Rulantica (Bd. 1)

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Aus der Reihe: Rulantica #1
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DAS GEHEIMNIS IM KELPWALD


Aquina hatte angenommen, dass sie wenigstens selbstständig in die Schule schwimmen dürfte, aber sie hatte sich geirrt. Am nächsten Tag herrscht krampfhaftes Schweigen bei der Morgenmahlzeit. Aquina kaut an ihrem Algenmüsli und schielt zu ihrem Vater Bror. Er fängt ihren Blick auf und zuckt bloß mit den Schultern, schüttelt leicht mit dem Kopf. Alles klar. Er hat also bereits versucht, mit ihrer Mutter zu reden, hat aber offenbar auf Granit gebissen. Damit ist Aquinas letzte Hoffnung, dem Grottenarrest zu entkommen, dahin. Kaum hat sie den letzten Bissen heruntergewürgt, erhebt Kailani sich.

»Ich begleite dich!«

»Oh, nein, bitte, ich bin doch kein Meerbaby mehr!«

»Aber du benimmst dich so, deshalb werde ich sichergehen, dass du dich an meine Anweisungen hältst!«

Aquina fühlt sich wie ein Fisch an der Angel, als sie hinter Kailani herpaddelt, je näher sie der Korallenbank kommen, desto übler wird ihr.

Alle Meerkinder springen von den Bänken auf, um einen Blick auf ihre Anführerin zu erhaschen, die Lehrer inklusive Skyrn schwimmen im Spalier, um sie gebührend zu begrüßen. Aquina würde am liebsten im Boden versinken. Manati eilt ihnen entgegen.

»Kailani, welche Ehre!« Sie wirft einen raschen Seitenblick auf Skyrn. »Was können wir für euch tun?«


Aquina betrachtet ihre Flossenspitze. Manati glaubt offensichtlich, ihre Mutter würde Skyrn wegen des Vorfalls am Vortag zur Rechenschaft ziehen wollen. Stattdessen werden gleich alle erfahren, warum sie wirklich wie ein Baby zum Unterricht geschleift wird. Zwar spricht Kailani nicht besonders laut, trotzdem kann jeder auf der Korallenbank ihre Worte verstehen. »Aquina hat bis auf Weiteres nur die Erlaubnis, am Unterricht teilzunehmen, ansonsten darf sie den Muschelpalast nicht verlassen. Sie wird in der Mittagspause und nach dem Unterricht ohne Umwege in den Palast zurückkehren. Ich bitte Sie und die anderen Lehrer, das zu beachten!«

Aquina muss Skyrns Schadenfreude nicht sehen, um zu wissen, wie sehr er sich freut. Auch die verständnislosen bis mitleidigen Mienen von Jade, Ruby und Orchid kann sie sich ausmalen.

»Gibt es einen Grund …«, setzt Manati an.

Doch wenigstens den behält ihre Mutter für sich. »Meine Tochter weiß, warum, und wird es sich bestimmt zu Herzen nehmen!«


Manati versteht den Wink, verbeugt sich leicht und fragt nicht weiter nach.

So einfühlsam sind Jade und die anderen nicht, sie bestürmen Aquina mit Fragen, kaum dass Kailani den Korallen den Rücken gekehrt hat.

»Ich habe euch doch gesagt, dass sie Zuspätkommen schlimmer findet als alles andere«, windet sich Aquina aus der Sache heraus. Von den Äpfeln will sie auch Jade nichts verraten.

Larima kann sich eine bissige Bemerkung nicht verkneifen: »Wenn du zu Hause genauso schlecht singst wie hier, wundert mich gar nichts!«

»Ruhe jetzt!«, befiehlt Manati und unterbindet jegliches weitere Geschwätz mit einem langen Vortrag darüber, wann Dur- und wann Molltonleitern besser zur Abschreckung geeignet sind.


Dass auch in den folgenden Tagen keiner die Wahrheit errät, ist nur ein schwacher Trost. Aquina hockt in ihrem Zimmer und starrt Blasen ins Wasser. Wenn sich wenigstens Snorri blicken lassen würde, damit sie ihm erklären kann, dass sie hier festsitzt. Heute Morgen hat Bror die Aufgabe übernommen, sie zur Korallenbank zu bringen und wieder abzuholen. Sonst ist er wesentlich gutmütiger als ihre Mutter, aber auch er hat ihr keine Gelegenheit gelassen, um nach ihrem Tintenfischfreund zu suchen.

