Tattoos & Tequila

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Als ich fünf war, zogen wir dort weg. Damals hatten wir einen alten Truck. Den beluden wir mit unseren Siebensachen und fuhren von Texas nach Kalifornien. Meine Schwester und ich lagen hinten auf der Ladefläche auf ein paar Matratzen. So verbrachten wir die ganze Fahrt. Das war 1941, kurz nach der Wirtschaftskrise. Damals zogen viele Leute aus Oklahoma, Texas oder Arkansas nach Kalifornien. Die Schwester meines Vaters war in Los Angeles untergekommen, und meine Eltern beschlossen, ihr zu folgen. Bei ihr wohnten wir, bevor mein Vater Arbeit als Anstreicher an der University Of Southern California bekam; er trug stets weiße Arbeitskleidung und hatte Farbspritzer im Haar. Später sortierte er Obst auf einem Fruchthof. Meine Mutter arbeitete eine Weile in einer Schuhfabrik.

An dem Abend, als ich Shirley kennen lernte, war sie mit ihrer Freundin Tootsie unterwegs, die einen brandneuen Ford T-Bird hatte, ein süßes kleines Auto. Sie fuhren damit zum Autokino. Der Kumpel, mit dem ich dort war, kannte die beiden, und so kamen wir ins Gespräch. Ein bisschen später veranstaltete unser Autoclub ein Picknick in Griffith Park, und Shirley auch war dort. Ich saß an einem der Tische und hatte ein Bier in der einen und eine Zigarette in der anderen Hand. Als Shirley vorüberkam, trat ich die Zigarette schnell aus, und dann schnappte ich sie mir und gab ihr einen dicken Knutscher. Da hatte mich das Bier wohl mutig gemacht. Wir gingen eine Zeitlang mit einander aus, doch dann verließ ich 1956, in der elften Klasse, die Schule und meldete mich zur Armee. Ich wurde in Deutschland stationiert, und außerdem hatte ich Glück, dass ich ausgerechnet die ruhige Zeit zwischen dem Korea- und dem Vietnamkrieg erwischte. Während ich im Ausland war, schickte Shirley mir Briefe und Fotos. Im Januar 1958 wurde ich nach Fort Hood in Texas versetzt. Elvis war auch dort, er machte damals seine Grundausbildung.

Nach meiner Entlassung aus der Armee im August 1958 kam ich wieder nach Hause. Shirley und ich trafen uns wieder, und im November heirateten wir. Heute sind wir immer noch zusammen, seit 52 Jahren.

Zunächst arbeitete ich für eine Firma, die sich auf Fiberglasbeschichtungen spezialisiert hatte, und als Vince sechs Wochen alt war, musste ich eine Weile auf Montage. Man schickte mich mit einer Kolonne nach Moab in Utah. Wir spritzten damals große Stahltanks mit Fiberglas aus – ich glaube, der dazugehörige Prozess nannte sich Uranreduzierung. Ursprünglich waren wir davon ausgegangen, dass wir nur ein paar Wochen dort sein würden, aber wir hatten unsere Arbeit wohl so gut gemacht, dass wir noch ein paar weitere Tanks zum Auskleiden bekamen. Also rief ich Shirley an und sagte ihr, dass ich wohl länger bleiben würde als angenommen.

Vince hatte mit sechs Wochen die erste kinderärztliche Untersuchung, und danach nahm Shirley sofort den nächsten Bus und fuhr zu mir nach Moab. Dort quartierten wir uns in einem Motel ein. Vince war noch ein winziges Baby, und wir bastelten ihm in unserem Zimmer ein Bett aus unserem Koffer. Wir legten die Decken dort hinein und machten es ihm richtig gemütlich.

Ich arbeitete damals enorm viel. Wir wollten alle möglichst bald wieder nach Hause, also versuchten wir, den Job möglichst schnell zu erledigen und schufteten oft 14 oder 16 Stunden am Tag. Wenn ich abends ins Motel kam, konnte man die Uhr danach stellen, dass Vince sofort zu brüllen begann. Den ganzen Tag über war er ruhig, bis ich zur Tür reinkam. Ich sagte zu Shirley: „Meine Güte, kannst du ihn nicht beruhigen? Ich muss unbedingt schlafen, ich habe so lange gearbeitet.“ Und im Scherz fügte ich hinzu: „Wenn das Geschrei nicht aufhört, dann klappe ich den Kofferdeckel zu!“

Als Vince 15 war, kaufte ich ihm einen alten Chevrolet-Pickup, Baujahr 53. Er war grundiert und hatte große, schwarze Räder mit Split-Six-Felgen; der Abgaskrümmer lief in zwei Auspuffen unter den Trittbrettern aus. Vince hatte noch keinen Führerschein, aber wir hatten den Truck irgendwo entdeckt, und selbst mir gefiel er sehr. Er kostete mich nur 700 Dollar. Damals dachte ich, bis wir den fertig aufgemotzt haben, hat Vince bestimmt auch seinen Lappen. Ich baute sogar ein Schiebedach ein, und meine Frau nähte kleine Gardinen für das Rückfenster.

