Karl Barth

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II. Karl Barths Lebensweg

1.Herkunft, Jugend und Studium

Karl Barth wurde am 10. Mai 1886 in Basel geboren. Er war das erste von fünf Kindern von Fritz Barth (1856–1912) und seiner Frau Anna, geborene Sartorius (1863–1938). Sein Vater, der erst seit Anfang des Jahres an der noch jungen freikirchlich orientierten Baseler Christlichen Predigerschule unterrichtete, habilitierte sich 1889 an der Theologischen Fakultät der Universität Bern und wurde ebenda bald darauf als Nachfolger von Adolf Schlatter, der einem Ruf nach Tübingen gefolgt war, erst zum außerordentlichen und dann zum ordentlichen Professor für Kirchengeschichte und Neues Testament ernannt. So verbrachte Karl seine Kindheit und Jugend vor allem in Bern. Dennoch sollte Basel nicht nur sein Geburtstort bleiben, sondern auch zu seiner langjährigen Wirkungs- und Lebensstätte werden, zu der er sich auch angesichts all der Auseinandersetzungen, die er hier zu durchstehen hatte, ausdrücklich bekannt hat. Er war sich der besonderen Luft Basels durchaus bewusst und machte sich vor allem die Elemente von ihr zu eigen, die besonders die von ihm geschätzte selbstbewusste Schweizer Unabhängigkeit und Freiheit beflügelt haben. In Basel wurde Karl Barth schließlich auch am 13. Dezember 1968 auf dem stattlichen Hörnli-Friedhof beigesetzt.

Sein Vater Fritz bzw. genau Johann Friedrich Barth entstammt einer Familie, die seit dem 16. Jahrhundert im Aargau ansässig war. Er war das jüngste von fünf Kindern des zuletzt in Basel wirkenden Pfarrers Franz Albert Barth (1816–1879). Aus dem Hause der Großeltern war bei Barths Bismarck in der Gestalt eines Nussknackers präsent, der bei dem Kind Karl einen vitalen Eindruck hinterließ. Die Vorfahren der Großmutter väterlicherseits kamen aus dem Elsass nach Basel. Als erfolgreicher Seidenfärber bekleidete ihr Vater Peter Friedrich Lotz (1787–1841) öffentliche Ehrenämter, aus denen er als temperamentvolle und eigenwillige Persönlichkeit in Erinnerung ist. Karl Barth berief sich später gelegentlich auf diesen „Lotzenzorn“, von dem er einen Anteil mitbekommen habe. – Auch seine Mutter entstammt einer Baseler Theologenfamilie mit neun Kindern, deren Wurzeln nach Oberfranken reichen. Die Familie Sartorius war ebenfalls von anerkannten und gelehrten Charakteren geprägt. Es ist besonders sein lebhaftes Interesse an der Historie, das Karl Barth dieser Linie seiner Familie zu verdanken meinte. Insgesamt kann gesagt werden, dass Barth aus gewachsenen und selbstbewussten bürgerlichen Verhältnissen stammt, wie sie in besonderer Weise für die Kultur und Bildungstradition des 19. Jahrhunderts prägend gewesen sind.