»Wahrscheinlich vermisst er mich sowieso nicht«, knurrt Aquina selbstmitleidig in sich hinein, »sondern freut sich, dass er die restlichen Äpfel allein auffuttern kann.«

Ein sonores Tuten reißt sie aus ihren trüben Gedanken. Das kommt vom Eingang. Besucher kennen den Säulencode vor dem Wasserfall nicht und müssen die Signalmuschel betätigen, um sich anzumelden. Wahrscheinlich will bloß jemand zu ihrer Mutter, aber nachdem sie sich wenigstens im Palast frei bewegen darf, schlüpft Aquina in den Gang und hält Ausschau. Sie beobachtet, wie die Gelbhaarquallen diensteifrig Aufstellung nehmen, um den Neuankömmling gründlich zu durchleuchten, bevor er zu Kailani vorgelassen wird. Auch wenn ihre Mutter zu den Unsterblichen gehört, muss sie genauso beschützt werden wie jede andere Anführerin auch. Die Unsterblichen können keines natürlichen Todes sterben, leben also ewig, es sei denn, sie werden im Kampf oder durch eine hinterhältige Tat getötet. Viele, unter ihnen auch der frühere Wikingeranführer Viken, haben für den Schutz der Insel bereits ihr ewiges Leben geopfert. Nur noch fünf Unsterbliche leben bis heute, darunter Kailani und Exena.

Aquina fröstelt, wenn sie an Exena denkt. Genau wie ihre Mutter wurde sie nach Vikens Tod zur Anführerin – Kailaini mit ihrer herausragenden Stimme ist die beste Wassermagierin aller Zeiten und gibt ihr Wissen an die Sirenen weiter. Exena, die einzige Eismagierin, die sogar über die Grenzen Rulanticas hinaus zaubern kann, bildet die Quellwächter aus.

Aber außer dass die Quelle der Unsterblichkeit unbedingt beschützt werden muss, sind die beiden eigentlich nie einer Meinung. Noch bis kurz nach Aquinas Geburt teilten sie sich die Herrschaft in Vierjahresperioden, und es soll gelegentlich hoch hergegangen sein, sogar von einem Anschlag auf ihre Mutter wird gemunkelt, obwohl die Quellwächter das bis heute leugnen.

Seit einiger Zeit haben Kailani und Exena sich geeinigt, die Meermenschen in zwei Gruppen zu trennen, und so herrscht ihre Mutter in Aquamaris und Exena über die Eisstadt. Beide Seiten versuchen, sich aus dem Weg zu schwimmen, so gut es bei der direkten Nachbarschaft möglich ist. Auch Aquina begegnet den Quellwächtern nicht allzu häufig, aber manchmal stiehlt sie sich in die Eisstadt und beobachtet heimlich, wie sie mit ihren Eiszacken trainieren und auf ihren Kelpies reiten. Aquina würde viel dafür geben, ebenfalls auf einem Kelpie reiten zu dürfen. Noch eines der Dinge, die ihre Mutter ihr strikt verbietet …

Aquinas Vater ist kein Unsterblicher und gerade er besteht auf die Vorsichtsmaßnahmen am Eingang. »Du bist für uns alle viel zu wichtig, für mich natürlich ganz besonders. Wir dürfen nichts riskieren!«, sagt er immer, wenn Kailani die Gelbhaarquallen lieber aus ihrem Muschelpalast verbannen würde, weil sie überall und ständig lautlos herumschweben.

»Wir sind nie wirklich unter uns und ich würde liebend gerne eine Nacht im Dunkeln schlafen und nicht mit Quallenbeleuchtung«, murrt Kailani manchmal.

Das sind die seltenen Momente, in denen Aquina sich ihrer Mutter nahe fühlt, wenn sie zugibt, dass die ewigen Pflichten auch für sie hin und wieder lästig sind und sie auf das Wohl aller auch gerne mal pfeifen würde. Meistens hat sie sich aber gleich wieder im Griff und lächelt jede Anstrengung weg.

