Rulantica (Bd. 2)

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Aus der Reihe: Rulantica
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Mist, dann hat ihn wahrscheinlich das halbe Feld überholt. Rasch blickt er sich um. Etwas höher, aber noch hinter ihm, nähern sich ebenfalls Reiter. Ein Kelpie zieht eine blaue Blutspur durchs Wasser, vermutlich wurde es von den Eisblumen getroffen, was seinem Reiter allerdings völlig egal ist, er treibt es mit dem Zweizack an.

»Jetzt aber schnell!«, ruft Mats.

Er zieht sich zurück auf Venns Rücken, klammert sich mit den Beinen und Armen fest und überlässt ihm das Rennen. Venn fliegt förmlich durch das Wasser und wäre beinahe ungebremst dem nächsten Hindernis in die Seite gerast. Gerade noch rechtzeitig zieht Mats an seiner Mähne und bringt ihn zum Halten. Ein riesiger Eishai versperrt mit seinem massigen Körper der Länge nach den Weg. Aus der Ferne hätte man ihn für einen Teil der Felsen halten können. Seine Haut ist genauso grau und zerklüftet. Leider ist er aber sehr viel gefährlicher mit seinem Maul voller spitzer Zähne, mit denen er Mats problemlos beide Beine oder gleich den ganzen Kopf abbeißen könnte.

»Eishaie sind Exenas Lieblinge«, murmelt Mats. »Aber wie kommen wir an ihm vorbei, ohne dass er uns in Stücke reißt?«

Wie zum Beweis seiner Bösartigkeit lässt der Hai seine Zahnreihe blitzen, kommt aber nicht näher. Noch nicht.

Venn schnaubt. Es klingt wie: »Unberechenbar!«

Und damit hat er völlig recht! Exenas Haie sind unberechenbar und können extrem schnell zubeißen.

»Dann sind wir eben auch unberechenbar!«, beschließt Mats.

Doch womit würde der Hai nicht rechnen? Oder im Gegenteil, womit rechnet er? Flucht oder Angriff!

»Wir machen keines von beiden!« Mats flüstert Venn seine Strategie ins Ohr.

»Vollstoff voraus!«, ruft er dann und sie halten im gestreckten Wassergalopp auf den Eishai zu. Der Hai wendet sich ihnen zu. Er erwartet den Angriff! Aber der kommt nicht. Kurz bevor der Hai zuschnappen kann, legt Venn eine Vollbremsung hin, und sie drehen sich blitzschnell in die Richtung, aus der sie gerade gekommen sind. Mats schielt über die Schulter. Der Hai glotzt ihnen kurz mit seinen trüben Augen hinterher, will sich gerade wieder umdrehen, als Venn mit seinem Fischschwanz ausholt. Mit voller Wucht klatscht er dem Hai auf die Nase, erst von der einen, dann von der anderen Seite und schließlich noch einmal kräftig in die Mitte. Bevor der Eishai kapiert, wie ihm geschieht, macht Venn erneut eine Kehrtwende und taucht unter ihm durch. Mats hält den Atem an. Wenn der Hai sie jetzt verfolgt, wird es eng. Diesmal traut er sich kaum nachzusehen. Als er es doch wagt, hat der Eishai sich in eine Felsspalte zurückgezogen, den Kopf hält er leicht gesenkt, wahrscheinlich brummt er ordentlich. Er macht keinerlei Anstalten, sie zu jagen.

»Joho, wir haben einen Hai geohrfeigt«, freut sich Mats, »der hat für heute mehr als genug!«

Hinter dem Felsenriff taucht die Silhouette der Eisstadt auf. Die letzten Meter des Løp warten auf sie. Mats’ Herz klopft bis zum Hals. Wie gut liegt er noch im Rennen? Haben sie zu lange im Kelpwald festgesteckt? Wie viele seiner Gegner hat der Hai aufgehalten? Nach ihm sicher keinen mehr! Aber wo sind die anderen?

Als ob sich durch Mats’ Gedanken eine Schleuse geöffnet hätte, kommt Bewegung in das Meer um ihn herum. Erst jetzt bemerkt er die Steinaugen, die sternförmig zum Eingang der Eisstadt führen.

Hinter ihm, neben ihm und vor ihm – überall erscheinen andere Reiter.

»Gå, gå, gå«, treiben sie ihre Kelpies an.

Besonders lautstark ist Halvor zu vernehmen, der sein Kelpie Kleng anfeuert. Sowohl um Klengs als auch um Halvors Hals hängen einige Tangblätter.

