Rulantica (Bd. 2)

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Aus der Reihe: Rulantica
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Mats muss immer wieder die Füße wegziehen, damit die scharfen Krallen ihm nicht die Sohlen aufschlitzen. An seinem Kopfende ein ähnliches Spiel, ein Mauk äugt abwechselnd durch die Balken, und sobald er Mats sieht, schiebt er den Schnabel in seine Richtung. Von allen Seiten wird Mats bedroht – er krümmt sich so klein zusammen wie möglich und kann den Angreifern doch nicht komplett ausweichen. Hätte er bloß auf Venn gehört und wäre bei Tageslicht aus der Stadt verschwunden! Venn! Der könnte ihn retten. Soll er nach ihm rufen? Besser nicht, Venn würde es nicht schaffen, zu ihm hochzuklettern, und bei dem Versuch womöglich abstürzen. Mats könnte es sich nie verzeihen, den einzigen Freund zu gefährden, den er je hatte.

Andere Auswege sind allerdings nicht in Sicht, im Gegenteil, einem Mauk über ihm gelingt es, ein großes Holzstück aus der Bank zu meißeln, sein Schnabel pickt durch das Loch und zwickt Mats auf Brusthöhe, nicht tief genug, um ihn zu verwunden, aber er erwischt das Band, an dem seine Amuletthälfte hängt.

»Nein, nein, das bekommst du nicht, du Biest«, ruft er verzweifelt und versucht noch, das Band festzuhalten. Zu spät, samt Anhänger baumelt es im Schnabel seines Angreifers.


»Mrrrrr-KKK«, triumphiert der Vogel. Seine Freunde hören für einen Moment sogar auf, Mats weiter zu belagern, um sich die Beute anzusehen. Die Pause reicht lediglich für ein kurzes Durchatmen, seine Lage ist aussichtslos, früher oder später werden sie seinen Schutzwall weggepickt haben und dann gnade ihm Frigg.

»MRK!«

Das aufgeregte Kreischen verstummt wie auf Knopfdruck. Mats späht durch die Ritzen. Alle Mauks scheinen in dieselbe Richtung nach oben zu blicken, doch er kann nicht erkennen, was sie sehen. Das Schlagen von Flügeln kündigt einen weiteren Vogel an, dann biegen sich die Balken über Mats, als der Neuankömmling auf der Bank landet. Eine Klaue, die um einiges ausladender ist als die der anderen Mauks, gräbt sich in das Loch über Mats’ Brust, mehr kann er immer noch nicht sehen. Trotzdem vermutet Mats den Anführer der Mauks über sich, warum sonst sollten sie so ruhig sein. Wenn er recht hat, wird dieser Riesenvogel über sein weiteres Schicksal entscheiden, ihn seiner Meute endgültig zum Fraß vorwerfen oder ihn sich selbst zum Abendessen einverleiben. Einwenden kann er dagegen kaum etwas, sie werden nicht auf ihn hören, aber er muss es wenigstens versuchen.

»Ich wollte euch nichts tun! Auch keines eurer Eier stehlen.«

Was treibt er da? Wie kommt er darauf, mit ihnen reden zu können? Außer Kreischen hat er nichts von ihnen verstanden, warum sollte das umgekehrt anders sein? Die Tatsache, dass er plötzlich mit Venn sprechen kann, muss ihn total verwirrt haben! Mats zieht die Beine enger an den Körper, faltet die Hände über dem Kopf und stellt sich auf die finale Attacke ein. Wie erwartet legen die Mauks wieder los. Mrk hier, Mrk dort und alle hacken auf die Bank über ihm ein.

Finja

Finja fischt mit den Fingern noch ein paar Seespargelstängel aus der großen Kalkschale. Einen davon hält sie hoch und sofort ist Snorri bei ihr.

»Smm!«, schmatzt er und stibitzt sich mit seinen sechs Fangarmen abwechselnd die besten Happen, sobald ein Meermensch seinen Muschelteller unbeaufsichtigt lässt. Soll er! Heute ist ein Festtag, auch für den kleinen Sixtopus! Finja lächelt hinüber zu Kailani und Bror, ihrem Ziehvater, der inzwischen ebenfalls als Gast an der Ehrentafel Platz nehmen durfte. Es ist wunderbar, wieder einmal einen ganzen Tag mit allen zu verbringen! Ein perfekter Odins-Dank-Tag. Na ja, fast perfekt. Bis auf die Sache mit dem verpassten Sieg. Wie konnte Exena ihrem Bruder das antun? Er war eindeutig als Erster im Ziel. Immer, wenn Finja glaubt, einigermaßen mit der Anführerin der Quellwächter klarzukommen, passiert wieder so was Dummes. Sie legt es darauf an, von allen gehasst zu werden! Obwohl – heute hat sie denjenigen zum Sieger gekürt, den die allermeisten in der Eisstadt feiern wollten.