Also sind die Quallen geblieben und betasten gerade den armen Nyssa, einen Fisch-Boten. Sein olivfarbener, schuppenloser Körper zuckt bei jeder Berührung, er klappt sein großes Maul auf und zu und rollt mit den Augen, die bei ihm ungewöhnlich weit oben am Kopf liegen. Gleichzeitig versucht er, mit seinen zarten Flügelflossen die Tentakel abzuwehren. Als ob er kitzlig wäre.

Aquina schwankt zwischen Lachen und Mitleid. Bevor sie den schlanken Fisch retten kann, hört sie ihre Mutter heraneilen und drückt sich in eine Nische. Sicher ist sicher, bevor ihre Mutter auf die Idee kommt, den Arrest noch zu erweitern und sie in ihrem Zimmer einzusperren.


»Lasst Nyssa in Ruhe«, befiehlt Kailani. »Ihr kennt meinen Boten inzwischen lange genug und müsst ihn nicht jedes Mal der vollen Prozedur unterziehen!«

Folgsam, wenn auch widerwillig zieht die Gelbhaarquallen-Garde sich zurück und Kailani lotst Nyssa in den Empfangsraum. Aquina huscht hinterher. Normalerweise interessiert sie sich nicht besonders für die Arbeit ihrer Mutter, aber heute ist jede Abwechslung willkommen. Von einer verborgenen Ecke aus beobachtet sie, wie Nyssa seine Nachricht überbringt.

Die Fische sprechen nicht laut wie die Meermenschen. Aber im Laufe der Jahrhunderte haben die Meermenschen es sich angeeignet, den Fischen von den Lippen zu lesen, und umgekehrt. Die Meerkinder lernen die stumme Sprache zusammen mit den Jungfischen in Tierkunde. Leider findet der Unterricht in jeder Mondphase nur einmal statt, weil die Fische nicht öfter ihre Nahrungssuche aussetzen können, und es kommen nicht alle Arten. Vor allem die Schwarmfische schicken nur höchst selten einen Abgesandten. Als sie klein war, hat Aquina sich darüber gewundert. »Warum wollen die Fische nicht mit uns reden?«, hat sie ihre Mutter gefragt.

 

»Für die Fische ist es viel weniger wichtig, mit uns zu reden, als umgekehrt«, hat Kailani erklärt.

»Sie können die Dreimeilenzone von Rulantica verlassen und überleben problemlos ohne uns.

Wir müssen für jeden Meeresbewohner dankbar sein, der uns hilft, Rulantica und die Quelle zu beschützen.«

Die Kunst des Lippenlesens lehren abwechselnd der alte, mürrische Lachs Tradon und die Meerfrau Runa. Der Unterricht macht Aquina viel Spaß, auch wenn es nicht so einfach ist und man sein Gegenüber sehr genau beobachten muss. Ein kleines Blinzeln, eine kurze Unaufmerksamkeit und schon hat man den Sinn verpasst. Und manche Fischarten nuscheln ein wenig. Nyssas Worte kann man eigentlich relativ leicht lesen. Aber in ihrem Versteck erkennt Aquina seine Lippen nicht gut, vor allem weil Nyssa aufgeregt umhertänzelt. Die einzigen Wortfetzen, die Aquina lesen kann, sind »treffen« und »Wellen«. Wahrscheinlich soll Kailani irgendwo hinkommen und jemanden treffen … Aber wen und warum? Das hat Aquina nicht verstanden – oder doch? Bei den Wellen? Nein, ganz anders, die Nachricht ist von den Wellen! Sie hat schon ein paar Mal mitbekommen, dass die plätschernden Wellen ihrer Mutter erzählen, was sie auf den Weltmeeren aufschnappen. Ozeanklatsch nennt ihre Mutter das. Meist nur unsinniges Zeug, weswegen Kailani nicht offiziell zugeben würde, mit den Wellen in Kontakt zu stehen. Aber heute scheint es wichtig zu sein …

Bevor ihre Mutter sie beim Lauschen erwischt, stiehlt sich Aquina unbemerkt aus dem Empfangssaal. Die Sache ist dringend, so viel ist klar, sonst wäre Nyssa nicht so aufgeregt gewesen. Aquina hört, wie ihre Mutter hinter ihr durch den Gang hastet und der Delfingarde zuruft: »Nein, bleibt, wo ihr seid, ich brauche keine Begleitung!«

Zu gerne würde Aquina wissen, worum es geht! Wenn die Wellen mit im Spiel sind, dann ist es auf jeden Fall aufregender als der gewöhnliche Kram. Nicht bloß Salzmangel in einem Fischgebiet, ein Lichtausfall bei den Straßenquallen oder ein stinknormaler Unwettersturm an der Oberfläche. Ob sie sich trauen und ihrer Mutter heimlich folgen soll? Nein! Wenn das auffliegt, verlängert sich ihr Grottenarrest mindestens um die nächsten zwölf Gezeiten.