Mats schöpft neuen Mut. Wenn selbst der erfahrene Quellwächter im Kelpwald aufgehalten wurde und nicht bereits am Ziel ist, dann ist es noch nicht zu spät! Er beugt sich vor zu Venns Ohr und flüstert: »Vielleicht können wir das Rennen gewinnen!«

Er lässt seinem Kelpie freien Lauf. Ohne Tritte und ohne Geschrei, er weiß, dass Venn den Sieg genauso will wie er. Je näher sie dem Tor kommen, desto enger wird es. Zwei Reiter kommen nahezu zeitgleich von beiden Seiten auf Mats und Venn zugeschossen. Wenn sie nicht ausweichen, werden Mats und Venn eingequetscht, und genau das scheint die Absicht der zwei Reiter zu sein.

Die lange sehnige Quellwächterin zu Mats’ Rechter zückt bereits ihren Zweizack, der Reiter auf seiner Linken brüllt: »Aus dem Weg, Anfänger! Oder du wirst es bereuen!«

Aber Mats will ihnen den Vorsprung nicht überlassen, nicht so kurz vor dem Ziel. Wenn er sie jetzt vorbeilässt, hat er seine Chance verzockt. Oder … Mats hat eine Blitzidee. Er drückt seine Arme um Venns Hals und drosselt seinen Galopp. Venn wölbt den Hals und bockt.

»Verlange nicht von mir, mich dem Sturm zu beugen!«

»Vertraue mir«, erwidert Mats. »Und sieh, was passiert!«

Mats und Venn bleiben zurück, die beiden Konkurrenten rasen weiter voran, jetzt aber nicht mehr mit Mats in der Mitte, sondern direkt aufeinander zu. Unweigerlich prallen sie zusammen. Die Quellwächterin wird aus dem Sattel gehebelt, kann aber im selben Moment noch ihre Waffe werfen, sie landet im Oberschenkel ihres Widersachers. Der brüllt wieder, diesmal vor Schmerzen.

»Puh, das war knapp!«

Viel Zeit hat Mats nicht, um sich zu freuen. Durch den Crash wittern alle die Gelegenheit, hauchdünn liegt Mats vorne. Venn schlägt mit seinem Fischschwanz und holt so weit und kraftvoll mit den Vorderbeinen aus, wie er kann. Er schnellt auf das Tor zu, sodass Mats beinahe schwindlig wird. Sie werden es schaffen! Direkt hinter ihnen schnaubt ein anderes Kelpie. Aber diesmal dreht Mats sich nicht um. Egal wer das ist, er und Venn sind schneller. Sie preschen in die finale Runde um den Kampfplatz herum zur Tribüne. Der nahe Sieg verleiht ihnen Flügel. Sie rennen und rennen und rennen, als ginge es um ihr Leben. Ein Gitter aus Zweizacken taucht vor ihnen auf, ohne zu zögern, springt Venn darüber. Auf der anderen Seite werden sie von einem Hagel aus Eispfeilen empfangen. Geschmeidig duckt Venn sich unter ihnen weg.

»Vorsicht, da bildet sich ein Strudel«, erkennt Mats, aber da ist Venn auch schon ausgewichen. Nur noch wenige Meter!

Hinter sich hört Mats das markerschütternde Geschrei von Halvor, als er mit Venn über die Ziellinie galoppiert – vor sich sieht er das strahlende Gesicht von Finja, die neben Kailani, Exena und Usgur die Reiter erwartet, alle vier sind von ihren Sitzen aufgestanden.

Der Moment ist Zeitraffer und Zeitlupe in einem. Mats’ Puls rast, sein Kopf kommt kaum hinterher.

Erster!

Sie haben wirklich gewonnen! Das Glücksgefühl in Mats’ Bauch ist unbeschreiblich und doch kann er es kaum fassen. Sein sehnlicher Wunsch ist in Erfüllung gegangen. Gleich werden sie ihn auf den Schultern tragen, ihn feiern, endlich wird er ein richtiger Teil ihrer Gemeinschaft! Mats rutscht von Venns Rücken und umarmt seinen Freund.

»Danke, danke, danke – du bist der Beste!«

Erste vereinzelte Jubelrufe der Zuschauenden, die um den Platz stehen – Finja wirbelt auf und ab und deutet mit breitem Grinsen auf den Kranz aus Eiszapfen und die Eiskrone, die für den Sieger vor Exena auf einem Tisch bereitliegen. Snorri versucht auffällig unauffällig, mit seinen Fangarmen nach den Gegenständen zu angeln. Mats schmunzelt in sich hinein: Typisch für die beiden, es geht ihnen nicht schnell genug, sie würden sich am liebsten die Utensilien schnappen und ihm und Venn persönlich überreichen. Aber das ist selbstverständlich Exenas Aufgabe.