Vince hatte damals einen Freund, der behauptete, schon einen Führerschein zu besitzen, und ich glaubte ihm das. Die beiden fuhren gern mit dem Truck herum. Wie sich dann nachher herausstellte, stimmte das gar nicht, die beiden hätten gar nicht am Steuer sitzen dürfen. Vince rammte schließlich irgendetwas und zerbeulte den hinteren Kotflügel des Wagens.

Ich behielt den Truck noch eine Weile und verkaufte ihn später für 100 Dollar an einen Nachbarn. Der holte ihn ab, und seitdem habe ich den Wagen nicht mehr gesehen. Es war wirklich ein hübscher kleiner Truck. Vince hatte hinten für sein Surfbrett eine spezielle Halterung montiert – ich erinnere mich noch an einen Typen, der ihm dieses Ding mal wegnehmen wollte. Vince war noch jung, in seinem ersten Jahr auf der Highschool vielleicht. Er hatte lange Haare und stand auf Musik. Der andere Kerl war ein durchtrainierter Sportler und ein bisschen älter. Er machte sich über Vince lustig – weil er lange Haare hatte oder vielleicht auch nur, weil er erst in der neunten Klasse war; vermutlich war er damals ein leichtes Opfer. Der Typ nervte Vince jedenfalls mal wieder, und mein Junge hatte wohl endgültig die Nase voll. Er holte aus und schlug dem Kerl mitten ins Gesicht. Und weil der eine Zahnspange trug, richtete dieser Schwinger ziemlich großen Schaden an.

Ich musste schließlich vor Gericht – seine Eltern verklagten uns auf 500 Dollar Schmerzensgeld oder so was. Das musste ich dann zahlen. Der Junge mochte Vince ja wirklich mit Worten provoziert haben, aber Vince hätte ihn deshalb nicht schlagen dürfen. Das ist aber das einzige Mal, dass wir mit Vince in seinen jungen Jahren Ärger hatten.

Eins werde ich nie vergessen. Irgendwann, als Mötley Crüe allmählich bekannter wurden, schickte Vince eine Limo, um uns zu einem Konzert abzuholen. Eine große schwarze Stretch-Limousine. Ich war völlig überwältigt und sagte zu Vince: „Du weißt, dass ich in meinem ganzen Leben noch nie in so einem Ding gesessen habe?“

Er sah mich an und lächelte stolz: „Tja, Dad, dann gewöhn dich mal dran.“

Das war ein herrlicher Moment. Nie hätte ich gedacht, in meinen wildesten Träumen nicht, dass Vince einmal so weit kommen würde. Es gibt so viele talentierte Menschen, die es niemals schaffen, so viele, die nie berühmt werden. Ich vermute, Vince war zur rechten Zeit am rechten Ort und hatte genug Talent. Wie ich schon sagte, ich bin sehr stolz – ich habe ihm seine erste Gitarre gekauft.


Als ich in der dritten oder vierten Klasse war, veränderte sich Compton allmählich, und es war abzusehen, wohin die Entwicklung führen würde. Es zogen immer mehr Schwarze und Leute aus der Unterschicht dorthin. Überall hingen die Gangs herum. In meinem Viertel herrschten die Crips und die AC Deuceys. Der Bruder meines besten Freundes, Paul, zählte zu den Anführern der Crips, deswegen bekam ich nicht so viel Prügel, wie ich sonst vielleicht hätte einstecken müssen. Ein paar Crips hausten direkt auf der anderen Straßenseite in einer Wohnung, die sie auch als Clubraum nutzten. Und um die Ecke wohnten noch ein paar von den Jungs. Ich steckte also mittendrin. Zwischen den Crips und den AC Deuceys war immer Krieg. Es gab Schießereien, es wurde aus fahrenden Autos gefeuert, aber das war lange bevor die Crack-Epidemie die ganze Gang-Problematik so in die Schlagzeilen brachte. Es waren ganz normale Bandenkriege, Sharks gegen Jets sozusagen, es ging um Gebietsansprüche und Ehre, um Dinge, um die Männer seit Jahrhunderten kämpfen.