Ihrer Zeit entsprechend war die Erziehung Karls und seiner Geschwister streng, aber auch verständnisvoll. Im Rückblick stand die Dankbarkeit für eine behütete Kindheit und „eine Unmenge von unbewußt Empfangenem“1 im Vordergrund. Besonders erinnerte sich Barth an den tiefen Eindruck, den seine erste Begegnung mit Mozart im Alter von fünf oder sechs Jahren bei ihm hinterlassen hat, als ihm der Vater auf dem Klavier ein paar Takte aus der Zauberflöte („Tamino mein, oh welch ein Glück …“) intonierte.2 Auch Frömmigkeitsprägungen vor allem durch das Elternhaus haben Karl geprägt. Nach zweifelhaften Erfahrungen in der Gemeinde hatte der Vater die Sonntagsschule für seine Kinder zu Hause in sein Arbeitszimmer verlegt, wo er ihnen den Kindergottesdienst hielt. Auch in der freien Schule, die Karl besuchte und an der sein Vater bis zu seinem Lebensende Religionsunterricht erteilte, lag auf der Glaubenserziehung und der religiösen Praxis ein ausdrücklicher Akzent. Von außen wurde sie als eine „für ein paar Herrensöhnlein in pietistischem Sinne errichtete Schule“ bespöttelt, was gewiss auch einen Aspekt dieser Einrichtung traf.3 Im Gegensatz zu dem als zunehmend freisinnig empfundenen offiziellen Schulunterricht stand diese Schule im Zeichen einer bibelgläubig-positiven Ausrichtung, was sich besonders in regelmäßiger Gebetspraxis und intensivem Choralgesang niederschlug. Die Verehrung, die Barth seinem Vater entgegenbrachte, bezieht sich besonders auf die mit seiner Frömmigkeit verbundenen authentischen Gradlinigkeit, in der dieser immer auch für Erneuerung und Bewegung in den überkommenen Ausrichtungen gesorgt und dabei auch den Konflikt etwa in der Schule, aber auch in der Gemeinde oder an der Fakultät nicht gescheut hat. Trotz der gelegentlichen Konflikte wurde er wegen seiner abgewogenen Einschätzungen durchaus geachtet und auch immer wieder zu Rate gezogen. Theologisch schlug sich diese Eigenständigkeit einerseits in vorsichtigen Öffnungsversuchen nieder, mit denen er den Erkenntnissen der historischen Forschung im Bibelverständnis Gehör zu verschaffen versucht hat, und andererseits in seiner zunehmend besorgten Aufmerksamkeit gegenüber den sozialen Herausforderungen, vor denen sich das christliche Gewissen nicht einfach verschließen könne, wenn es darum gehe, das Evangelium in einer sich verändernden Welt zu bewähren. So stand er gewissermaßen zwischen den Stühlen, was seiner weiteren Karriere geschadet hat, weil er den Liberalen nicht entschieden genug erschien und den „Positiven“ mit seiner vermeintlich „linken“ Empfindlichkeit nicht mehr als vollkommen zuverlässig galt. Berufungen an die „positiven“ Fakultäten in Halle und Greifswald scheiterten an seiner Leugnung der Jungfrauengeburt.4 Möglicherweise ist es aber genau diese Haltung gewesen, in der sich der Vater seinen Überzeugungen und der aus ihnen resultierenden Verantwortung treu blieb, die zu dem „unbewußt Empfangenem“ gehört und auf Karl einen tiefen und nachhaltigen Eindruck gemacht hat – beide Eigenschaften finden sich schließlich in eigener Ausprägung deutlich bei ihm selbst wieder. Erst nach dem frühen Tod des Vaters im Alter von 55 Jahren, als Karl bereits in einer Landgemeinde im Kanton Aargau als Pfarrer arbeitete, ist ihm die große Bedeutung, die sein Vater für hatte, erst einigermaßen bewusst geworden.

Auch was die körperlichen Herausforderungen anging, brachte sein Vater für die Kinder ein besonderes Verständnis auf, indem er sich häufig nach dem Mittagessen die Zeit nahm, um mit seinen Söhnen Ring- und Boxkämpfe zu zelebrieren. Im Blick auf seine Kindheit und Jugendzeit erinnerte sich Barth an zahlreiche Balgereien und Streiche, bei denen ihm eine gewisse Anführerrolle zugekommen sei. Es wurden Fehden zwischen den Schulen ausgetragen, aber auch zwischen rivalisierenden Gruppen an der eigenen Schule, an denen sich Karl zum Teil maßgeblich beteiligte. Er widmete sich zudem intensiv dem Spiel mit Zinn- bzw. Bleisoldaten, in dem er mit seinen Brüdern sachkundig ganze Schlachten nachgespielt habe. In einem der seinerzeit in der Schweiz verbreitet zu findenden „Kadettenkorps“, dem er im Alter von elf Jahren beitrat, habe er dann über mehrere Jahre hinweg auch eine beinahe regelrechte militärische Ausbildung durchlaufen. Dass daneben die von den Eltern gewünschte Ausbildung an der Geige in ihren Anfangsgründen stecken blieb, kann kaum verwundern (mehr schon, dass er sich später zu Beginn seines Studiums ausgerechnet mit der privaten Erteilung von Geigenstunden sein Taschengeld verdiente). Allerdings sang er gern und inbrünstig, was er bis in hohe Alter hinein nicht aufgab.