Er blickt zur Anführerin der Quellwächter. Ihre Miene ist wie immer undurchdringlich, auch an so einem Tag kein Hauch von einem Lächeln – die hat sich echt unter Kontrolle! Endlich erhebt sie die Stimme.

»Werte Teilnehmer, werte Gäste und Quellwächter, wieder haben wir ein spannendes Løp erlebt, mit dem wir unseren Retter, den Gott Odin, erfreut hätten, zeigt es doch, dass wir alle Kräfte sammeln, um seinen Auftrag auch weiterhin zu erfüllen und die Quelle zu schützen, die er uns anvertraut hat.«

Zustimmendes Gemurmel von allen Seiten.

Exena fährt fort: »Am Ende war es ein enges Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen Halvor und Zwart, und ich darf nun mit Freude verkünden, dass wir nach langer Zeit wieder einen Sieger haben, der sich die Ehre zum zweiten Mal hintereinander verdient hat: Tritt vor, Halvor, ich verleihe dir die Eiskrone!«

Für den Bruchteil eines Herzschlags schweigt der gesamte Platz. Es kommt Mats vor, als würden alle ihn mustern, doch dann bricht der Applaus los, sie haben die Hände in die Höhe gestreckt und beklatschen Halvor, begleitet von tiefen Huh-huh-huh-Rufen, wie es bei den Quellwächtern üblich ist.

Halvor tritt vor zur Tribüne, reckt die Faust in die Höhe und macht mit einem Urschrei seiner Freude Luft.

Nur Finja und Snorri, die immer noch hinter Exena auf der Stelle paddeln, sehen genauso verwirrt aus, wie Mats sich fühlt. Instinktiv sucht er Halt bei Venn. Das Kelpie bläst trübsinnige Luftblasen ins Wasser. Wie Mats kaut er an dem Schock. Sind sie etwa unsichtbar und Exena und Usgur haben nicht bemerkt, dass eigentlich er und Venn gewonnen haben? Oder irrt er sich und Halvor und sein Kelpie waren tatsächlich vor ihnen da?

Nein, nein! Mats ist sich ganz sicher, Venn und er waren Erste! Unsicher tappt er ein paar Schritte nach vorne. Soll er es wagen und Exena darauf ansprechen? Oder lieber dem dringenden Bedürfnis nachgeben, sich in der hintersten Ecke der Eisstadt zu verstecken?

»Wieso hat man uns den Sieg gestohlen?« Venn reibt den Kopf an seiner Schulter.

Mats krault ihn tröstend unter der langen Mähne. »Du hast recht, mein Lieber! Darauf schulden sie uns wenigstens eine Antwort!«

 

Ginge es nur um ihn selbst, würde Mats sich verdrücken. Aber sein tapferes schnelles Kelpie hat es nicht verdient, so behandelt zu werden. Er atmet sich Mut an, klettert die Tribüne hoch und steuert auf Exena zu, was gar nicht so leicht ist, weil viele Meermenschen ebenfalls auf die Tribüne stürmen, um Halvor zu gratulieren. Als er sich endlich durchgeboxt hat, ist Finja bereits in voller Fahrt: »… aber das ist unfair, mein Bruder war viel schneller!«

»Sein Kelpie trägt kein Zaumzeug«, erklärt Exena.

»Das macht doch keinen Unterschied!«

»Das ist sehr wohl ein gewaltiger Unterschied! Er hat sein Kelpie nicht gezähmt. Wir küren den besten Reiter, nicht denjenigen, der sich einfach von seinem Tier tragen lässt! Ich hätte ihn besser gar nicht teilnehmen lassen sollen!«

Mats steht stocksteif. DAS denken sie von ihm!? Dass er sich nur von Venn tragen lässt? Die Erschütterung trifft ihn tief und unerwartet, seine Knie geben nach, immer noch beachtet ihn niemand.

»Aber Mats kann reiten«, verteidigt Finja ihn hitzig weiter. »Er hat eine Verbindung zu Venn wie sonst keiner zu seinem Kelpie. Nicht umsonst kann er ihn sogar ohne Sattel und Zaumzeug lenken!«

»Von Lenken kann da wohl kaum die Rede sein! Ich kann nicht einfach jemanden gewinnen lassen, bloß weil er dein Bruder ist!«

»Aber …!«

»Ende der Diskussion, ich muss zu unserem Sieger!«

Exena lässt Finja stehen, die gibt noch nicht auf, sondern wendet sich an Kailani.