Eines Tages kam ich von der Schule und sah vier Kids, die einen ziemlich gut angezogenen, geschniegelt wirkenden Typen überfielen. Sie schossen auf ihn, klauten ihm die Turnschuhe und ließen ihn auf der Straße liegen. Ihm lief das Blut aus dem Mund. Irgendjemand rief den Notarzt und die Polizei. Es war ein schrecklicher Anblick, wie der Typ da Blut spuckte. Er konnte nicht mal mehr sprechen. Ich war damals noch ziemlich klein.

Danach war es, als hätte sich ein Hebel umgelegt. Ein paar Tage später wartete ich vor unserem Haus auf den Eiswagen, so wie immer. Die vier Gang-Mitglieder, die den Typen wegen seiner Turnschuhe erschossen hatten, kamen aus der Wohnung der Crips. Zwar wusste ich, dass meine Schuhe keinem von diesen Riesentypen passen würden, aber ich war trotzdem ziemlich nervös, als sie über die Straße auf mich zukamen. Ich hatte nur einen Gedanken: Jesus, ich hoffe, die wollen sich auch nur für ein Eis anstellen.

Der größte von ihnen ging ganz links und trug ein schwarzes T-Shirt. Über seine Arme zogen sich rote Linien, wie rituelle Narben. Er starrte mich die ganze Zeit über an. Mein Mund wurde trocken, und mir zitterten die Knie. Ich war vielleicht zehn oder elf Jahre alt.

Bevor ich wusste, was lief, trennte sich der große Typ von den anderen. Er packte mich und wirbelte mich herum, wie man es in den Filmen immer mit den Geiseln macht, und hielt mir die Arme fest. Dann schob er die Hände in meine Taschen und wühlte darin herum. Ich hatte nur 15 Cent für das Eis, mehr nicht. Dann spürte ich ganz kurz so etwas wie Druck auf der Kehle. Es ging ganz schnell und fühlte sich auch nicht so an, als ob er viel Kraft angewendet hätte. Zunächst war da auch noch gar kein Schmerz. Aber dann fingen meine Neuronen an zu schreien; ich fühlte, wie etwas meinen Hals herunterrann. Man hatte mich mit einem Messer oder einer Rasierklinge verletzt. Es heißt, dass man bei einem scharfen Messer den Schnitt an sich gar nicht mitbekommt, und erst später den Schmerz fühlt. Gewissermaßen eine Reaktionsverzögerung, als ob dein Körper einen Augenblick lang gar nicht merkt, dass er verletzt worden ist.

 

Zwar fand der Angriff bei helllichtem Tage statt, aber keiner der Nachbarn hob auch nur einen Finger, um mir zu helfen. In einem von Gangs beherrschten Gebiet ist das total krass, weil alle so viel Angst haben. Die Leute wollen gute Nachbarn sein, sicher, aber wenn es dann darum geht, das eigene Leben aufs Spiel zu setzen, um jemand anderen zu retten, dann hört die Freundschaft auf. Irgendwie rappelte ich mich wieder auf und bin wohl auch wieder ins Haus gelaufen. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr. Irgendjemand – meine Mom? Meine Nachbarin? – hat mich ins Krankenhaus gebracht. Ich wurde genäht. Ich weiß nicht mehr, mit wie vielen Stichen, aber der Schnitt lief seitlich über mein Gesicht und übers Kinn. Die Ärzte erklärten, das Messer hätte meine Schlagader nur um zwei Zentimeter verfehlt. Das ist Schicksal, was? Ich hätte an diesem Tag sterben können. Im Krankenhaus betuttelten mich alle Schwestern. Ich bekam schließlich so viel Eis, wie ich nur essen konnte.

Als ich wieder zur Schule musste, kümmerte sich meine Lehrerin, Mrs. Anderson, fürsorglich um mich. Sie war ein ehemaliges Playmate, mit langem, glattem, braunem Haar und einer Figur wie Jessica Rabbit – tataa! Irgendwo in einer meiner Garagen liegt noch eine Playboy-Anthologie herum, in der sie als Pin-up zu sehen ist. Man kann wohl mit Fug und Recht behaupten, dass sie bei mir das Licht angeknipst hat. Sie öffnete mir die Augen für eine der wichtigsten Erkenntnisse meines ganzen Lebens: Ich liebe Frauen. Wenn ich eine schöne Frau sehe, dann bin ich wie ein Kind. Dann folge ich nur einem Instinkt: Habenwollen.