Finja schämt sich, weil sie so denkt, aber Mats ist nicht sonderlich beliebt in der Unterwasserwelt. Also zumindest nicht bei den Jungwächtern, mit denen sie ihre Ausbildung absolvieren. Woran das wohl liegt? Sie kommt doch auch mit den meisten klar. Mit Ilai kann sie sich prima im Zweikampf messen, Xizir und sie geben sich gegenseitig Tipps in Wasser- und Eismagie, und Timur rechnet sie immer noch hoch an, dass er sie damals, kurz bevor sie Rulantica verlassen hat, sogar vor Usgur in Schutz genommen hat. Trotzdem vermisst sie Aquamaris. Manchmal ist ihr die Verantwortung, die auf ihren Schultern lastet, zu groß. Dann wünscht sie sich, einfach wieder Aquina, die Sirene, zu sein, die in den Tag hineinleben durfte. Gleichzeitig ist es ein geniales Gefühl, dass Mama Kailani und sogar Exena ihr zutrauen, eines Tages Rulantica von dem Fluch zu befreien. Zusammen mit Mats – obwohl sich Finja nicht sicher ist, was Exena ihrem Bruder zutraut, erst recht nicht nach dem Rennen heute. Wäre das schön, wenn sie eines Tages völlig frei wären! Sie könnte mit Mats abwechselnd in seiner Stadt und in Aquamaris leben oder die ganze Welt bereisen …

»Jade und Orchid haben sich nach dir erkundigt«, platzt Bror in Finjas Grübelei.

»Wie geht es ihnen?«, erkundigt sich Finja sofort.

»Gut«, sagt Bror. »Jade war neulich sogar besser als Larima beim Skjol.«

Das versetzt Finja einen Stich. »Oh, da wäre ich gerne dabei gewesen. Larima war bestimmt blass und giftig wie Krötenschleim.«

»Finja!«, tadelt Kailani, allerdings in ausgesprochen mildem Ton. »Schadenfreude steht dir nicht!«

»Das war nicht gegen Larima gemeint, ich freue mich nur für Jade«, verteidigt sich Finja. »Weil ich sie und die anderen vermisse, versteht ihr? Nicht so sehr wie euch, aber auch ziemlich«, fügt sie schnell hinzu.

»Natürlich verstehen wir das!«, schaltet sich Bror wieder ein. »Es geht uns doch nicht anders!«

Kailani nickt. »Ich werde nachher mit Exena sprechen. Sie muss dich einfach öfter zu uns nach Aquamaris lassen. Ihre Disziplinmaßnahmen hin oder her, aber du gehörst eben genauso zu uns wie zu den Quellwächtern. Zu einer besonderen Stellung gehört auch ein besonderes Maß an Freiraum!«

»Und Mats?«, rutscht es Finja heraus.

Kailani blinzelt irritiert. »Der darf selbstverständlich mitkommen, er ist im Muschelpalast genauso willkommen wie du, das weißt du doch!«

»Das meine ich gar nicht«, sagt Finja. »Für ihn hast du dich vorhin nicht eingesetzt, als Exena ihm den Sieg weggenommen hat.«

»Das ist etwas ganz anderes!«, sagt Kailani. »Ich würde es auch nicht dulden, wenn Exena sich in meine Angelegenheiten in Aquamaris einmischt. Umgekehrt muss ich in ihrem Reich ihre Entscheidungen akzeptieren. So haben wir es vor vielen Jahren vereinbart.«

»Außer, wenn sie mir nicht erlaubt, euch zu besuchen. Damit stellst du ihre Regeln doch genauso infrage!«, beharrt Finja. Sie nimmt in Kauf, Kailani durch ihre Hartnäckigkeit zu vergrollen. Sosehr sie sich die Lockerung des Ausgangsverbots wünscht, so wenig kann sie Mats verletzten Gesichtsausdruck vergessen. Er ist schließlich ihr Zwilling. Sie kann fühlen, was er fühlt, selbst wenn sie leider immer häufiger anders empfindet als er. Klingt verwirrend und das ist es auch. In der fremden Menschenwelt war sie ihm viel näher als hier, obwohl es in der Unterwasserwelt viel, viel schöner ist. Sie nimmt Mats überallhin mit, aber er sagt wenig bis gar nichts. Ist das vielleicht der Grund, warum außer ihr noch niemand erkannt hat, wie liebenswert er ist? Ob es heute anders gelaufen wäre, wenn außer ihr noch jemand gegen Exenas Entscheidung protestiert hätte?