In der nicht besonders geliebten Schule waren Deutsch und Geschichte seine Favoriten, ergänzt durch intensive eigene Lektüre vornehmlich historischer Literatur. Im Verhältnis zur Mathematik dagegen konnte weder er dieser noch diese ihm etwas Besonderes abgewinnen. Die Schule stand in anhaltender Konkurrenz zu den mit Elan verfolgten eigenen Interessen. So wundert es kaum, wenn sich im Zeugnis unter Betragen Einträge finden wie „träumt oft“. Neben der anhaltenden Lektüre fand er sich auch bereits früh zu eigenem Schreiben ermutigt. Mit 13 stellte er seine bis dahin verfassten Schriften zusammen unter dem Titel: „Karl Barths Gesammelte Werke, gewidmet seiner Großmama“.5 Unter den Geburtstags- und Weihnachtswünschen fanden sich immer Bücher, die er gern mit ausgeschnittenen Annoncen auf den zu hinterlegenden Wunschzetteln vermerkte. „Ein Denkmal der Großtaten in den Befreiungskriegen von 1808–1815“ von Christian Niemeyer hat er mehrmals verschlungen und den Inhalt tief ins Gedächtnis eingeprägt. Er verfügte über ein umfängliches historisches Wissen, das er auch selbständig einzusetzen verstand – das hat ihm später in seiner politischen Urteilsbildung zu einer breiten Orientierung verholfen. Eberhard Busch bringt es mit dem Einfluss der geliebten Großmutter Johanna Sartorius in Verbindung, die Karl besonders gern in Basel in ihrer geschichtsträchtigen Wohnung besuchte, dass er bis weit über seine Jugend hinaus mit Fleiß und Umsicht Portraits großer Persönlichkeiten in Geschichte und Gegenwart sammelte und sich mit ihnen vertraut machte.6 Eine besondere Begeisterung brachte er – wie viele Heranwachsende in dieser Zeit – für die Werke Friedrich Schillers auf, wobei ihn insbesondere „Wilhelm Tell“ und das darin enthaltene mit der Schweiz verbundene leidensbereite Pathos für die Freiheit nachhaltig beeindruckt haben. Einerseits wurden Szenen aus Dramen Schillers mit den Geschwistern und Freunden einstudiert und im Gartenhäuschen aufgeführt, und andererseits fühlte sich Karl animiert, auch mit selbst verfassten dramatischen Schauspielen aufzuwarten. Unter dem Eindruck einer Reise mit seinem Vater an den Genfer See verfasste er 1901 sein umfangreichstes Schauspiel „Leonardo von Montenuova oder Freiheit und Liebe“, das dann später 1931 von Bonner Studenten unter der Regie von Helmut Gollwitzer in Barths Haus aufgeführt wurde.7 Auch engagierte sich Karl in einem Schülerverein, rezitierte Gedichte und hielt Vorträge zu historischen Themen, womit er mehr als ausgefüllt war und die Schule eben gleichsam nur mitlaufen ließ.