In den Stunden, die Mrs. Anderson unterrichtete, in ihrer Nähe, hatte ich dieses warme, angenehme Gefühl. Noch hatte ich keine Ahnung von Sex, obwohl ich die dazugehörigen Wörter kannte. Aber irgendwie bekam ich mit, dass ich für Mrs. Anderson das empfand, was ein Mann eben für eine Frau fühlt. Es war wie der erste Zug an der Crack-Pfeife: Ein wilder Rausch, dem ich seither hinterherjage.

Wenn man sich bei Mrs. Anderson im Unterricht gut benahm, mit gefalteten Händen am Tisch saß, gut vorlas oder die Fragen beantwortete, die sie stellte, dann gewährte sie einem die Ehre, als Erster nach dem Aufstellen zum Mittagessen und in die Pause gehen zu dürfen – an ihrer Hand! Ich kann mich nicht erinnern, dass ich je dafür auserwählt wurde, weil ich mich in der Klasse hervorgetan hätte … aber mehr davon später. Aber natürlich wollte ich das auch, vor den anderen hergehen und ihre Hand halten. Als ich nach dem Überfall mit Pflaster und Verband wieder in die Schule kam, da wählte sie mich aus. Ich durfte als Erster in die Pause gehen. Sie hatte garantiert keine Ahnung, was mir für Sachen durch den Kopf gingen. Sie dachte vermutlich, dass sie für den kleinen, traumatisierten Jungen nur eine Art Krankenschwester spielte. Aber wenn ich in ihrer Nähe war, dann fühlte ich nicht das, was man als kleiner Junge fühlt. Ich war mir nicht sicher, ob ich ihr Geliebter oder ihr Sohn sein wollte – Hauptsache, ich war überhaupt irgendwas. Am Elternabend, als ich sie meiner Mutter und meinem Vater vorstellte, sagte ich: „Das ist meine Mutter, Mrs. Anderson.“ Ein echter Freud’scher Versprecher. Ich wäre am liebsten im Boden versunken.

Danach waren alle Schleusen offen. Es dauerte kein Jahr, und ich machte meine ersten Erfahrungen mit Tina, einem Mädchen aus der Nachbarschaft; ich schob ihr die Hände unter den Rock und tastete dort zum ersten Mal ein wenig herum, um mir sozusagen einen ersten Eindruck zu verschaffen, wie das Gelände beschaffen war. Ich wusste nicht, was ich da tat oder was das alles nach sich ziehen würde. Ich wusste nur, dass es mich so faszinierte, dass ich weiter herumfingern wollte. Was ist nur dran an den Frauen, dass man sie ständig begehrt?

Shirley Ortiz Wharton

Vince Neils Mutter

Meine Mutter wuchs in Albuquerque, New Mexico, als eines von fünf Kindern auf. Sie zog mit meinem Vater nach Inglewood, als wir noch klein waren. Mein Vater arbeitete dort als Maschinist. Mit 42 starb er an Krebs, und wir zogen in ein kleineres Haus. Ich glaube, er hatte eine Lebensversicherung, denn ich kann mich nicht daran erinnern, dass meine Mutter je arbeitete. Wir waren zu sechst. Ich machte 1955 meinen Highschool-Abschluss. Meine Mutter wohnte größtenteils für den Rest ihres Lebens in diesem kleinen Haus. Wir haben sie oft besucht – auch während der schweren Unruhen in Watts. Vince war damals ungefähr vier. Der Himmel war orange. Er war ganz fasziniert von den Soldaten der Nationalgarde.

Nach der Schule wurde ich Friseurin. Ich ging zur Kosmetikerschule in Hollywood und zum Junior-College in Del Amo. Dort machten immer die großen Zeppeline, die Goodyear-Blimps, fest. Odie traf ich zum ersten Mal an einem Abend, als ich mit meinen Freundinnen unterwegs war. Er gehörte zu einem Autoclub, den Shifters – er hatte die damals topmoderne Entenschwanzfrisur, trug eine grün-weiße Shifters-Jacke und hatte auch einen grünweißen Chevy. Natürlich hatte ich mich auch sehr nett zurechtgemacht, ich war blond, wenn auch nicht von Natur aus. Die Farbe kam aus der Flasche. Schließlich war ich auf der Kosmetikschule, ich habe gern experimentiert. Wir sind uns in einem Autokino begegnet. Da gingen abends alle hin, das war mitten im Viertel, hier bei uns in Manchester. Odies Vater war Anstreicher, aber als ich zur Familie stieß, war er schon in Rente. Es hieß immer, er sei Halbindianer.