Aber sie kann nicht mehr für ihn tun, wenn nicht einmal Kailani es wagt.

»Ach, Aquina«, seufzt Kailani.

»Finja«, korrigiert Bror sanft und seufzt ebenfalls.

Finja betrachtet die beiden, von denen sie so lange dachte, dass sie ihre Eltern sind. Niemand spricht es aus, aber genau das ist der Unterschied zwischen ihr und Mats: diese zwölf Aquina-Jahre.

Jetzt seufzt auch Finja.

In diesem Moment beugt Snorri sich kopfüber in die Kalkschale, um die letzten Spargelspitzen zu erwischen. Als er den Kopf zurückzieht, sitzt die Schale fest auf seinem Kopf. Das scheint ihn weniger zu stören als Exena, die zornig versucht, ihm die Schüssel abzujagen.

»Das kann sie vergessen«, lacht Kailani, sichtlich erleichtert über die Ablenkung. »Snorri hat schon früher gerne alles Mögliche auf den Kopf gesetzt, deshalb haben wir ihm irgendwann einen Helm überlassen. Das wird nicht einmal Exena ihm abgewöhnen können!«

»Ich werfe den frechen Sixtopus aus meiner Stadt!«, brüllt Exena am Kopfende der Tafel, wobei selbst Usgurs Mundwinkel verdächtig zucken.

Nur Finja fühlt mit einem Mal einen dumpfen Schmerz in Brust und Magen. Was ist los? So viel hat sie nun auch wieder nicht gegessen … Nein, irgendetwas stimmt nicht! Hektisch blickt sie sich um. Wo steckt Mats eigentlich?


GRÅ


»MRK!«

Stille.

»Mrk, ein Mensch. Mit zwei Beinen. Seit Jahrren hat sich keinerr zu uns verirrrt!«

Ungläubig lauscht Mats den Worten. Das bildet er sich doch bloß ein. Diesmal ist es ganz bestimmt nur eine Stimme in seinem Kopf. Vorsichtshalber fragt er nach.

 

»Wieso kannst du meine Sprache?«

Die Antwort ist eine Gegenfrage: »Mrk, woherr hast du das Amulett?«

Das ist eine längere Geschichte, denkt Mats. Da er nicht sicher ist, ob der Mauk ihm so lange bereitwillig zuhört, selbst wenn er sich das alles nicht nur einbildet, entschließt er sich zur Kurzfassung.

»Von meiner Mutter.«

Die Balken über ihm fangen gefährlich an zu wippen, offensichtlich ausgelöst durch den auf und ab hüpfenden Riesenvogel.

»Mrk, werr ist deine Mutterr?«

»War«, sagt Mats mit belegter Stimme. »Vivika Stenrokk.«

»Mrk, bedauerrlich!«

Jetzt ist es an Mats, unter der Bank zu zappeln.

»Du, du kanntest sie?«

»Mrk, könnte sein!«

»Ich leider nicht«, rutscht es Mats heraus.

»MRK!«

Die Bank knarrt und die Balken drücken sich auf Mats’ Brustkorb.

»MRRRK!«

»Was sagst du?«

»Mrk, das warr nicht für dich bestimmt, sondern für meine Scharr. Sie forderrn deinen Tod.«

»Nein, bitte, ich wollte wirklich nicht …«

»MRK – still, Mensch! Das entscheide ich! Jetzt komm rraus, damit ich dich sehen kann!«

Alles in Mats sträubt sich. Wieso sollte er freiwillig den einzigen Ort verlassen, der ihm etwas Schutz gibt?

Rums, der spitze Schnabel dringt nur wenige Zentimeter neben seinem Kopf in das Holz ein, als wäre es nicht viel mehr als Schaumstoff.