 

Im Zusammenhang mit dem 1901/02 gern besuchten Konfirmandenunterricht fasste Karl gut zwei Jahre vor seinem Abitur am Abend des Konfirmationstages den Entschluss, Theologie zu studieren. Neben seinem Vater war es vor allem der Pfarrer der Nydeggkirche Robert Aeschbacher, der mit seinem in apologetischer Manier eindrucksvoll dozierend erteilten Konfirmandenunterricht ebenso wie mit seinen anregenden Predigten vor einer meist voll besetzten Kirche bei Karl ein vertieftes Interesse an der Theologie geweckt hat. Dabei war es nicht der Beruf des Pfarrers, der ihn reizte, sondern es ging ihm darum, „zur Realisierung eines mir dunkel vorschwebenden sachlichen Verstehens des Glaubensbekenntnisses zu gelangen.“8 Kurz nach dem Abitur begann er im Oktober 1904 zunächst in Bern sein Studium. Noch im Alter hat sich Barth gern an diese Zeit in Bern erinnert, insbesondere an seine Mitgliedschaft in der Studentenverbindung „Zofingia“. An den Aktivitäten der Verbindung nahm er nicht nur gern teil, sondern er hat sich auch selbst eingebracht, insbesondere mit einer engagierten Anregung zu einer grundsätzlichen Neuorientierung ihres Selbstverständnisses, wie er es in einem Vortrag im Januar 1906 „Zofingia und Sociale Frage“9 vorgetragen hat. Sein Vortrag führte zu heftigen Auseinandersetzungen, die aber nicht nur in Bern im Schwange waren, sondern auch an anderen Orten das Verbindungsleben in unterschiedlicher Form erreichten und in Bewegung versetzten. Es war diese Verbindung, die ihm die Bekanntschaft mit Eduard Thurneysen, seinem späteren Freund und Wegbegleiter, einbrachte, der seinerseits dieser Verbindung in Basel angehörte. Das ordentlich absolvierte Studium vermochte ihn in Bern noch nicht in seinen Bann zu ziehen, auch wenn er besonders interessiert den Vorlesungen seines Vaters folgte.

Nach der 1906 abgelegten propädeutischen Prüfung wechselte er für drei intensive Semester nach Berlin. Diese Entscheidung war ein mit dem Vater ausgehandelter Kompromiss zwischen dem Wunsch des Vaters, der Karl gern in Halle oder Greifswald unter dem Einfluss einer positiv-biblisch orientierten Theologie von Martin Kähler oder Hermann Cremer gesehen hätte, und seinem eigenen Wunsch, sein Studium in Marburg als dem Geburtsort des Neukantianismus fortzusetzen. Neben der Faszination, die er für Adolf Harnack (ab 1914: Adolf von Harnack) empfand, waren es vor allem der Ritschlianer Julius Kaftan und der Mitbegründer der religionsgeschichtlichen Schule Hermann Gunkel, denen die besondere Aufmerksamkeit Barths galt. In dieser Zeit entzündete sich auch das Interesse an dem Marburger Systematiker Wilhelm Herrmann, dessen Lektüre ihm das erste Mal das Gefühl vermittelte, „mit selbständiger Aufmerksamkeit dabei gewesen zu sein in der Theologie“.10 Der Wunsch, in Marburg zu studieren, hatte sich in Berlin weiter verstärkt. Aber es sollte zunächst noch nicht dazu kommen.

Karl kehrte nach Bern zurück, wo er sich nun ganz in die Fänge des Verbindungslebens begab. Er ließ sich zum Präsidenten der „Zofingia“ wählen, was dann mit dem Kommentar versehen wurde, dass ein Ketzer zum Papst geworden sei.11 Das Studium trat zum Ärger seines Vaters in den Hintergrund, und Karl genoss das Studentenleben in vollen Zügen. Er verliebte sich bis über die Ohren in Rösy Münger, eine junge Bernerin. Auch dies stieß auf Ablehnung im Elternhaus und führte, als sich mehr als zwei Jahre später eine Verlobung abzuzeichnen begann, zu massiver Einflussnahme der Eltern auf Karl („Elternwille ist Gotteswille“), so dass dieser im Mai 1910 die Verbindung löste, was ihm dann zeitlebens nachgegangen ist. 2007 gab Karl zum Ende des Berner Semesters dem Druck seines Vaters nach und ging für ein Semester nach Tübingen, um dort widerwillig Adolf Schlatter zu hören.