»Mama …«

Seit einiger Zeit nennt Finja sie wieder so. Nachdem Finja aus dem Muschelpalast fort in die Eisstadt gegangen ist, sind sie sich wieder nähergekommen, was Mats für seine Schwester freut, ihm aber gerade verdeutlicht, wie viel mehr Finja hierhergehört als er.

»Mama, du hast doch auch gesehen, dass er vorne lag. Du musst etwas unternehmen!«

»Ach, Finja, Liebes, ich bin nur Gast in der Eisstadt und habe hier nichts zu bestimmen. Wie du weißt, ist es die erste gemeinsame Feierlichkeit nach so vielen Jahren der Feindschaft, und ich kenne die Gepflogenheiten des Rennens zu wenig …«

Sie bemerkt Mats und streicht ihm mitleidig übers Haar. »Das verstehst du, Mats, oder?«

Geistesabwesend nickt Mats, was soll er auch anderes tun? Kailani murmelt eine weitere Entschuldigung und gesellt sich dann rasch zu den Gratulanten rundum Halvor.

»Exena ist so eine Seekuh!« Finja schlingt die Arme um Mats’ Hals. »Für mich hast eindeutig du gewonnen!«

Er schüttelt den Kopf. »Und für alle anderen habe ich nicht einmal teilgenommen …«

»Ach, Mats, lass dich nicht unterkriegen! Du kannst es doch beim nächsten Løp wieder versuchen, und dann gewinnst du so eindeutig, dass sie einfach niemand anderen zum Sieger küren können!«

Ihre eigentlich tröstlich gemeinten Worte treffen Mats wie feine, aber umso schmerzhaftere Nadelstiche. »Habe ich heute nicht eindeutig gewonnen?«

Finja stutzt. »Doch, klar, hast du!«

»Was also sollte im nächsten Jahr anders sein als in diesem?«

Darauf hat Finja auch keine Antwort.

Snorri kommt auf sie zu, auf dem Kopf hat er die Eiskrone, seinen kleinen Helm jongliert er in einem seiner Fangarme. Als er bei Mats ankommt, nimmt er die Krone vom Kopf und hält sie ihm hin.

»Sn, sn!«

»Ach, Snorri, du bist der Beste. Aber bring die Krone besser Halvor zurück, bevor du Ärger bekommst! Ich habe sie nicht verdient.«


RANGNAKOR


Mats hat keine Lust mehr, sich das verlogene Theater anzusehen. Sollen sie Halvor eben als Sieger feiern. Aber er muss ihm nicht auch noch zujubeln. Er schnieft schnell ein paar Tränen weg, den heutigen Tag hat er sich ganz anders vorgestellt!

Das ist dem Rest der Meute aber reichlich egal, sogar der Wächter am Tor zur Eisstadt, der jetzt wieder seinen Posten bezogen hat, bekommt eine Portion des Festmahls ans Tor gebracht, das nach dem Løp für alle anderen auf dem großen Platz aufgetischt wird: Es gibt Muschelsuppe, Thunfischtartar, Seelachs in Salzkruste, an der Sonne getrocknete, knusprige Sardinen und extra für Finja Meeresspargel mit weißem Kieselcrunch. Sie stürzt sich darauf und kümmert sich nicht darum, dass Mats nur in seinem Essen herumstochert und schließlich Snorri seinen Teller zuschiebt. Der Sixtopus freut sich und greift zu, als hätte er nicht gerade eine eigene Portion Algensalat verschlungen.

Mats hockt sich lieber zu Venn, dem ebenfalls die Lust auf das Gelage vergangen ist und der sich an den Rand des großen Platzes verdrückt hat. Zu dem blöden Festschmaus hätte Mats sich gar nicht erst von Finja überreden lassen sollen.

Die Runde wird fröhlicher und mit jeder Minute ausgelassener. Geschichten von alten Heldentaten werden erzählt und sogar Exena und Usgur vergessen die Disziplin, die sie sonst immer predigen. Sie rügen nicht einmal den Wächter, der irgendwann seinen einsamen Posten am Tor aufgibt und sich zu den Feiernden gesellt.

Einige veranstalten ein völlig sinnloses Spiel, bei dem man versuchen muss, den Gegner am Fischschwanz zu packen und um die eigene Achse zu drehen. Mats flüstert Venn zu: »Warte, bis ihnen so schwindelig ist, dass sie sich von allein weiterdrehen.«

»Statt zu warten, nutze die Gelegenheit.«

Mats mustert Venn. Das war doch schon wieder sein Kelpie, das ihm einen Ratschlag gibt! Und Venn hat recht, die Gelegenheit ist perfekt und kommt so schnell nicht wieder. Also los – alles andere können sie draußen klären.