Andererseits – Kailani ist jetzt bestimmt eine Weile unterwegs. Das ist die Gelegenheit, um wenigstens Snorri Bescheid zu geben. Nur ganz kurz bis zum Kelpwald am Rand von Aquamaris und zurück. Das schafft sie in zehn, maximal fünfzehn Schwimmzügen. Oben wird sie Snorri auf keinen Fall suchen, das verspricht sie sich selbst. Das ist zu riskant, weil sich ihre Mutter dort wahrscheinlich mit den Wellen trifft. Aber der Kelpwald – dagegen ist nichts zu sagen, der liegt quasi fast noch im Palast, damit dehnt sie ihren Grottenarrest nur minimal aus. Und keiner wird was merken. Aquina schmunzelt in sich hinein und setzt den Weg in ihr Zimmer fort. Dort hängt sie sich ihre Fischledertasche um. Als sie sich entschlossen hat, Algetarierin zu werden, hat sie überlegt, ob sie sich von der Tasche trennen sollte, hat sich aber dagegen entschieden, weil sie es noch respektloser gefunden hätte, sie einfach wegzuwerfen. Jetzt ist sie froh, dass sie die praktische Tasche noch hat, in die alles hineinpasst, was sie dabeihaben will.

Betont langsam trödelt sie zum Portal, kurz vorher bleibt sie stehen und ruft halblaut in Richtung Empfangssaal: »Bis später, Mama! Ich bin dann mal weg zur Pflanzenkunde!« Ohne sich auch nur den Hauch eines schlechten Gewissens anmerken zu lassen, schwimmt sie weiter zum Ausgang, nickt würdevoll nach links und rechts und – schwupp – ist sie draußen. Grottenarrest, außer für den Unterricht – und den wird sie sich heute im Kelpwald selbst erteilen.

Aquina nimmt den hellen Sandweg aus der Stadt raus. Schon von Weitem kann sie den Kelpwald sehen: Die grünen Tangbäume ragen vom Boden bis zur Sonnengrenze und stehen dicht an dicht. Mit ihren sanft wogenden Blättern berühren sie einander und lassen doch genug Platz, um hineinzuschlüpfen. Sobald Aquina in den Wald geschwommen ist, kann sie kaum mehr bis zur eigenen Schwanzflosse sehen. Der friedliche Kelpwald birgt Bewohner und Geheimnisse, die vermutlich nicht einmal Kailani und Exena alle kennen. Eine Wasserschildkröte zieht an Aquina vorbei, direkt unter sich am Boden entdeckt sie unzählige kleine Krebschen und Seeigel und eine Scholle, die sich flink in den Sand eingräbt, als Aquinas Schatten auf sie fällt.

Würde sie jetzt immer geradeaus schwimmen, käme sie am anderen Ende des Waldes kurz vor der Eisstadt der Quellwächter heraus. Aber bis dahin will sie gar nicht, Snorris Unterschlupf ist nicht weit von der eingegrabenen Scholle entfernt. Behutsam, um ihn nicht zu erschrecken, biegt Aquina den Tangvorhang zur Seite und lugt unter Snorris Stein. Das Wasser hat ihn ausgehöhlt, dadurch ist gerade genug Platz für einen kleinen Tintenfisch entstanden, und solange die Blätter davor sind, ist Snorri so gut wie unsichtbar – oder auch ganz unsichtbar, wenn er, wie jetzt, überhaupt nicht da ist. Zu dumm!