Endlich konnte Karl den Widerstand seines Vaters gegen das liberale Marburg brechen. Im Sommer 1908 wechselte er erwartungsvoll dorthin, wo er sich vor allem den Wunsch erfüllte, den Schüler Albrechts Ritschls und Neukantianer Wilhelm Herrmann als den herausragenden Vertreter der Marburger Schule zu hören. In der Perspektive Schleiermachers und im Horizont von Kants Vernunftbegriff galt Herrmanns Aufmerksamkeit dem spezifischen Charakter der Religion als einer aus dem individuellen Erlebnis kommenden und Gewissheit stiftenden besonderen Wirklichkeitserfahrung. Die Theologie ist der unzulänglich bleibende Versuch, das prinzipiell Individuelle des religiösen Erlebens zum Wohl der Gemeinschaft mit dem Allgemeinen zu verbinden. Die dem Erlebnis entsprechende freie Hingabe stellt die Religion in den genuin mit ihr verbundenen Horizont der Sittlichkeit. Das Erlebnis steht für die Offenbarung des Willens Gottes. Als solches verschafft es dem nach der Wahrheit und dem Guten ausschauenden Menschen in der bedrückenden Spannung von Sein und Sollen die gesuchte Erlösung, in der er ganz und gar auf Christus verwiesen wird. Diese christologische Konzentration hat Barth mit besonderer Aufmerksamkeit gewürdigt, weil sie der Theologie ihren spezifischen Gegenstand gibt und sie damit aus der Abhängigkeit von anderen Disziplinen befreit. Freilich kommt bei Herrmann diese christologische Konzentration in einer spezifischen Weise in den Blick, indem sie sich auf die Wahrnehmung des inneren Lebens Jesu konzentriert, in dem sich das Wunder der erlösenden Herrschaft Gottes im Menschen zeige. Wenn Barth später für sich auch die christologische Konzentration in das Zentrum seiner theologischen Orientierung stellen wird, bekommt sie eine inhaltlich vollkommen andersartige Wendung, die sich konsequent an dem biblischen Zeugnis orientiert.

Barth hatte sich ganz und gar der liberalen Theologie hingegeben. Nach dem im Herbst 1908 abgelegten Examen und einem kurzen Vikariat kehrte Barth nach Marburg zurück, um dort an der Seite von Martin Rade als Redaktionsassistent der wohl bedeutendsten kulturprotestantisch geprägten Zeitschrift „Die Christliche Welt“ zu arbeiten und darüber hinaus vor allem Kant und Schleiermacher zu studieren. In einem pointierten Beitrag „Moderne Theologie und Reichgottesarbeit“ in der „Zeitschrift für Theologie und Kirche“ formulierte Barth 1909 eine diagnostisch feinsinnige Stellungnahme zur modernen Theologie, in der er sich zu ihren beiden Fundamentalentscheidungen bekennt, nämlich ihrem Individualismus und ihrem historischen Relativismus. Schließlich hat er es „als eine Einweihung für alle Zukunft aufgefaßt“12, als ihn beim Antritt seines ersten Pfarramtes in Genf, wohin Barth als Hilfsprediger in die deutschsprachige Gemeinde berufen war, fünf Minuten vor seiner ersten Predigt die ihm per Post von Wilhelm Herrmann zugeeignete vierte Auflage seiner Ethik erreichte. Auch das in Genf betriebene Studium der Institutio Christianae Religionis, das Hauptwerk des Genfer Reformators Johannes Calvin, hat keine grundsätzlichen Anfragen an seine liberalen Grundüberzeugungen geweckt.