Wir zogen später nach Carson in das Haus am Dimondale Drive. Odie und ich hatten die beiden Kinder schon. Sie waren nur 16 Monate auseinander. Um das noch einmal klarzustellen, Carson war kein Ghetto. Es war ein nettes Neubaugebiet, als wir dort einzogen. Vincent lernte mit seiner Schwester Eislaufen, als er noch klein war. Valerie hatte damit angefangen und wurde eine sehr gute Eisläuferin, und nachdem Vince sie einmal bei einer Vorführung gesehen hatte, erklärte er: „Das will ich auch.“ Also schickte ich ihn zum Unterricht, und er bekam später in einer Show einen Solo-Auftritt. Er war sehr, sehr gut. Vermutlich wird es ihm irrsinnig peinlich sein, das zu lesen – er findet es schrecklich, wenn ich das erzähle. Aber ich habe Bilder von ihm im Eisläufer-Outfit mit allem Drum und Dran, und seine Schlittschuhe liegen bei uns auch noch irgendwo. Abgesehen davon hatte er Tanzstunden und lernte Gitarrespielen. Auf der Bühne war er ziemlich extrovertiert. Aber so allein für sich, nein. Wenn er unter Menschen war, dann war er sehr schüchtern. Er hätte sich nie hingestellt und gesungen, wenn es keine Bühne gab.

Später fing er an, zu Songs zu mimen, beispielsweise zu Rod Stewarts „Hot Legs“. Er war ein kleiner Poser, er stand gern in der ersten Reihe. Die Mädchen fanden ihn toll. In der Junior High fing es an, da brachte er die ersten nach Hause. Wir haben immer gesagt: „Wenn ihr in deinem Zimmer seid, dann lässt du die Tür offen.“ Es war schwer, ihn die ganze Zeit im Auge zu behalten, weil ich ja arbeitete. Als die Kinder noch klein waren und wir noch in Carson wohnten, arbeitete mein Mann tagsüber und ich nachts. Ich war bei Max Factor angestellt und verpackte Lippenstifte und Make-up und alles Mögliche zum Versand quer durch die USA. Es war ein schöner Job. Nach dem Umzug nach Glendora arbeitete ich bei Ormco; dort wurden kieferorthopädische Gestelle gefertigt. Ich hatte die Aufgabe, die Bestellungen an Ärzte auf der ganzen Welt zu schicken. Man mag es glauben oder nicht, wir haben sogar Zahnspangen für Hunde hergestellt.

Ich erinnere mich nicht daran, dass Vince in der Schule schlecht gewesen wäre. Er hatte nie Probleme, und seine Zensuren waren Durchschnitt. Es lief alles gut, aber er kam auch mit vielen Sachen durch – wissen Sie, mir war gar nicht klar, dass er damals Marihuana rauchte. Valerie hat mir das später erzählt, aber sie war auch kein Engel. Wenn die beiden abends zu spät nach Hause kamen, kletterten sie durchs Fenster ins Haus. Wenn Vince der erste war, machte er es hinter sich zu, damit Valerie nicht mehr reinkam. Sie waren einfach typische Kinder. Manchmal, wenn wir schliefen, haben sie sich das Auto genommen … Valerie jedenfalls. Vince hat sie dann verpetzt.

Irgendwann brachte er Tami mit nach Hause. Sie war damals 17, ein Jahr älter als er. Sie ist bis heute mein Liebling. Wer von den beiden mir zuerst von der Schwangerschaft erzählt hat, weiß ich nicht mehr. Tami war verrückt nach Vince. Aber der hatte inzwischen eine andere Freundin, Shani. Das war eine sehr schwierige Situation. Uns tat Tami so Leid, weil wir sie einfach so gern hatten. Ich sagte ihr damals: „Tami, lauf ihm nicht nach. Das muss nicht sein. Tu dir das nicht an.“ Dann kam Neil zur Welt, und Vince war einfach noch so jung. Tami zog eine Weile bei uns ein, und Vince zog aus. Aber er hatte Neil auf dem Arm, er brachte ihm Geschenke mit und hat ihm zum Beispiel ein Dreirad gekauft. Aber er kümmerte sich nicht so um ihn, wie er es hätte tun sollen. Odie und ich sorgten dafür, dass Neil auf viele Konzerte gehen konnte und seinen Dad so oft wie möglich sah.