Aquina ist enttäuscht. So schnell wird sich die Gelegenheit nicht wieder ergeben, aus dem Palast zu entwischen. Sie schaut sich um. Ist hier irgendjemand, der Snorri eine Nachricht überbringen könnte? Die Scholle hat sich inzwischen so tief verbuddelt, dass Aquina nicht einmal mehr sicher sagen könnte, ob sie wirklich noch da ist, und die Krebschen müssten sich ohnehin besser einen für sie weniger gefährlichen Nachbarn suchen als ausgerechnet einen Tintenfisch.

Aber Snorri soll wenigstens wissen, dass sie da war. Aquina wühlt in ihrer Fischledertasche. Kreidesteine und Schieferplatten, Muschelclips … nichts davon ist eindeutig genug, nur die Tasche selbst, und die will Aquina doch lieber nicht zurücklassen. Es muss etwas sein, bei dem niemand außer Snorri sofort weiß, dass es von ihr stammt. Die langen grünen Tangblätter fallen Aquina ein. Sie sind hier überall zu finden, auch vor Snorris Unterschlupf. Nicht weiter auffällig also. Aber nur Aquina kann mehr daraus machen. Sie zupft drei der Blätter ab und beginnt, sie zu verflechten. Genau wie das zarte Armbändchen, das sie um ihr rechtes Handgelenk trägt.

Das war vor einigen Mondphasen auch wieder so ein Anlass für einen heftigen Streit mit ihrer Mutter.

»Was ist das?«, hatte Kailani geblafft, als sie den Schmuck entdeckte.

Stolz hat Aquina ihr die Technik vorgeführt, die sie sich ausgedacht hatte. Sie hat drei gleich lange Blätter nebeneinandergelegt und abwechselnd das rechte und das linke über das jeweils mittlere Blatt geschlungen, bis daraus ein reißfestes Band entstanden war. Das Geflecht sah hübsch aus, ein bisschen wie die Ornamente in den Gängen des Muschelpalasts, und sie konnte es ganz wunderbar um ihr Handgelenk tragen. Aber ihre Mutter wollte davon nichts wissen. »Wir Meermenschen schmücken uns nicht, Aquina. Das ist unnützer Menschentand!«


»Aber warum? Es ist hübsch und es steht mir sehr gut!«, widersprach Aquina.

»Du bist doch nicht eitel, Aquina? Wir achten nur auf unser Können und unsere Aufgabe, das unterscheidet uns von den Menschen!«, betonte Kailani.

Bei den anderen Meermenschen kam Aquinas Flechtkunst deutlich besser an. Jade und Ruby waren die ersten, die Armbändchen trugen. Etwas später Larima und sogar Manati ließ sich von Aquina eines anfertigen. Nur ihre Mutter presste jedes Mal missmutig die Lippen zusammen, wenn eine Sirene damit ankam. Aquina war damals sehr gekränkt. Wieso lehnte ihre Mutter jede neue Idee ab, besonders wenn sie von ihr kam? Nie konnte sie ihr etwas recht machen. Die Streitereien beim Abendessen waren kaum noch auszuhalten, bis es sogar Bror zu bunt wurde. Normalerweise hielt er sich raus, wenn Aquina sich mit ihrer Mutter zoffte. »Ich würde lieber in einer Felsspalte festhängen, als zwischen euch beide zu geraten!«, pflegte er zu sagen. Aber diesmal schlug er sich auf Aquinas Seite. Nach einer besonders lautstarken Auseinandersetzung kam er in ihr Zimmer.

»Zeigst du mir, wie das geht?«

»Was?«, fragte Aquina verblüfft.

»Dieses Geflecht, wie stellst du es her?«

»Wozu?«, fragte Aquina.

»Zeig es mir einfach – bitte!«, sagte ihr Vater auf diese gutmütige Art, mit der er bei Aquina meist mehr erreichen konnte als ihre Mutter mit all ihren Schimpftiraden.

Sie freute sich riesig über sein Interesse und zeigte ihm sämtliche Flechtarten, die sie inzwischen beherrschte. Gemeinsam lachten sie sich fast schlapp, als Bror versuchte, es ihr nachzumachen. Mit seinen großen kräftigen Händen tat er sich viel schwerer als Aquina mit ihren zarten, schlanken Fingern. Ständig rutschte ihm ein Blatt aus der Reihe oder knickte ab. Trotzdem hatten sie großen Spaß und am Ende beherrschte Bror die einfachen Muster und schloss Aquina dankbar in die Arme.