»Einverstanden!«

Niemand hält sie auf, als sie durch das Tor schlüpfen. Das Wasser auf der anderen Seite kommt Mats weniger trüb und viel freundlicher vor.

»Wie kam mein Vater bloß mit den Quellwächtern klar?«, murmelt Mats. »Und meine Mam? Wir haben immer noch nicht mehr über ihr Leben auf Rulantica herausgefunden, nur weil Finja sich seit Neuestem zur Musterschülerin mausert und sich an die Regeln hält.«

»Ich kenne den Weg!«

Ohne Mats’ Reaktion abzuwarten, zieht Venn ihn mit sich an die Oberfläche. Wie immer, wenn Mats den Kopf aus dem Wasser streckt, atmet er als Erstes tief durch. Seit er seine Wasserangst überwunden und herausgefunden hat, dass er ein Halbmeermensch ist, bekommt er unter Wasser problemlos Luft. Trotzdem ist es anders hier oben. Gewohnter, heller … Ob er doch besser in der Menschenwelt hätte bleiben sollen? Mats schluckt die Frage immer wieder herunter, wenn sie hochploppt. Er war einsam im Kinderheim Drei Birken. Aber ist er hier wirklich weniger einsam? Er gehört nicht dazu, das weiß er nicht erst seit heute. Obwohl er auf Rulantica geboren ist, seine Eltern hier gelebt haben und er seine Schwester bei sich hat. Finja … Venn stupst ihn an.


Mats lächelt. »Ja, und du bist natürlich auch hier!«

Sie schwimmen auf die Insel zu, die sich wie eine Burg vor ihnen auftürmt. Als höchste Zinne der Feuerberg. Gelegentlich macht er seinem Namen alle Ehre und spuckt glühende Lava in die Luft und ins Meer. Das hat Mats vor einiger Zeit selbst erlebt. Aber heute steigt kein einziges Rauchwölkchen in den blauen Himmel.

Je näher sie schwimmen, desto deutlicher ragen direkt hinter dem Felsenstrand die ersten Pfähle empor. Sie gehören zu Rangnakor, der Stadt, in der die Meermenschen lebten, als sie noch Wikinger und Menschen waren. Bis heute beweisen die Stelzenhäuser die Baukunst ihrer früheren Bewohner. Nach Jahrhunderten stehen sie aufrecht und haben Wind, Wetter und den Zorn des Göttervaters überdauert, was an ein Wunder grenzt. Mats muss unweigerlich an Rayk denken. Seinen Zimmernachbarn aus dem Kinderheim, der dem, was man Freund nennt, am ähnlichsten gewesen war. »Imposant«, hätte Rayk dazu gesagt. »Im Po Sand und im Arsch Geröll.«

Mats grinst in sich hinein, was für ein blöder Spruch, trotzdem hat er sich offensichtlich eingebrannt in sein Gedächtnis. Von Carla, der Heimmutter, hätte Rayk dafür einen Rüffel bekommen – einen total harmlosen Rüffel, verglichen mit Usgurs oder, noch schlimmer, Exenas Wutausbruch, wenn Mats wieder einmal den Zweizack nicht richtig hält oder keinen einzigen Eiszauber hinbekommt. Wasser zu Eis erstarren lassen, das kann eben nur Finja. Wenn Mats einen Zauberspruch aufsagt, wird das Wasser um ihn herum nicht einmal ein halbes Grad kühler. Er schüttelt sich, er mag jetzt nicht an seine peinlichen Fehlversuche und Exena denken. Nach diesem furchtbaren Tag hat er sich ein paar Stunden Freiheit verdient und mit etwas Glück findet er endlich eine Spur von seiner Mam. Mats vermutet, dass sie in einem dieser Stelzenhäuser gelebt hat, und heute hat er endlich Zeit, sich hier genauer umzusehen, während die Meermenschen sinnlos feiern!


Am Ufer klettert Mats flink die karstigen Felsenwände nach oben an Land. Das soll ihm Exena nachmachen – da hilft ihr sämtliche Magie nicht: Mit ihrem Fischschwanz muss sie im Wasser bleiben wie alle Meermenschen außer ihm und Finja.