Die berühmte Geschichte über die große Rockandi-Party wird ja inzwischen überall erzählt. Das Fest war von Anfang an kein Geheimnis, wir waren nicht etwa verreist zu der Zeit; wir wussten davon. Wir ahnten nur nicht, dass Vince an jedem Telefonmast in der Nähe einen Werbezettel für die Fete aufgehängt hatte. Wir hatten damals einen Swimmingpool im Garten und eine nicht einsehbare Terrasse. Dort wollte die Band spielen, damit die Gäste drinnen und draußen tanzen konnten. Das Ganze war als ganz normale Party geplant, dachten wir jedenfalls. Vince hatte gesagt, es würden höchstens 50 oder 60 Leute kommen.

Noch bevor die ersten Gäste eingetroffen waren, gingen Odie und ich zu den Nachbarn rüber und sagten: „Wisst ihr was, wir könnten doch im Billardcafé um die Ecke eine Runde Pool spielen, während die Kinder ein bisschen feiern.“ Als wir später zurückkehrten, parkten Hunderte von Autos auf dem Rasen, auf dem Gehweg und auf den umliegenden Straßen. Tami saß an der Gartentür vor einer aufgeklappten Zigarrenkiste und kassierte. Wir wussten nicht, dass sie Eintritt nahmen, und ich weiß auch nicht mehr, wie viel es war. Schließlich kam die Polizei mit Megaphonen und forderte alle auf, das Gelände zu verlassen. Das war vielleicht eine verrückte Geschichte. Wir haben noch Monate später Schnapsflaschen im Garten und in den Büschen gefunden.

Eine Sache aus The Dirt möchte ich korrigieren. Odie hat auf dieser Party nicht mit den ganzen Mädchen getanzt. Er war ein erwachsener Mann, er tanzte nicht mit kleinen Mädchen.

Nach dieser Fete waren wir bei jedem Konzert dabei, das in unserer Nähe war. Wir gingen ins Whisky, ins Roxy, in jeden Club in Hollywood, in dem Vince auftrat. Wir haben uns sehr für ihn gefreut. Es war sehr aufregend. Ich weiß noch, wie ich damals dachte: Eigentlich kann er nicht singen, aber er singt. Ich war ziemlich überrascht, weil er vorher eigentlich gar keine Ambitionen in dieser Richtung gezeigt hatte. Deswegen fragte ich die Leute auch immer: „Findet ihr, dass er sich gut anhört?“ Weil ich einfach wissen wollte, ob es anderen Leuten gefiel – ich bin schließlich seine Mutter, dass ich ihn toll fand, war ja nur natürlich. Er hat eine helle, raue Stimme, und auf der Bühne entwickelte er sehr viel Charisma.

Über die Jahre lernten wir Tommys Eltern recht gut kennen, die auch zu allen Konzerten kamen. Als ich Vincent das letzte Mal sah, habe ich noch gefragt: „Wie geht’s denn Tommy so?“ Und Vince drehte sich ganz wütend um und sagte: „Mom, wieso fragst du dauernd nach Tommy? Ich habe keine Ahnung, was zur Hölle der so treibt, okay?“


Nachdem die freien Parzellen zunehmend mit Lagerhallen zugebaut wurden, kam das Viertel immer mehr herunter. Selbst unsere Spiele wurden allmählich brutaler. Meine Freunde und ich trafen uns auf einem unbebauten Grundstück und spielten mit Luftgewehren Krieg. Als das Gaswerk gebaut wurde, hob man riesige Krater für die Tanks aus, und wir spielten dort. Wir schossen tatsächlich auf einander. Ohne Schutzbrillen oder so etwas. Ich kam blutend und voller Quaddeln nach Hause. Meine Mutter schimpfte fürchterlich, während sie mir das Blut von den Schrammen am Kopf oder am Bein abtupfte. „Du kannst von Glück sagen, dass du kein Auge verloren hast!“ Aber ganz ehrlich, das mit den Luftgewehren war gar nichts. Viele Kids, die ich kannte, machten schon richtig ernst und traten irgendwelchen Gangs bei. Kein Scheiß, in der sechsten Klasse hatten sie schon Messer in der Brotbox. Und viele besaßen richtige Schusswaffen. Es ist doch auch allgemein bekannt, dass Kinder in dem Alter, mit 13, 14, 15, die besten Soldaten abgeben. Das sieht man doch an den Kindersoldaten in Afrika und Kambodscha. Ich habe Berichte darüber im Fernsehen gesehen. Sie bekommen eine totale Gehirnwäsche und werden absolut skrupellos. Bei den Straßengangs ist das nicht anders. Glaub mir, ich habe das hautnah erlebt. Ein Typ, den du für deinen Freund gehalten hast, kann sich von heute auf morgen grundlegend ändern.

