einer Frau ihren Ausdruck.

Der Rückzug aus der Gesellschaft zur Zeit der Blutungen war an sich ein ganz natürlicher Ausdruck der Menstruationsenergien. Es war eine Zeit der Unterweisung und des Lernens sowie eine Zeit der Nutzung der kollektiven Energien der gesamten Gruppe menstruierender Frauen. Ursprünglich hatte die räumliche Beschränkung in der Pubertätsphase einen positiven Sinn. Sie bot nämlich den weisen Frauen die Möglichkeit, die jungen Mädchen über ihre körperliche Natur, über die in ihnen erwachenden Energien und die damit verbundenen spirituellen Traditionen aufzuklären. Und das bedeutete, dass sie nach ihrer Pubertätsphase mit ihrer Wesensnatur in Balance und Harmonie waren und nun ihre Energien für die Gemeinschaft einsetzen konnten.

 

BEWUSSTWERDUNG

Übung

Ganz offensichtlich lässt sich in der Hektik des Alltagslebens nur noch schwer Zeit für ein weiteres Projekt finden. Schon zusätzliche fünfzehn Minuten für Tagebuchaufzeichnungen können zum Problem werden, wenn ebendiese fünfzehn Minuten mehr Schlaf lebensnotwendig sind! Wenn Sie die Energien Ihres eigenen menstruellen Zyklus besser verstehen und ein Protokoll von den in diesem Buch vorgeschlagenen Übungen anfertigen wollen, müssen Sie eine Art Tagebuch, ein Journal führen. Wenn Sie eine auch nur einigermaßen vernünftige Darstellung Ihres Zyklus erhalten wollen, müssen Sie wenigstens drei Monate lang detaillierte Tagebucheintragungen vornehmen, wie ich sie im Folgenden skizzieren werde. Sie werden allerdings schon nach einem Monat eine gewisse Ahnung bekommen, welche Form Ihr Zyklus annimmt. Es wäre gut, wenn Sie nach diesen drei Monaten weiterhin Bemerkungen, Gedanken und Träume in Ihrem Journal notieren würden, um so Ihre Einsichten und Erfahrungen festzuhalten. Die Eintragungen müssen nicht lang sein, aber eine Anzahl von Details umfassen:

Eintragungen

DATUM

ZYKLUSTAG

Die Zählung beginnt mit dem ersten Tag Ihrer Blutung. Wenn Sie nicht wissen, an welchem Zyklustag Sie sich gerade befinden, dann fahren Sie mit den anderen Eintragungen fort und beginnen mit Ihrer Zählung bei der nächsten Blutung.

MONDPHASE

Die gegenwärtige Mondphase können Sie den meisten Zeitungen entnehmen. Zeichnen Sie ein kleines Symbol, um festzuhalten, ob es sich um Vollmond, Neumond, zunehmenden oder abnehmenden Mond handelt.

TRÄUME

Notieren Sie, wenn Sie sich an Ihre Träume erinnern können, das Grundgeschehen des Traums oder stark hervortretende Themen oder Bilder. Sie werden vielleicht feststellen, dass Sie sich zwar gleich beim Aufwachen an Ihre Träume erinnern können, sie aber dann nach wenigen Minuten vergessen haben. Deshalb sollten Sie versuchen, sie gleich nach dem Aufwachen schriftlich festzuhalten oder sie geistig nochmals detailliert zu rekapitulieren und sich dabei einzuprägen, dass Sie sich daran erinnern und sie, sobald Sie Zeit haben, aufschreiben wollen.

GEFÜHLE

Versuchen Sie festzuhalten, wie Sie sich tagsüber fühlen. Fühlen Sie sich glücklich, niedergeschlagen, müde, der Außenwelt zugewandt, zurückgezogen, intuitiv eingestellt, friedlich? Fühlen Sie sich zu bestimmten Aktivitäten oder einem bestimmten Kleiderstil hingezogen? Wie steht’s mit Ihrer Sexualität? Fühlen Sie sich sinnlich, liebevoll, freigebig, spirituell, kreativ, erotisch, ungestüm, fordernd, geil, aggressiv, leer? Es ist nicht wichtig zu verzeichnen, wie oft Sie Sex haben, wenn Sie in einer Partnerschaft leben, aber versuchen Sie, auf die Färbung Ihrer sexuellen Energie und ihrer Ausdrucksform zu achten.