»Das sollten wir viel öfter machen«, hatte er zum Abschied gesagt. Das fand Aquina auch, leider steckten sie beide viel zu oft in ihren Pflichten fest.

Eine Woche später setzte Bror noch einen obendrauf. Als Kailani und Aquina sich beim Abendessen mal wieder über eine Fisch-Mahlzeit stritten, kam er hereingeschwommen – mit breitem Lächeln und einem geflochtenen Band um seinen linken Arm. Kailani hörte auf, mit Aquina zu schimpfen, und starrte Bror entgeistert an. »Hast du dich jetzt etwa anstecken lassen?«

Aquinas Papa hob seinen Arm und drehte und wendete ihn, als ob er das Band gerade erst bemerkte. »Das kann man auch als Meermann gut tragen, findest du nicht?«

»Wenn du meinst …«, erwiderte Kailani gedehnt. Aquina verkniff sich nur mit Mühe das Kichern.

»Und es ist sehr praktisch«, fuhr Bror fort. »Ich kann meine Angelhaken daranhängen und habe beim Schwimmen die Hände frei!«

»Verstehe«, seufzte Kailani, »du hältst zu Aquina, wie immer!«

»Das ist nicht wahr«, widersprach Aquinas Papa. »Die Algetarier-Spinnerei finde ich genauso bescheuert wie du. Aber die Bänder gefallen mir! Und weil ich von unserer wunderbaren Tochter gelernt habe, wie man sie herstellt, habe ich hier etwas …« Ihr Vater hielt inne und zog dann ein besonders zierliches Bändchen aus silberweiß schimmerndem Federgras hervor. Sogar eine kleine Mondperle hatte er eingeflochten. »… für dich!« Er legte Kailani das Band um den Arm.

»Das ist … du bist … na gut, ihr habt gewonnen, das ist wirklich wunderschön«, gab Kailani zu und lächelte Bror und Aquina an.

Aquina wusste, dass Papa auch ihr an dem Abend ein Geschenk gemacht hatte, und war ihm endlos dankbar dafür gewesen. Kailani trug das Federgrasband nämlich tatsächlich, ohne Aquina jemals wieder Vorwürfe zu machen.


Einen Mondlauf ist das jetzt her. Aquina wischt sich über die Augen, weil die Erinnerung sie immer noch rührt. Auch Snorri kennt ihre Bändchen. Wenn sie ihm also ein paar geflochtene Blätter in seinem Unterschlupf zurücklässt, dann wird er kapieren, dass sie da war. Sie wählt drei Blätter und fängt an, sie zu verknüpfen, als etwas ihre Schulter berührt. Sie zuckt zusammen und dreht sich um. Nichts zu sehen. Was war das? Vielleicht nur der Stamm eines Tangbaums. Sie wendet sich wieder ihren Blättern zu. Etwas streift ihren Rücken. He! Sie fährt herum. Das war eindeutig keine Pflanze. Aber auch diesmal ist kein Fisch oder Krebs zu sehen. Es zieht an ihren Haaren. Das traut sich nur einer!


»Snorri!«, ruft Aquina. Sie versucht, einen Arm ihres Freundes festzuhalten. Doch er ist schneller.

»Na, warte!« Aquina lässt ihr Geflecht fallen und nimmt die Verfolgung auf. Durch die Kelpbäume, linksrum, rechtsrum, ein Stück nach oben, zurück zum Meeresboden – rechts – links …

Wo steckt er? Snorri ist kleiner und wendiger als sie. Er schlüpft durch die Pflanzen wie durch einen Parcours. Aquina kann ihm gerade so folgen, aber er ist immer schon weggewitscht, bevor sie ihn packen kann. Sie sieht bloß noch die schlingernden Pflanzenspitzen, durch die bereits das Sonnenlicht blitzt.

»Ich gebe auf!«, schnauft sie. »Ich wollte dir eigentlich nur erzählen …«

Sie verstummt, weil Snorri ihr einen Fangarm auf die Lippen legt. Was soll das nun wieder? Jetzt hört sie es auch. Stimmen. Richtig echte Stimmen, keine Tierlaute. Ach, du Schreck! Das ist eindeutig die Stimme ihrer Mutter, sie erkennt nun auch ihre grünblaue Schwanzflosse, die nervös im Wasser paddelt, während sie sich an der Oberfläche direkt über dem Kelpwald unterhält. Aquinas erster Impuls ist Flucht. Ihre Mutter darf sie hier nicht erwischen! Aber irgendetwas hält sie davon ab, sofort umzudrehen. Sie lauscht hinauf zu dem Gespräch mit den Wellen. Stumm wie ein Fisch duckt sie sich möglichst dicht in den Tang.