 

Die Leute, mit denen ich abhing, waren größtenteils ganz normale, vielleicht ein bisschen ruppige Kids, die den typischen Unfug machten. Wir warfen Steine nach den Autos, die durch unsere Straße fuhren. Manchmal hielten die Fahrer dann an, stiegen aus und verfolgten uns. Ich wurde sogar einmal erwischt. Mein Vater war stinksauer. Das war zu der Zeit, als Evel Knievel angesagt war, deshalb bauten wir Rampen auf den Fußwegen, bretterten mit unseren Fahrrädern drüber und guckten, wie weit wir fliegen konnten. Oder wir bauten uns Go-Karts, hängten sie an die Fahrräder und rasten Straßen mit Gefälle hinunter. Mein Schulweg führte einen Berg hinauf – zur Schule zu gehen, war immer anstrengend, Nachhausekommen hingegen sehr locker. Wir koppelten die Go-Karts an die Fahrräder und hängten uns dann wieder ab. Wir flogen mit den Seifenkisten geradezu um die Kurven und den Hügel hinunter. Manchmal nahmen wir auch ganz altmodische Skateboards, also nicht diese modernen Trend-Teile. Unsere hatten noch Metallräder. Wir waren absolut leichtsinnig. Jeden Augenblick hätte ein Auto um die Ecke kommen, uns erfassen und töten können.

Als ich in der sechsten Klasse war, geriet ich mit vier anderen Kindern – drei schwarzen und einem aus Samoa – zum ersten Mal auf Abwege. Wir kletterten unter einem Stacheldrahtzaun hindurch und schlichen uns an zwei Wachmännern vorbei in eine große Lagerhalle mit Souvenirs. Dort lagen kistenweise diese großen Schneckenmuscheln, Schwämme und Korallen, dieses ganze teure Zeug, das am Strand an die Touristen verkauft wird. Wir packten so viel ein, wie in unsere Rucksäcke passte, und verhökerten den Kram auf der Straße und auf dem Flohmarkt in Compton. Von dem Geld, das ich dafür bekam, kaufte ich mir unter anderem meine erste Musikcassette, Cloud Nine von den Temptations. Meine Eltern waren nicht besonders musikalisch, aber sie hörten viel Musik. Mein Vater liebte Johnny Cash und Creedence Clearwater Revival, und daher wuchs ich damit gewissermaßen auf, aber den Soul entdeckte ich durch die Motown-Plattensammlung meiner Mutter – Stevie Wonder, Marvin Gaye, Al Green, die Four Tops, aber auch frühe Sachen wie Mable John, Mary Wells oder Barrett Strong. Ein bisschen davon findet man vermutlich in meinem Gesangsstil wieder. All diese Gruppen zeichnen sich durch tolle Falsettsänger aus. Ich weiß nicht, ob man das, was ich mache, wirklich als Falsett bezeichnen kann, aber es geht schon ein bisschen in die Richtung. Vielleicht könnte man sagen, dass der klassische Power-Rock-Gesang dem Soul-Falsett etwas ähnlich ist. Darüber müsste man mal nachdenken. Jedenfalls ist es auch eine höhere Tonlage.

Soul ist heute ja Mainstream, aber damals war es wirklich Ghettomusik. Natürlich hörten alle Leute in unserer Nachbarschaft diese Sachen, von daher war das schon mal etwas, das man mit den anderen Kindern gemeinsam hatte. Mein Musikgeschmack erweiterte sich dann um viele Sachen, die ich im Radio hörte, und nach einiger Zeit hatte ich eine beeindruckende Sammlung Vinyl-Singles und Cassetten, unter anderem von Deep Purple, The Guess Who, Paper Lace und allen möglichen anderen Bands. Da war ich erst in der sechsten Klasse. Wenn ich jetzt so an die Zeit zurückdenke, dann galt meine zweite große Leidenschaft dem Sammeln von Matchbox-Autos. Vor der Pubertät ist man noch so unstrukturiert. Man denkt an Sex und spielt noch mit Spielzeugautos. Man ist gleichzeitig in zwei Welten. So vieles kann einen beeinflussen. Meist sind es schlechte Einflüsse.