GESUNDHEIT

Notieren Sie alle mit dem menstruellen Zyklus zusammenhängenden Schmerzen oder Unpässlichkeiten, irgendwelche speziellen Essensgelüste und auch, ob Sie sich unter Stress fühlen.

Es ist zwar wichtig, dass Sie zu einem Bewusstsein Ihres Zyklus und seiner Auswirkungen auf Sie gelangen, aber Sie müssen sich auch Ihre menstruelle Vergangenheit, die Sie umgebenden Beziehungen und Einflüsse damals wie heute anschauen. Nehmen Sie sich Zeit, um sich an Ihre erste Blutung zu erinnern. Wie viel wussten Sie damals über die Menstruation? War sie eine Angst einflößende oder peinliche Erfahrung? Wie haben Ihre Mutter, Ihre Familie oder Ihre Schulfreundinnen oder Lehrer und Lehrerinnen darauf reagiert? Denken Sie auch über die Einstellung Ihrer Mutter oder Ihrer nahen weiblichen Verwandten zur Menstruation nach. Wie benennen Frauen in Ihrem Umfeld die Menstruation?

Sprechen Sie mit ihnen über dieses Thema? Wie unterrichten Sie Ihre Kinder, falls Sie welche haben, über Ihren Zyklus, oder wie werden Sie sie unterrichten, und wie werden Sie sie, wenn es sich um Mädchen handelt, über ihren eigenen Zyklus aufklären?

Wie sieht es hinsichtlich der Menstruation und Ihrem Partner, Ihren Arbeitskollegen und -kolleginnen und Ihren Freundinnen und Freunden aus? Wird sie ignoriert, als »Frauenproblem«, als Witz oder irgendwie abfällig abgetan? Gehen Sie und Ihr Partner (oder Ihre Partnerin) ungern miteinander ins Bett, wenn Sie Ihre Blutung haben? Warum? Schreiben Sie eine Zusammenfassung Ihrer Gedanken im Journal nieder.

Im folgenden Kapitel stelle ich einige mit dem menstruellen Zyklus verbundene Konzeptionen und Gedanken vor, die verschiedenen Kulturen und Legenden entnommen und zu einer einzigen Geschichte, »Die Erweckung«, verwoben wurden. Ihre Themen, Symbole und Vorstellungen werden dann in den folgenden Kapiteln erweitert.

Mit dieser Geschichte möchte ich Sie dazu ermuntern, sich mit bestimmten, mit dem menstruellen Zyklus verknüpften Gestalten und Bildern zu identifizieren. Das wird wiederum einen durchaus traditionellen Initiationsprozess in Gang setzen, das heißt, durch die Visualisierung dieser Bilder und Symbole werden Sie Einsichten gewinnen, Wissen erlangen. Durch die Teilnahme an dieser Geschichte, ob nun über ein Hören oder Lesen, werden in Ihnen Kräfte der Erkenntnis und Inspiration geweckt, da sich ihre Konzeptionen durch Ihre erlebten Emotionen und Gefühle mehr mit der intuitiven Seite Ihres Geistes als mit dem Intellekt verbinden.

»Die Erweckung« enthält viele Bedeutungsebenen. Machen Sie sich bitte keine Sorgen, wenn Sie das Gefühl haben, nicht all ihre Bedeutungen zu verstehen, denn vieles wird für Sie sichtbarer werden, wenn Sie sich im Verlauf dieses Buches durch die Bewusstseinsübungen durcharbeiten.

Wenn Sie schließlich alle Übungen in diesem Buch gelesen und durchgearbeitet haben, sollten Sie vielleicht nochmals zu dieser Geschichte und den nachfolgenden Kapiteln zurückkehren, um Ihr Verständnis von Ihrem eigenen Zyklus zu vertiefen und einen Vergleich mit den in der Mythologie und den Volksmärchen gefundenen Bildern und Gestalten anzustellen.