Zu den nicht einmal zwei Jahren als Hilfsprediger in Genf, in denen Barth auch Konfirmandenunterricht zu halten hatte, gehört die Begegnung mit der siebzehnjährigen Nelly Hoffmann, der jüngsten Tochter eines bereits verstorbenen Juristen, die mit ihrer Mutter in Genf lebte, um ihren fünf Töchtern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Nelly bereitete sich mit der Geige am Konservatorium auf ein Musikstudium vor. Sie war Konfirmandin in Barths erstem Jahrgang, der im Mai 1910 konfirmiert wurde. Bereits im Mai 1911 fand die Verlobung statt, der dann 1913 in Safenwil die Hochzeit folgte.

2.Der „rote Pfarrer von Safenwil“

Am Sonntag, den 9. Juli 1911, wurde Barth von seinem Vater in der Bauern- und Arbeitergemeinde Safenwil im Kanton Aargau als Pfarrer in sein Amt eingeführt. Erst vor 40 Jahren war das wachsende Dorf mit seinen inzwischen 1625 Einwohnern, von denen 1487 Protestanten waren, eine selbständige Kirchengemeinde geworden. Das Dorf befand sich im Zuge einer zunehmenden Industrialisierung in einem durchgreifenden Strukturwandel, der mit großen sozialen Problemen verbunden war. Ein immer größerer Anteil der Erwerbstätigen kehrte der ertragsarmen Landwirtschaft den Rücken, um sich durch Industriearbeit mit überaus niedrigem Lohnniveau den Lebensunterhalt zu verdienen, etwa in der Strickerei Hochuli, den ansässigen Textilfabriken oder dem Sägewerk der Familie Hüssy.

Neben vielem anderen waren es zunächst vor allem zwei Bereiche, denen Barth nun – auch im sich intensivierenden Austausch mit verschiedenen Kollegen, die sich in einer vergleichbaren Lage befanden – seine besondere Aufmerksamkeit widmete: einerseits der sorgfältigen Vorbereitung auf die sonntägliche Predigt und andererseits die Bekämpfung des sozialen Elends in seiner Gemeinde. Mit seinen in der Regel recht langen, Wort für Wort ausformulierten und dann doch frei gehaltenen Predigten hat er seine Hörerinnen und Hörer nicht selten mit theologischen Abwägungen überfordert, was mit ein Grund dafür gewesen sein mag – gewiss nicht der einzige (!) –, dass es nur einen schlechten Gottesdienstbesuch zu verzeichnen gab. In liberaler Manier spricht er die Gemeinde mit „liebe Freunde“ an, um ihr dann die Größe Gottes als der ewigen Liebe vor Augen zu stellen wie sie in besonderer Weise an Jesus erkannt werden könne. Deutlich lässt sich die Tonart vor allem der Theologie von Wilhelm Herrmann vernehmen:

Die erste kleine Entfaltung des Keimleins in der Erde wie die Weiterentwicklung des fünfzigjährigen Baumes, sie wären nicht denkbar ohne die milden Strahlen dieser großen Wohltäterin [sc. die Sonne] unserer sichtbaren Welt. […] So leben wir Menschen aus Gott. Kraft, Freude und Frieden sind in ihm zu Hause und nur in ihm. Er ist die Quelle alles Guten, der Ursprung von Allem, was wahr und schön ist. […] Wenn Gott sich uns schenkt, wenn sein Licht und seine Wärme uns erreichen, an uns kommen, das ist das Evangelium.13

Eine besondere Deutlichkeit bekommt der liberale Akzent der Predigten in der Christologie, die im Kreuz ihre spezifische sachliche Mitte vergegenwärtigt:

Es kann keine Rede davon sein, daß wir verzweifeln, daß wir uns stumm dem Leiden und der Sünde hingeben müßten, als ob sie notwendig wären. Der Blick auf das Kreuz befreit uns von diesem Wahn. Dort sehen wir einen, der diese ganze große Not durchgemacht und sie schließlich überwunden hat, ohne an Gott irre zu werden. […] Es ist die stille Heiterkeit und Sicherheit einer Seele, die von vornherein weiß, daß sie tragen kann und siegen muß. Unvergleichlich groß sehen wir diese Art an Christus in seinen letzten bitteren Stunden. Das ist die größte Tat Gottes für uns, daß er ein solches unvergleichliches Bild vor unsere schwache Seele hingestellt hat. Er hat es getan, indem er Christus diese bittere Stunde hat durchmachen lassen. Wir wollen dankbar sein und annehmen, was uns Gott da gegeben hat. Amen. (150)