»MRRK! Du hast keine Wahl!«

Der Angstschweiß rinnt Mats in Sturzbächen von der Stirn. Egal, was er tut, er ist den Vögeln ausgeliefert. Die spitzen Schnäbel müssen nur einmal zustechen. Aber auf Dauer ist sein Platz unter der Bank sowieso nicht sicher, er kann sich genauso gut gleich stellen. Und immerhin kannte der Mauk seine Mam, was auch immer das bedeutet.

Mats streckt vorsichtig die Gliedmaßen aus. Wie hat er es jemals durch den schmalen Spalt unter die Bank geschafft? Oder ist er in der letzten Viertelstunde dicker geworden? Mit Ach und Krach und einigen Abschürfungen kriecht er unter der Bank hervor. Erschöpft bleibt er auf dem Rücken liegen und schielt nach oben. Über ihm auf der Bank thront ein gigantischer Vogel, er überragt die anderen um Längen, aber vor allem sind seine Federn nicht schwarz, sondern grau, als wären sie im Lauf der Jahre ausgeblichen. Auch seine Schnäbel leuchten kaum mehr, sondern sind schmutzig gelb mit einigen Scharten von den Kämpfen, die er damit zweifelsohne gefochten und gewonnen hat. Denn egal wie alt dieser Mauk auch sein mag, seine aufrechte Haltung und sein alles durchdringender Blick lassen keinen Zweifel daran, dass er immer noch der stärkste und klügste seiner Schar ist. Der wahre König der Insel Rulantica. Und er, Mats, liegt hier vor ihm auf dem Rücken wie ein hilfloser Käfer.

Der Vogel beugt sich über ihn, die beiden Schnäbel kommen seinem Gesicht verflixt nahe. Erst jetzt fallen Mats die stechenden Augen auf, die von gelben Federn umrandet werden wie von einer Maske. Das betont ihren starren Raubvogelblick, unter dem sich Mats kleiner als eine Maus vorkommt. Er wagt es nicht, auch nur zu blinzeln. Der Halsflaum des Mauks plustert sich auf, er bläst ein wenig Luft durch seinen krummen Schnabel und pustet damit Mats’ rote Haarsträhnen aus seiner Stirn.

»Mrk, gut fürr dich, du siehst ihrr ähnlich! Auch wenn du dich seit unserrerr letzten Begegnung sehrr verränderrt hast.«

Der graue Mauk hüpft zurück, um Mats von oben bis unten zu begutachten. Bisher haben die anderen Mauks sich das Spektakel einigermaßen ruhig angesehen, in einem dichten Ring um Mats und die Bank herum. Doch kaum rückt der große Graue etwas von Mats ab, schiebt sich ein schwarzer Vogel an ihn heran, pickt ihn an der Fußsohle und setzt an, ihn aufzuspießen.


»Auaa!«, schreit Mats.

Flap, flap – Mats hört die Flügelschläge mehr, als er sie sieht, aber vor allem spürt er die Bewegung in der Luft. Sie fährt ihm unter die Haare, unter den Rücken und hebt ihn an.

Flap, flap – der schwarze Mauk an seinem Fußende schlägt ebenfalls mit den Flügeln. Mats schwebt einen Meter über dem Boden und kann nichts dagegen unternehmen, er wird zwischen den beiden Raubvögeln hin- und hergezerrt wie ein Spielzeug.

»MRK!«

»Mrk!«

»MRRRKK!«

»Mrk!«

Auch ohne Worte versteht Mats den Machtkampf. Am Ende lässt der schwarze Angreifer als erster von ihm ab. Mats rutscht auf den Boden zurück. Der schwarze fliegt auf und verlässt mit einem letzten »Mrk!« den Raum. Ein paar graue Schwingen breiten sich über ihn. Mats versucht, in dem unbewegten Vogelgesicht und den stechenden Raubvogelaugen zu lesen. Was bedeutet das? Hat der Anführer ihn gerettet? Oder hat er ihn lediglich als Beute für sich beansprucht? Der graue Mauk hebt einen seiner mächtigen Flügel und tastet mit dem spitzen Schnabel die langen Flugfedern ab. Dann lässt er etwas Goldenes vor Mats’ Gesicht baumeln.

»Mrk, es gehörrt dirr!«

Zögernd greift Mats zu.