Die Erweckung

Eva lag im Dunkeln auf ihrem Bett und stieß einen tiefen Seufzer aus. Aus irgendeinem Grund war es ein wirklich mieser Tag gewesen; alles war schiefgegangen, und jetzt war sie auch noch in ihr Zimmer verbannt worden, weil sie sich mit ihrem Bruder gerauft hatte. Wütend und frustriert schleuderte sie ihr Kissen gegen die Tür und vergrub den Kopf in der Bettdecke. Draußen auf dem Treppenabsatz hörte sie ihre Mutter mit ihrem Bruder sprechen, der sich jammernd beklagte.

Sie rollte sich auf die Seite, das durch das Schlafzimmerfenster hereinströmende helle silbrige Licht zog sie an. Für einen Moment schien die Zeit stillzustehen und das Gemurmel von Fernseher und Familie war weit, weit weg. Eva kletterte langsam aus dem Bett und durchquerte das Zimmer, das ihr in all diesem silbrigen Licht gar nicht mehr vertraut vorkam. Am Fenster kniete sie sich auf einen alten, mit einem Haufen abgelegter Kleider belegten Stuhl, entriegelte das Fenster und lehnte sich in die Nacht hinaus, die nun warm und voller Magie war. Eine sanfte Brise spielte mit ihren Haarspitzen. Selbst die Stadt war von einer seltsamen Heiterkeit, und der Lärm des Nachtverkehrs war zu einem gedämpften Hintergrunddröhnen herabgesunken. Ihr Fenster blickte nach Süden, und Eva hatte von hier aus eine gute Aussicht über die Dächer.

Direkt vor ihr schien in einem tief dunkelblauen Himmel der Vollmond zu hängen, begleitet von einem einzigen Stern. Still sprach Eva einen Wunsch aus. Der über der pulsierenden Stadt schwebende Mond hatte etwas Seltsames an sich, und Eva fühlte, wie seine Magie sich ihrer bemächtigte und sie sanft in ihrem innersten Herzen berührte. Ihr Körper schien zu zerschmelzen und sich in einem Fluss mit dem Mondlicht und der Erde unter ihr zu vereinen, und sie wusste, dass derselbe Mond schon Millionen von Jahren über diesem Ort geschienen hatte. In diesem plötzlichen Erkennen wurde die Zeit sichtbar, ein schimmernder silberner Faden, der sich von Eva weg in das Dunkel der Vergangenheit spann. Die Füße in der Erde verwurzelt, wurde sie in ihrem Gewahrsein von der Zeit berührt, und eine Stadt aus früher Zeit entfaltete sich vor ihrem Blick, in der Feuer von den Bomben des Krieges loderten. Und wieder wurde sie von der Zeit berührt, und eine zwischen zwei Flüssen gelegene kleine Siedlung wurde von Eindringlingen angegriffen, die mit ihren Schiffen am kiesigen Ufer vor Anker gegangen waren.

In rascher Folge wechselten die Bilder; eine kleine Menschengruppe, die einen Graben mit Geweihschaufeln aushob; Wälder, die den Platz der Menschen einnahmen; Eis und Schnee, die in weißen Wellen das Land rein scheuerten. Wälder, Flüsse, Ozeane und Wüsten erstanden und vergingen, und immer schien darüber derselbe Mond. Land hob sich aus uranfänglichen Wassern, und für einen Moment erfasste dieser kleine Bewusstseinsfunke, der immer noch Eva war, das ungeheure Alter des Mondes und seine stille Begleitung all dessen, was gelebt hatte.

Aus dem Mittelpunkt der Schöpfung wirbelte die Zeit der Zukunft entgegen und nahm Evas Bewusstsein mit sich. Unter ihrem Blick tauchten im Vollmondlicht die ersten Landgeschöpfe aus ihren Geburtswassern auf. Eine Äffin saß hoch oben in den Zweigen eines Baumes und griff mit den Händen nach dem leuchtenden Gesicht des Mondes, und eine nackte und tätowierte Höhlenfrau saß kauernd und hob ihm ihr neugeborenes Kind entgegen. Eva sah, wie eine weiß gewandete Priesterin vor einem silbernen Spiegel Räucherwerk in eine golden schimmernde Schale streute, und ein kleines Mädchen mit dunklem Haar beugte sich aus dem Fenster und blickte zum Mond hinauf.