 

»Ihr müsst euch geirrt haben«, sagt Kailani gerade.

»Nein nein nein, wir wir wir irren irren irren uns uns uns nicht nicht nicht!«, plätschern die Wellen.

»Das ist unmöglich!«, beharrt Kailani. »Der Junge ist vor vielen Gezeiten verunglückt, daran gibt es keinen Zweifel!«

Aquina stutzt. Von welchem Jungen ist die Rede? Sie weiß von keinem Meerjungen, der gestorben ist. Vielleicht jemand von den Quellwächtern? Aber auch davon hätte sie doch gehört! Bei Angriffen und in allen wichtigen Angelegenheiten halten Sirenen und Quellwächter nach wie vor zusammen – und ein Trauerfall wäre doch wichtig gewesen.

Aquina schielt zu Snorri, dem plötzlich alle Farbe aus dem kugelrunden Gesicht gewichen ist. Ob er den Jungen kannte? Die Frage danach muss sie sich aufheben, wenn sie weiter lauschen will.

»Er er er trug trug trug das das das Amulett Amulett Amulett«, plätschern die Wellen weiter.

Der Fischschwanz ihrer Mutter bebt, als wäre sie von einem Rochen gestochen worden. »Das Amulett? Friggs Amulett? Das kann nicht sein, das darf nicht sein! Bitte schwört, es niemandem zu erzählen. Vor allem nicht Exena und den Quellwächtern. Würde sie es erfahren, geraten wir alle in Gefahr!«

»Wir wir wir schwören schwören schwören es es es!«


Der Schwur der Wellen ist noch nicht ganz verklungen, als Aquina aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnimmt. Einige Schwimmzüge von ihr entfernt löst sich ein Katzenhai aus seinem Tangversteck und schlängelt sich davon. Er muss alles mitbekommen haben, genau wie Aquina. Ihr ist sofort klar, wohin der kleine Hai unterwegs ist. Zur Eisstadt. Die Haie sind – neben den Kelpies – die bevorzugten Wassertiere der Quellwächter. Sie arbeiten und leben so eng zusammen, dass sich sogar ihr Aussehen aneinander angepasst hat. Die Fischschwänze der Quellwächter sind nicht bunt und schillernd wie die der Sirenen, sondern überwiegend grau und rau und bieten ihnen eine Art natürliche Rüstung. Ihre Schwanzflossen sind oft asymmetrisch und kantig, die Quellwächter können sie als zusätzliche Waffe einsetzen. Dank ihrer Eiszacken sind die Quellwächter kaum weniger gefährlich als ihre Haifreunde. Aquina beobachtet ihr Training hin und wieder heimlich, obwohl auch das ihrer Mutter ein Dorn im Auge ist. Wahrscheinlich hat sie Angst, Aquina könnte eines Tages die Seite wechseln und sich heimlich zur Quellwächterin ausbilden lassen. Ganz falsch liegt sie damit nicht. Aquina bewundert den kraftvollen und gleichzeitig eleganten Kampfstil ihrer Nachbarn und die Eiszauber sind um einiges cooler als die lahme Wassermagie. Aber dass ein Spion von Exena ein Geheimnis ihrer Mutter weiterträgt, will Aquina trotz allem nicht zulassen. Wenn es so gefährlich ist, wie sie sagt, dann muss Aquina den Katzenhai unbedingt aufhalten.

Ohne lange nachzudenken, nimmt sie die Verfolgung auf. Vielleicht lässt sich nebenbei herausfinden, was hinter dem geheimnisvollen Jungen steckt. Ihren Grottenarrest hat sie völlig verdrängt.

Von der Seite schlingt sich ein Arm um ihren: Snorri. Allerdings wirkt er nicht so aufgekratzt und fröhlich wie sonst, wenn sie zusammen zu einem Abenteuer aufbrechen.

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