»Danke. Heißt das, du tötest mich nicht?«

»Mrk, noch nicht.«

Langsam atmet Mats aus. Seine zitternden Finger halten sich an dem Amulett fest. Sein Fuß tut weh, aber sonst scheint noch alles dran zu sein. Behutsam wechselt er in den Schneidersitz und legt sich das Amulett um den Hals. Jetzt nur nicht durchdrehen! Irgendwie diesen Vogel bei Laune halten …

»Du kanntest also wirklich meine Mutter?«

»Mrk, selbstverrständlich. Ich habe Vivika errlaubt, in einem unserrerr besten Nistplätze zu leben, nachdem sie …« Er zögert.

»Nachdem sie was?«, fragt Mats.

»Mrk, warrte«, fordert der graue Mauk und deutet zu seinen schwarzen Untertanen, die mit meist schief gelegten Köpfen weiterhin sehr aufmerksam beobachten, was sie da treiben, jederzeit bereit, Mats erneut anzugreifen, sollte er den Eiern oder ihrem Chef auch nur eine Feder krümmen. Der Graue richtet sich zu seiner vollen Größe auf.

»Mrk, sie beherrrschen eurre Sprrache zwar nicht, dennoch folge mirr!«

Er schlägt einmal mit den Flügeln, stoppt aber, bevor er abhebt, und mustert Mats, der versucht, sich aufzurappeln.

»Mrk, Zweibeinerr …«, krächzt er verächtlich.

Statt zu fliegen, stakst er davon. Trotz seiner Größe und seines Gewichts überraschend behände krallt er sich über die losen Holzlatten und Lücken in den Holzböden. Bereits in der übernächsten Hütte fällt es Mats schwer, Schritt zu halten.

»Warte, ähm, Mauk – bitte, ich kann nicht so schnell!«

Der Riesenvogel dreht leicht den Kopf. »Mrk, Grrå nennt man mich. Wenn ich auf zwei Beinen gehen kann, dann sollte es dirr ebenfalls gelingen!«

»Aber du kennst dich in der Stelzenstadt aus und ich nicht«, wendet Mats ein.

»Mrk, wie deine Mutterr, immerr das letzte Worrt!«

Unwillig pickt der große Vogel in die Luft.

»Erzählst du mir jetzt, warum du sie hier hast wohnen lassen?«, lenkt Mats ab und versucht schnaufend, den Abstand zwischen sich und Grå zu verkürzen.

»Mrk, und genauso gewitzt wie sie!« Es klingt fast, als würde der Riesenvogel ihn auslachen. »Mrk, nun gut, du magst ein Rrecht haben, es zu hörren. Auch dem König der Lüfte kann ein Ungeschick passieren. In einem Kampf, den ich gegen einen Hai austrrug, verbiss ich mich mit beiden Schnäbeln im Schiffsmast von einem der Wrracks am Goldstrrand. Du weißt, wo das ist?«

Mats nickt. Finja hat ihm den Strand gezeigt.

»Mrk. Dorrt saß ich mit offenem Hauptschnabel, hätte ich ihn geschlossen, hätte der Splitterr mirr beide Schnäbel durchbohrrt. Mit geöffnetem Schnabel wiederrum warr ich wehrrlos und dazu verrdammt, frrüher oder späterr zu verhungerrn.«

»Klingt übel!«, meint Mats.

»Mrk, und hätte mich ein krräftiger Jungvogel meiner Scharr, so einerr wie derr, mit dem ich mich gerrade messen musste, vorrgefunden, wärren meine Königstage schnell beendet gewesen.«

Mats zählt eins und eins zusammen. »Aber meine Mutter hat dir geholfen?«

Grå nickt. »Mrk, sie warr kurrze Zeit vorrherr gestrrandet und errkannte trrotz ihrrerr misslichen Lage auch die meine. Deine Mutterr … Vivika … sie warr furrchtlos, frreundlich und hilfsberreit. Eine seltene Kombination. Durrch sie habe ich die Vorrzüge von Händen und Fingerrn errkannt. Voherr hätte ich jederrzeit unserre Flügel eurren Arrmen vorrgezogen.«

Mats betrachtet seine Hände, ballt sie zu Fäusten, streckt die Finger wieder aus und zappelt mit ihnen herum. Bisher hat er seine Hände ganz selbstverständlich benutzt, aber wenn er jetzt so darüber nachdenkt, kann er damit tatsächlich eine Menge anfangen, sich festhalten, ziehen, schieben, drücken, etwas hochheben, sich kratzen und nötigenfalls sogar in der Nase bohren. Das alles können die Mauks und viele andere Tiere nicht.