Zwar finanzierte ich mir meine Sammlungen zum Teil von den fünf Dollar, die ich in der Woche von meinem Vater dafür bekam, dass ich das Auto wusch und bei der Hausarbeit half; damals bekam man auf den Flohmärkten für fünf Dollar noch eine ganze Menge. Aber ich drehte auch schon ein paar krumme Dinger. Meine Eltern arbeiteten inzwischen beide, damit wir über die Runden kamen. Sie hatten überhaupt keine Ahnung, was ich so trieb. Schließlich liefen die Dinge völlig aus dem Ruder, und die Polizei erwischte mich in einer Lagerhalle, wo ich am helllichten Tag mit einer Kiste geklauter Gartengeräte unterwegs war. Sie legten mir Handschellen an, schubsten mich in einen Polizeiwagen und fuhren mit mir nach Hause. Meine Eltern waren nicht gerade begeistert. Was dann geschah, weiß ich nicht mehr. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich hart bestraft worden bin. Aber ich erinnere mich nicht mehr daran.

Meine Schwester und ich waren inzwischen die einzigen weißen Kinder in unserer Schule. Die Lage im Viertel wurde immer schlimmer. Wenn wir aus dem Haus gingen, bekreuzigte meine Mutter sich und betete darum, dass keiner von uns eine verirrte Kugel abbekam.

Eines Abends wurden die schlimmsten Befürchtungen meiner Mutter beinahe wahr. Eine Kugel durchschlug die Fensterscheibe des Zimmers meiner Schwester, das zur Straße hinausging. Wir hatten eines dieser Häuser mit einer kleinen Veranda. An den Straßennamen kann ich mich noch erinnern: Dimondale Drive, zwischen der Wilmington Avenue und Del Amo Boulevard. Warte, ich hole schnell mein iPhone raus, wir gucken uns das mal auf Google Maps an. Ich weiß genau, wo es ist. Man fährt auf der 405 nach Carson rein. Hier ist es schon. Wilmington! Hier! Und da ist der Del Amo Boulevard. Und hier … hier ist der Dimondale Drive. Scheiße, ich kann dir mein Haus zeigen! Hier bin ich immer zur Schule gegangen, das ist die Sackgasse gegenüber von unserem Haus. Wir wohnten in Nummer … ich glaube, es war 1836. Das Haus hier! Nein, es war wohl eher 1832. Oder das hier? 1834? Nee, ich erinnere mich doch nicht mehr genau, aber es war bestimmt eines von diesen Häusern. Und wenn man etwas weiter scrollt … hier ist meine Grundschule, die Broadacres Elementary. Es war nicht weit, nur ein paar Straßen. Wow! Scheiße, die gibt’s noch, das haut mich um. Auf der anderen Straßenseite war ein großes, freies Feld – da fuhren wir immer mit dem Fahrrad herum, bis sie später einen Industriekomplex dort bauten. Danach ging es ja los, dass meine Freunde und ich anfingen, dort einzubrechen und irgendwas zu klauen. Auf der anderen Straßenseite waren diese ganzen Lagerhäuser. Gelegenheit macht Diebe, könnte man sagen.

Als das mit der Kugel passierte, saßen wir in der Küche bei einem Brettspiel, die ganze Familie. Unser Haus war so, dass man hier reinkam, rechts war die Garage, die Haustür war in der Mitte und das Schlafzimmer war vorne links. Das Wohnzimmer lag hinter der Küche, und eine große Schiebetür aus Glas führte in den Garten. Dann gab es noch drei weitere Zimmer. Unsere Familie spielte gern, klassische Spiele wie Monopoly, aber auch Karten. Mein Vater und ich spielten auch oft so ein kleines Footballspiel, das man auf den Tisch stellen konnte, mit einem Feld aus grünem Metall und kleinen Figuren, die vibrierten. Wir waren eine ganz normale, solide Familie, würde ich sagen. Vielleicht war ein bisschen viel Alkohol im Spiel. Meine Mom und mein Dad tranken beide ganz gern mal was.

Plötzlich hörten wir Schüsse. Das tat man nun in unserer Gegend ziemlich oft, aber normalerweise nicht so nah. Wir machten das Licht aus und flüchteten ins Wohnzimmer, weil das keine Fenster zur Straße hatte, und dort schliefen wir schließlich auch, auf dem Fußboden. Es war ziemlich Furcht einflößend. Um mich selbst hatte ich gar nicht so viel Angst, aber um meine Eltern. Am nächsten Morgen gingen wir dann ins Zimmer meiner Schwester und sahen, dass ein Einschussloch in der Fensterscheibe war.