Noch immer in die Schleier des silbrigen Lichts gehüllt spürte Eva, wie sich die zarten Ranken der Zeit von ihrem Bewusstsein lösten, aber der Faden des Lebens, der sie mit den anderen Mondbetrachterinnen verband, blieb. Sie war mit all diesen Frauen verwandt, Teil einer Schwesternschaft, die vom Mond berührt worden war, und viele hatten auf diese Berührung geantwortet. Mochten sich auch überall auf der Welt Land, Sprache und Kultur voneinander unterscheiden, so blickten sie doch alle zu demselben Mond hinauf, waren sie alle durch sein Licht und seine Gezeiten miteinander verbunden.

Eva empfand sich in dieser Vision vom Mond und dem Wandel der Zeiten als klein und unbedeutend, aber auch als Teil von etwas Besonderem, das über ihr Alltagsleben hinausging. Sie streckte die Hand aus, als wollte sie den Mond berühren: »Begleiter der Frauen, wache über mich!«, flüsterte sie leise. Sie war sich nicht sicher, warum sie es sagte, verspürte aber ein merkwürdiges Bedürfnis, dieser plötzlichen Verbindung mit dem Mond, die sie in sich fühlte, Ausdruck zu geben. Sie hörte ihre Eltern, gleichsam wie in einer anderen Welt, den Fernseher ausschalten und sah, wie die Lichter im Haus verlöschten. Obwohl sie den Wunsch hatte, die ganze Nacht mit dem Mond aufzubleiben, machte sich doch eine Schläfrigkeit am Rande ihres Bewusstseins bemerkbar, und widerstrebend kehrte sie in ihr Bett zurück. In die Bettdecke eingehüllt, sah sie dem Mond zu, bis ihre Augenlider so schwer wurden, dass sie die Augen nicht länger offen halten konnte.


Furcht durchdrang stoßweise ihr schlafendes Bewusstsein. Etwas Böses jagte ihr im Dunkeln nach. Eva rannte blind durch dunkle Gebilde, Entsetzen stieg in ihr hoch, ein Schrei bildete sich in ihrer Kehle, den sie nicht auszustoßen vermochte. Sie wusste nicht, wovor sie wegrannte, sie wusste nicht, ob es eine Gestalt hatte, ob es ein Gespenst oder ein Geist war, aber sie wusste, dass diese Angst aus dem Innersten ihres Wesens kam. Äste und Zweige zerkratzten ihr Gesicht und Hände, während sie sich durch ein verfilztes Walddickicht kämpfte. Es kam näher. Eva fühlte, wie ihr diese abscheuliche Präsenz nachsetzte.

Der durchdringende Ton eines Jagdhorns durchstieß die schweigende Nacht, und für einen Moment hielt Eva inne, rang keuchend nach Atem, unsicher, in welche Richtung sie rennen sollte. Aus den Augenwinkeln sah sie einen Schatten rasch auf sie zukommen. »Zu spät!«, schrie sie innerlich auf, als sie sich mit einer Kehrtwendung ins Unterholz stürzte. Dornen rissen an ihren Kleidern und zerkratzten ihre Beine, als sie sich mühsam ihren Weg bahnte. In wilder Panik warf sie einen Blick zurück und glaubte zu erkennen, wie sich noch zwei weitere grässliche Schatten dem ersten zugesellten. Verzweifelt schlug sie gegen das Gebüsch; aber je stärker sie sich durchzuzwängen bemühte, desto enger hielt sie das Dornengestrüpp fest. Sie saß in der Falle, und das Entsetzen brach durch. Wimmernd kauerte sie sich zusammen und schlug die Hände vors Gesicht. Inbrünstig betete sie darum, dass sie sie nicht fänden, aber kurz durch die Finger blinzelnd sah sie, dass sie sich zielstrebig auf sie zubewegten. Sie kniff die Augen noch fester zusammen und schluchzte.