»Dafür kannst du fliegen«, murmelt er.

»Mrk, Fliegen ist kaum zu überrtrreffen, wenn man nicht gerrade ein Holzstück im Schnabel hat«, gibt Grå zu.

»Aber meine Mutter konnte es herausziehen?«

Grå schüttelt sein Gefieder, als würde er sich nicht gerne daran erinnern. »Mrk, eine Qual, die mit Qual beendet wurrde.

Zum Dank bot ich Vivika die Behausung an, die wir dorrt drrüben …«, er deutet mit den Schnäbeln an den Rand der Siedlung, »… gleich betrreten werrden!«

Zu der Scheu, die Mats immer noch vor dem unheimlichen Vogel hat, mischt sich Neugier. Endlich hat er jemanden gefunden, der ihm mehr über seine Mam erzählen kann!

»Ich möchte so gerne verstehen, wie meine Mam hier gelebt hat und was genau passiert ist!«

»Mrk, wirr warren frriedliche Nachbarrn«, behauptet der Mauk. »Vielleicht hätte ich euch sogarr in die Menschenwelt geflogen. Obwohl noch nie ein grroßer Mauk frreiwillig ein anderres Lebewesen auf seinem Rücken getrragen hat. Aber sie hat sich lieberr heimlich bei Nacht und Nebel mit euch davongestohlen.«

Der Mauk schnaubt verächtlich, und seine Augen funkeln böse zu Mats, als wäre er schuld daran, dass seine Mam sich davongestohlen hat.

Er muss schnell etwas finden, um den Riesenvogel zu besänftigen.

»Dann seid ihr Mauks nicht an die Drei-Meilen-Zone gebunden?«

Grå richtet sich auf. »Selbstverrständlich nicht, wirr haben uns keinen Ärrgerr mit den Götterrn eingehandelt, und es ist nicht unserre Aufgabe, auf diese vermaledeite Quelle zu achten. Uns gehörrt seitherr die Insel und wirr müssen sie nicht mehrr teilen!«

»Als Finja und ich das letzte Mal auf der Insel waren, sind uns noch ein paar andere Wesen begegnet. Sie sahen aus wie Steine, haben sich aber bewegt.«

»MRK, die einfältigen Steintrrolle! Wirr dulden sie auf den Matschwiesen und in den Felsentümpeln, solange sie keinen Schaden anrrichten, aberr wirr haben die Herrrrschaft überr Rrulantica!«

»Aha«, meint Mats, weil er nicht weiß, was er sonst dazu sagen soll.

Sicher ist er sich bisher nicht, was er von dem grauen Mauk halten soll. Grå war Vivika auf seine eigenwillige Art für die Rettung dankbar. Wie aber seine Mutter wiederum zu Gråstand, darauf kann sich Mats noch keinen Reim machen. Hat sie sich gut mit ihm gestellt, weil sie seinen Schutz dringend brauchte, oder hat sie ihm wirklich vertraut? Ohne Zweifel profitiert er im Moment von dem freundschaftlichen Verhältnis, sonst hätte Grå ihn nicht vor den Angriffen seiner Schar bewahrt.

Wenn Mats allerdings an die freundlichen Steintrolle denkt, die ihm und Finja ohne großes Tamtam den Weg freigeräumt haben, als sie dringend zur Quelle mussten, um sie vor Malus zu schützen, dann ärgert er sich über Grås überhebliche Bemerkung. Und er schämt sich, weil ihm einfällt, dass er und Finja sich bisher nicht bei den Trollen bedankt haben, obwohl sie das ganz fest vorhatten. Ihr hübsches grünes Tal hatte außerdem nichts mit einer Matschwiese zu tun. Im Gegenteil, bei den Steintrollen war es viel sauberer und aufgeräumter gewesen als hier bei den stolzen Mauks, und vor ihnen hatte er keine Angst, obwohl sie ebenfalls riesig waren. Bei Grå behält er besser weiter die beiden Schnäbel im Auge …

»Mrk, wirr sind da!«

Sie stehen am Rand der Stelzenstadt und Mats klappt vor Staunen die Kinnlade nach unten. Das Haus hat nichts, aber auch gar nichts mit den verfallenen, verwahrlosten Hütten gemein, durch die sie bisher geklettert sind. Die Holzlatten sind fein säuberlich abgeschliffen und ordentlich nebeneinander festgenagelt. Das Dach wirkt wie frisch mit weißer Kalkfarbe gestrichen und am First hängt eine Tafel, auf der Stenrokks Hydda steht. Gleich vor dem Eingang gibt es eine Art Hängematte aus Holzpflöcken und einem Netz.