Seine Schadenfreude weicht dem Staunen über das Schauspiel, das Venn bietet, als er anmutig an Land springt. Mats hat die Verwandlung zwar schon öfter gesehen, doch es ist immer wieder atemberaubend, wenn sich Venns Fischschwanz in zwei kräftige Hinterbeine verwandelt und er statt seiner glatten Haut ein Fell bekommt, aus dem das Wasser in silbrigen Fäden rinnt. Das magische Wasserpferd schüttelt sich und lässt um sich herum feinste Silbertropfen regnen, bevor sie sich einen Weg zu den Stelzenhäusern bahnen. Bei genauerem Hinsehen sind sie nicht ganz so unbeschädigt, wie es aus der Ferne wirkt. Die Stützpfosten sind morsch und einige Querbalken sogar durchgebrochen, sodass die Unterböden der Häuser schief auf halber Höhe hängen und jederzeit komplett zu Boden stürzen könnten. Die spitzen Holzdächer wurden mit Drachen- oder Schlangenköpfen an den Giebeln verziert. Seltsam grotesk ragen sie empor, als würden sie heute noch über die Stadt wachen, obwohl so manchem ein Zahn, die Nase oder sogar der halbe Kopf fehlt. Die Farbe der Häuser ist natürlich längst abgeblättert, stattdessen hat überall Moos angesetzt, und auf einigen Dächern liegt so viel Schilf, dass es aussieht, als wären sie damit absichtlich gepolstert worden. Wo früher Verbindungsbrücken zwischen den Häusern waren, klaffen jetzt gefährliche Abgründe.

»Wohnen kann man hier jedenfalls nicht mehr«, stellt Mats fest. »Schade, es würde mir gefallen!«

Venn schnaubt aufmunternd und tappt behutsam voran, aber er ist schwer und bricht bei jedem zweiten Schritt ein. Nur mühsam kann er seinen Huf befreien.

»Pbr-au-uuu«, schimpft er die Holzlatten an, als ein Splitter ihn in die Fesseln pikst. Auf die nächsthöhere Ebene der Stelzenhäuser kann er unmöglich gelangen. Mats breitet die Arme aus wie ein Seiltänzer und tippt jeden Balken an, bevor er auf ihm balanciert. Er schafft es besser als sein Kelpie, muss aber höllisch aufpassen, nicht abzustürzen. Selten hat es sich so gut angefühlt, zwei Beine zu haben, aufrecht gehen zu können und – im Vergleich zu einem Kelpie – ein Fliegengewicht zu sein.

Venn bleibt stehen. »Eine Hydda ist intakt! Suche sie, ich warte auf dich!«

Mats hält mitten auf seinem Balken inne und dreht sich zu dem Kelpie um. Schon wieder!

»Du redest wirklich mit mir! Nicht nur in meiner Einbildung, sondern richtig echt, oder? Ich weiß nämlich nicht, was eine Hydda ist, und das Wort intakt würde ich selbst in Gedanken nie benutzen.«

»Die Stelzenhäuser werden Hyddas genannt«, erklärt Venn. »Und du hast bisher angenommen, dir meine weisen Ratschläge lediglich auszudenken?«

»Ähm … na ja … bisher irgendwie schon«, räumt Mats ein.

»Und das fandest du wahrscheinlicher, als einen guten Freund zu verstehen?« Venn gibt ein schnaubendes Gelächter von sich.

»Ich dachte eben, du redest bloß in meinem Kopf, weil …«

 

»… weil wir uns mit dem Herzen verstehen«, vervollständigt Venn und nickt. »Ja, so hat unsere Verständigung vor vielen Monden angefangen. So haben wir gegenseitig unsere Sprachen gelernt, und du verstehst, was alle Meermenschen um dich herum für wiehernde Laute halten.«

»Ich bin der Einzige, der dich versteht?«

»So ist es, ich kenne niemanden, der je die Kelpsprache erlernt hat.«

»Auch mein Vater nicht?«

»Falor erahnte vieles, aber wir konnten nicht miteinander sprechen.«

»Und Exena?«

»Pah, sie am wenigsten! Fällt es dir so schwer zu glauben, dass du etwas Besonderes kannst?«

Mats lässt niedergeschlagen den Kopf hängen. »Frag mal Usgur und die anderen Quellwächter, die halten mich alle für einen Totalausfall!«

»Solange du dich nicht selbst für einen hältst!«

»Manchmal schon«, gibt Mats zu. »Ich bekomme keinen Eiszauber hin und singen kann ich noch weniger.«

»Du siehst doch, wozu die Fähigkeiten der Quellwächter und Sirenen dienen, sie bewachen eine Insel. Nur weil du nicht kannst, was alle können, heißt das nicht, dass deine Aufgabe weniger wichtig sein wird.«

»Du bist wirklich ein wunderbarer Freund.« Mats hüpft vor Glück auf und ab und der Balken unter ihm fängt gefährlich an zu knacksen.