 

Plötzlich schien ein glänzend weißes Licht vor ihr aufzustrahlen, das sie als brennend roten Schein hinter ihren geschlossenen Augenlidern wahrnahm. Sie riss entsetzt die Augen auf und sah die geisthafte Gestalt einer Frau inmitten dieses Lichts, die sich den Schatten zuzuwenden schien. Die Frau hob die Arme und rief einen einzigen Befehl, der die schrecklichen Schatten geduckt ins Dunkel zurückschleichen ließ. Die Frau neigte den Kopf, als lausche sie auf etwas, und Eva vernahm den fernen Klang des Jagdhorns, das weit weg nun zum Rückzug blies. Schließlich wandte sich die Frau Eva zu, während ihre schimmernde Aura langsam verblasste und sie nun groß und hell unter dem silbernen Licht des Vollmonds stand. In Eva trat Verwunderung an die Stelle von Furcht. Behutsam machte sie sich von den Dornen los und streckte ihre Finger aus, um die ausgestreckte Hand der Herrin des Mondes zu berühren.

Die Herrin des Mondes lächelte: »Willkommen, Kind.« Und es schien, als hallte das Echo der Stimmen von Millionen von Frauen in Evas Seele wider. Sie glaubte, nie zuvor eine so schöne Frau gesehen zu haben, eine so geschmeidige silberweiße Haut und Augen, in denen sich das Mondlicht spiegelte. Sie trug ein langes, blassblaues Gewand und einen Überwurf um die Schultern, der von einer ziselierten Silberbrosche zusammengehalten wurde. Ihr langes Haar hing hell und lose den Rücken herab, und ein einfaches Stirnband schlang sich um ihre Stirn. Eva fühlte sich in ihrer Gegenwart sicher, und ein Gefühl überkam sie, dass sie diese Dame schon ihr Leben lang kannte. Die Herrin des Mondes führte Eva aus dem Unterholz heraus, und sie wanderten unter silberüberströmten Bäumen, als die Dame mit der sanften, musikalischen Stimme eines klaren sprudelnden Quells zu sprechen begann.


»Das ist eine ganz besondere Nacht für dich. Das Rad des Lebens dreht sich nun vom Kindsein weiter zum Frausein. Meine Schwestern und ich werden dich durch diese Nacht führen, und obgleich du vielleicht nicht alles, was du siehst und fühlst, während du zu einer Frau wirst, verstehen wirst, wirst du doch wenigstens anfangen zu verstehen.

Wenn du ein Kind bist, fließen deine Energien auf lineare Weise. Sie fließen ständig auf ein einziges Ziel zu, und dieses Ziel ist, geistig und physisch von einem kleinen Kind zur Erwachsenen heranzuwachsen. Auf diesem Weg verändern sich auch die Energien vom Linearen zum Zyklischen. Dann folgen deine Energien einem Rhythmus, der sich einmal im Monat wiederholt. Dieser Rhythmus wird für dich seine ganz persönliche Färbung annehmen. Ich bin hier, um dir zu helfen, dass du zu einem Bewusstsein darüber gelangen und diese verschiedenen Energien erspüren kannst.«

Ihr Spaziergang hatte sie zu einer kleinen Waldlichtung geführt, und als Eva zum Mond hinaufsah, nahm ihr das Entzücken über den Anblick der Myriaden diamantener, auf den Wellen der Nacht tanzender Sterne fast den Atem. Für einen Moment tat sich der Himmel in seiner Tiefe auf, und sie blickte weit in die grenzenlose Unermesslichkeit des Universums hinein.

»Als Frau bist du mit den kleinen und großen Rhythmen und Pulsschlägen des Universums verbunden.« Die Worte der Herrin des Mondes fielen als Flüstern in die ungeheure Weite des Raumes. »Seit unendlich langer Zeit, Generationen um Generationen, waren Frauen das Bindeglied zwischen Mensch und Universum. Mit der ersten Menstruation nahmen die Äffinnen eine andere Entwicklung als der Rest des Tierreiches, und jede Blutung wurde zu einer mit den Rhythmen des Kosmos übereinklingenden Uhr.«

Die Worte zupften an Evas Seele und weckten in ihr die Sehnsucht, den Begrenzungen des Körpers zu entfliehen und sich mit dem Wandel der Sterne zu vereinen. Ein Schauer durchbebte ihr Rückgrat, und wie Wellen sich in einem Teich ausbreiten, erzitterte die Szenerie vor ihren Augen und verwandelte sich.