 

»Mrk, hierr saß deine Mutterr oft mit Blick aufs Meer und warrtete auf deinen Vaterr.«

Mats nickt, das kann er sich gut vorstellen, die Sehnsucht nagt in ihm. Erst recht als er neben dem Türrahmen statt einer Klingel das ins Holz eingeritzte Herz entdeckt, in dem er VivikaFalor entziffern kann.

Ach, hätte er die beiden doch kennengelernt! Er tritt ein und fühlt sich seinen Eltern so nah wie noch nie. Vivika hat aus Schilfblättern eine Art Fußabstreifer geflochten. Daher hat also Finja ihr Talent für die Flechterei!

Die Hütte sieht ganz anders aus als jedes Wohnhaus, in dem Mats bisher war. Alles ist aus Holz, grob behauen, ohne Schmuck und Schnörkel, reduziert auf die Funktion, die jedes Möbelstück erfüllen soll – abgesehen von einem Schreibtisch, der total aus der Reihe tanzt mit seinen filigranen Schubladen, Griffen und Schlössern und den gedrechselten Einsätzen.

Als Erstes setzt Mats sich auf die schlichte Bank. Der Tisch davor wackelt, als Mats sich darauf lehnt, weil zwei seiner Holzbeine ein wenig kürzer geraten sind als die anderen. In der Tischmitte steht eine Vase. Mit den Fingerspitzen streicht er vorsichtig über die Dellen an der Oberfläche. Haben die Hände seiner Mam dieses kleine Gefäß geformt? Der Blechteller, die Blechtasse und das Besteck, die daneben liegen, stammen vermutlich aus dem Fundus der versunkenen Schiffe. Darauf ist ein Wappen in Form eines Steuerrads zu sehen, das Mats’ Verdacht bekräftigt.

»Woher hatte meine Mam ihre Einrichtung?«, fragt er trotzdem bei Grå nach.

»Mrk, sie hat vieles selbst hergestellt mit dem Werkzeug von ihrrem eigenen Boot. Manches ist Strrandgut oder Falorr hat es für sie herraufgetaucht. Err warr jedes Mal überrglücklich, wenn sie es gebrrauchen konnte.«

Mats bekommt wieder ein ganz kribbliges Gefühl, wenn er sich vorstellt, wie sein Dad seiner Mam aufgeregt den Teekessel, der über einer Feuerstelle an einer Eisenkette baumelt, überreicht hat. Oder den Schreibtisch. Wahrscheinlich hat er vorher einem Kapitän gehört, deshalb ist er an einigen Stellen aufgequollen, doch an sich noch erstaunlich gut in Schuss. Wie überhaupt das ganze Haus. Es ist zu erkennen, dass es vor einiger Zeit verlassen wurde.

Ziemlich genau vor zwölf Jahren, kurz nach meiner Geburt, wird Mats bewusst.

Trotzdem fühlt er sich richtig wohl und geborgen. Fast als wäre seine Mam nur eben gerade zur Tür raus.

»Mrk, ich habe meinerr Scharr nicht errlaubt, das Haus als Nest zu nutzen, für den Fall, dass sie wiederrkommt«, krächzt Grå leise.

Mats’ Bedenken gegen ihn beginnen weiter zu schwinden. So etwas tut nur, wer ein wahrer Freund ist, und ein Freund seiner Mam verdient sein Vertrauen. Er lächelt zu dem grauen Mauk hoch.

»Danke. Ich bin froh, dass ich sie auf diese Weise wenigstens ein bisschen kennenlernen kann.«

»Mrk, nur zu, bleib, solange du willst!«

Solange er will? Mats merkt, wie erschöpft er ist, ihm stecken ein Rennen und eine nervenaufreibende Suche in den Knochen. Das leinenbezogene Bettlager hinten in der Ecke lockt leise, doch vernehmlich. Was, wenn er sich einfach kurz ausstreckt, nur einen kleinen Moment genießt, Mam so nahe zu sein …

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