»Das Kompliment gebe ich gerne zurück! Aber jetzt gehst du besser und suchst nach der Hydda deiner Mutter. Wenn es dunkel wird, sollten wir nicht mehr hier sein.«

Kurz zögert Mats, er hätte noch zig Fragen, jetzt, da er weiß, dass Venn ihn versteht. Andererseits können sie später immer noch reden, sich unbemerkt aus der Eisstadt schleichen und sich hier in aller Ruhe umsehen, kann er wahrscheinlich so schnell nicht wieder.

Also fragt Mats nur: »Hast du eine Ahnung, wo ich suchen soll?«

Venn schüttelt die Mähne. »Ich weiß nur, dass deine Mutter in einem der Stelzenhäuser lebte und ich von dort, wo ich jetzt stehe, laut wieherte, um sie zu deinem Vater ins Wasser zu rufen.«

Mats muss unwillkürlich lachen. »Wie ein Telefon auf vier Beinen.«

»Ein WAS, bitte?«

»Nicht so wichtig, bloß menschlicher Technikkram. Ich mach mich jetzt auf die Socken«, und weil er Venns nächste Rückfrage vorausahnt, schiebt er rasch hinterher, »… also, auf die Suche.«

Er setzt seinen Balanceakt fort. Jetzt nur nicht nach unten schauen.

»Wenigstens habe ich keine Höhenangst«, murmelt Mats.

Wie sind die Wikinger früher nach oben gelangt? Wahrscheinlich standen damals noch Holztreppen oder sie benutzten Strickleitern. Nicht gerade eine bequeme Art, ins eigene Zuhause zu kommen, dafür blieben auch bei Sturm und Wellengang ihre Füße trocken, und sie waren vor gefährlichem Getier geschützt. Überhaupt erinnern Mats die Behausungen an eine Mischung aus den sonst fensterlosen Langhäusern der Wikinger und ihren schnittigen Holzschiffen, mit denen sie die Weltmeere beherrschten. Als ob sich Viken Rangnak, der Anführer, und sein Clan auch an Land nicht ganz vom Seefahrerleben verabschieden wollten.

Mats lässt den Blick durch das erste Haus schweifen und versucht, sich die Wikingerabteilung im Museum Krønasår ins Gedächtnis zu rufen. Früher war es bestimmt sehr gemütlich hier, doch von der Einrichtung ist jetzt nicht mehr viel übrig. Ein windschiefes Holzgestell in der Ecke könnte ein Bett oder eine Sitzbank gewesen sein. Mit einem Fell oder einer Matte hat der ehemalige Bewohner es vielleicht sogar für beides genutzt. An dem Platz in der Mitte, an dem üblicherweise die Feuerstelle war, klafft ein tiefes Loch und erinnert Mats daran, sich weiterhin sehr vorsichtig über die morschen Böden zu bewegen.

In der nächsten Hütte erwartet ihn nahezu derselbe Zustand, allerdings ist die Kochstelle noch verkohlt erkennbar, dafür sind Teile des Dachstuhls eingestürzt. Mats muss die Balken erst zur Seite zerren, um überhaupt weitergehen zu können. Und überall häufen sich Schilfblätter, Gras und Stroh. Wenn er sich jede Hydda so genau anschaut, wird er frühestens in einer Woche alle besichtigt haben. Zu dumm, dass Venn ihm nicht genau beschreiben konnte, wo seine Mam gewohnt hat.

Mit jedem weiteren Haus werden die Schatten länger, das ist Mats bewusst, immerhin ist er erst spät nach Mittag von dem Festessen aufgebrochen. Trotzdem will er den goldroten Schein der untergehenden Sonne nicht wahrhaben. Nur noch ein Haus, das nächste muss es doch sein. Oder das übernächste …

Er will nicht aufgeben, gerade nach der Pleite beim Rennen wünscht er sich sehnlich einen Hinweis auf seine Mutter. Besonders, weil er Finja seinen Fund präsentieren könnte, nachdem sie sich seelenruhig mit Seespargel vollgestopft hat. Vielleicht interessiert sie sich dann wieder mehr für ihn – und für die gemeinsame Suche nach ihrer Vergangenheit. Ursprünglich hat sie ihn in der Menschenwelt aufgestöbert, wollte alles über ihre Eltern herausfinden und war sogar bereit, Rulantica für immer zu verlassen. Und jetzt? Seit sogar Exena sie für die auserwählte Retterin Rulanticas hält und sie zur Quellwächterin ausbildet, hat Finja nichts anderes mehr im Sinn. Ihr fällt nicht einmal auf, dass Exena ihm nichts zutraut, obwohl sie doch Zwillinge sind und beide eine Hälfte von Friggs Amulett besitzen. Diese Gedanken lassen Mats noch eifriger weiter- und weitersuchen.