Eva fand sich in einem riesigen dunklen runden Raum wieder, dessen Boden mit weißen und schwarzen Kacheln ausgelegt war. Im Zentrum des Raumes standen drei Dreifüße aus schwerer Bronze mit Schalen, aus denen Flammen schlugen, und ihr schummriges flackerndes Licht umgaben und erhellten eine sitzende Gestalt, das Gesicht von Eva abgewandt. Eva ging auf die Frau zu und merkte, dass die Herrin des Mondes ihr folgte.

Auf einem massiven holzgeschnitzten Thron saß eine Frau von unbeschreiblicher Schönheit. Sie war in ein Gewand von fließender Seide gehüllt, ihr feines langes Haar fiel locker bis zum Boden herab und schien dort über und zwischen den Kacheln weiterzuwachsen. Zunächst sah es so aus, als sei sie von Kopf bis Fuß in den feinsten silbrigen Schleier gehüllt, bestickt mit zahlreichen schimmernden Juwelen. Bei näherer Betrachtung konnte Eva aber erkennen, dass diese Edelsteine in Wirklichkeit winzige Spinnen waren, die geschäftig an dem Schleier woben. Das Gesicht der Dame war still und heiter, und sie blickte in eine aus Silber geschmiedete, mit kristallklarem Wasser gefüllte Schale, die sie auf ihrem Schoß hielt. Eine tiefe Stille umgab sie, so als sei sie selbst zeitlos. Ihre Hände ruhten sanft auf dem Rand der Schale, und aus einem Schnitt an einer ihrer Fingerspitzen quoll ein kleiner hellroter Blutstropfen hervor. Eva sah zu, wie dieser Blutstropfen ins Wasser fiel, das sich sofort rot verfärbte.

»Wer ist sie?«, fragte Eva.

»Sie ist die Bewahrerin des Maßes«, antwortete die Herrin des Mondes. »Jeder Tropfen Blut ist ein Neumond und jede Träne ein Vollmond.«

Unter den langen Augenwimpern der Dame sammelte sich eine einzige Träne, löste sich und rann ihre Wange hinab.

»Wie lange ist sie schon hier?«

»Seit das erste weibliche Wesen zu bluten anfing. In aller Zeit sitzt sie hier an diesem Ort, zählt die Rhythmen des Mondes und bemisst den Zyklus der Frauen. Frauen haben eine andere Zeit als Männer. Männer folgen der Sonne, während wir dem Muster des Mondes folgen. Von den Frauen kam das erste Zeitmaß.«

Die Herrin des Mondes ergriff Evas Hand und führte sie durch eine Eichentür hinaus. Draußen war der Wald durch das Licht des Vollmondes erhellt, und Eva sah, als sie sich umwandte, dass sie eine große runde Hütte mit einem kegelförmigen strohgedeckten Dach, das wie ein Hügel hoch in die Nacht hinaufragte, verlassen hatten. Die Herrin des Mondes schloss die Tür, bückte sich und pflückte eine Rose von einem Busch neben dem Türrahmen. Sie reichte sie Eva hin.

»Ein Geschenk von der Bewahrerin des Maßes.«

Die Rose erstrahlte im Mondlicht in reinem Weiß, aber als Eva sie am Stiel hielt, verfärbte sie sich in ihrer Mitte rot, und nach und nach breitete sich die Farbe über alle Blütenblätter aus. Rhythmisch wechselte die Blume immer wieder von Rot zu Weiß zu Rot. Fragend blickte Eva auf und bemerkte, dass der Mond sich inzwischen verändert hatte. Es war Vollmond gewesen, doch jetzt sah sie einen abnehmenden Mond. Und nun wurde er zum dunklen Neumond, und dann erschien die Sichel des zunehmenden Mondes. Immer schneller durchlief der Mond alle seine Phasen, und ebenso wechselte die Blume in Evas Hand zyklisch ihre Farbe. Manchmal stand die weiße Rose in Übereinklang mit dem Vollmond und manchmal die rote. Eva verfolgte dieses Muster und bemerkte, dass der Zyklus der Blume zwischen Vollmond und Neumond hin- und herpendelte.

Sie berührte mit dem Finger sanft die pulsierende Blume, und plötzlich wurden aus den weißen Blütenblättern blütenweiche Federn, die sich in die Lüfte erhoben. Überrascht lachte Eva auf, als eine weiße Taube hoch in den dunklen Himmel aufstieg.