»Mrk, mrrrk!«

Zu spät fällt Mats auf, wie sich der Himmel komplett verdunkelt. Ganz ohne Übergang zur Dämmerung. Er hebt erst den Kopf, als das Kreischen unerträglich laut wird.

»MRK, MRRK, MRRRRKK!«

Mats zuckt zusammen, über dem Loch im Dach der Hydda kreisen mehrere Vögel. Tiefschwarz glänzt ihr Gefieder. Mit ausgebreiteten Flügeln ist jeder einzelne von ihnen größer als Mats, er schätzt eine Spannbreite von zwei bis drei Metern. Und als ob das nicht genügen würde, hat jeder Riesenvogel zwei Schnäbel, der eine gefährlich spitz und dünn wie ein Dolch, der andere größer, kräftig und nach unten gebogen. In schrillem Gelb leuchten sie an den schwarzen Köpfen.

Wie konnte er sie vergessen: die schwarzen Mauks! Finja hat ihn gewarnt, sogar Snorri hat Angst vor ihnen, sie kennen weder Freunde noch Gnade. Und damit nicht genug, was er für zufällige Ansammlungen von Schilf und Stroh gehalten hat, sind in Wahrheit ihre Nester. Rangnakor ist längst nicht mehr die Stadt der Wikinger, sondern der Riesenvögel! In dem Schilfhaufen direkt neben Mats liegt außerdem ein dunkler Brocken. Bei genauerem Hinsehen entpuppt er sich als großes schwarzes Ei – oh, oh: Er steht mitten in einem Brutplatz – das sieht nicht gut für ihn aus! Die Mauks müssen ihn nicht nur für einen Eindringling halten, sondern für einen Dieb, der ihrem Nachwuchs an die Eierschale will.

Er hat den Gedanken noch nicht zu Ende gedacht, als der erste Mauk bereits zum Sturzflug ansetzt. Mats springt zur Seite, trotzdem trifft der spitze Schnabel ihn an der linken Schulter und das krumme Ende des zweiten Schnabels ritzt seine Haut auf.

»A-aa!«, brüllt Mats.

Da spürt er bereits den nächsten Stich im Rücken.

»Mrrk!« Mit einem triumphierenden Schrei trägt sein Gegner einen Fetzen seines Pullis davon.

Mats geht in die Knie und schnappt sich den nächstliegenden Balken, er schwingt ihn über dem Kopf wie einen Propeller. Einen seiner Angreifer erwischt er am Flügel und drängt ihn ab, doch sofort rückt der nächste Mauk auf und stößt in die Tiefe. Mats spürt den Schmerz am Oberschenkel, in seiner Hose klafft ein Loch. Sein Gegenangriff bringt überhaupt nichts, dafür sind es zu viele und ständig drängen mehr Mauks von draußen nach. Er muss sich irgendwie schützen, um nicht als Schweizer Käse mit tausend Löchern zu enden. Hektisch schaut er sich um. Ob er es bis zu der Bank dort drüben schaffen kann?

Mats kugelt sich zusammen und rollt, so schnell er kann, über den Boden. Es kracht und knackt bedenklich unter ihm, ein Flügel streift seinen Arm, ein Schnabel schlägt direkt neben seinem Kopf ein.

»MRRK, MRRRRKKKK, MRRRRRRKKKKKK!«

Wütend, weil sie ihn nicht voll erwischen, aber umso angriffswilliger formieren die Mauks sich neu. Mats nutzt die Gelegenheit und verschanzt sich unter der Bank und nimmt noch ein Holzscheit zur Verteidigung mit. Wirklich sicher ist er hier nicht, aber er bietet weniger Angriffsfläche als vorher, vor allem sind die Mauks zu groß, um zu ihm unter die Bank zu kriechen. Der nächste Mauk fliegt heran, hackt aber lediglich ins Holz. Doch schon lassen sich zwei weitere Riesen direkt über ihm auf der Sitzfläche nieder und fangen an zu picken. Jede Holzfaser, die sie herauszupfen, macht Mats eines bewusst: Er sitzt in der Falle! Denn auch von der unteren schmalen Seite watschelt einer der Vögel heran und krallt durch die Ritze.