Neben der Predigt beschäftigte Barth vor allem das soziale Elend der Industriearbeiter, das sich nicht zuletzt in einem verbreiteten Alkoholismus widerspiegelte. Er sah es vom Evangelium aus geboten, sich konkret damit zu befassen, und so erwies es sich als notwendig, sich intensiv mit den Rechtsverhältnissen und den aktuellen Konfliktlinien der Gewerkschaftspolitik vertraut zu machen.

In dem Klassengegensatz, den ich in meiner Gemeinde konkret vor Augen hatte, bin ich wohl zum ersten Mal von der wirklichen Problematik des wirklichen Lebens berührt worden. Dies hatte zur Folge, daß […] mein eigentliches Studium sich [nun] auf Fabrikgesetzgebung, Versicherungswesen, Gewerkschaftskunde und dergl. richtete und mein Gemüt durch heftige, durch meine Stellungnahme auf Seiten der Arbeiter ausgelöste, lokale und kantonale Kämpfe in Anspruch genommen war.14

Wie bereits mit einigen Hinweisen angedeutet wurde, war die wahrgenommene Herausforderung für Barth nicht neu, und sie wurde auch keineswegs nur von Barth gesehen. „Jeder nicht schlafende oder sonst irgendwie hinter dem Mond lebende oder aus irgendeinem Grund verbockte jüngere Schweizer Pfarrer war damals im engeren oder weiteren Sinne ‚religiös-sozial‘.“15 Schon seit 1911 hielt Barth nicht nur vor dem „Arbeiterverein“ Vorträge, in denen er sich offensiv auf die Seite des Sozialismus stellte. Bereits in seinem Elternhaus und dann in seinem Engagement in der Zofingia hatte er sich mit der sozialen Frage auseinandergesetzt, wenn auch vergleichsweise theoretisch. Sein Bruder Peter hatte 1912 in der „Christlichen Welt“ engagiert auf den Zusammenhang von Calvin und dem Sozialismus aufmerksam gemacht und dabei eine bedeutungsvolle Differenz zur lutherischen Orientierung an der individuellen Seligkeit annonciert.16 In einem Brief an Rade im Januar 1914 hebt Karl seinerseits hervor, dass er „ja von der Theologie, bes. Calvin, auf die sozialen Sachen gekommen“17 sei.

 

Barth reiht sich auf eine durchaus eigene Weise ein in den religiösen Sozialismus, der zu dieser Zeit insbesondere durch seine Hauptvertreter Hermann Kutter und Leonhard Ragaz von sich reden machte. Beiden ist Barth mehrmals begegnet; Kutter hat er verschiedene Male besucht und dieser war auch nicht nur einmal bei Barth in Safenwil zu Gast. Intensiv tauschte sich Barth besonders mit seinem Amtskollegen im Nachbardorf Leutwil, Eduard Thurneysen, über die Stärken und Schwächen des religiösen Sozialismus und ihre spezifische Rolle als Pfarrer aus. Zwar waren sie sich in der Zofingia und auch in Marburg bereits begegnet, doch hier wurde nun der Grund für eine Freundschaft zwischen den beiden gelegt, die sich dann in den bald kommenden Turbulenzen und Umbrüchen vertiefte und beinahe ein Leben lang bewährte. Zugleich gab es auch einen lebhaften Austausch mit anderen Kollegen in der Umgebung. So sehr Barth die offiziellen Pfarrkonvente verabscheute, so sehr schätzte er doch den lebhaften Austausch mit denjenigen, die sich mit vergleichbaren Problemen herumschlugen. In diesem Zusammenhang wurde Barth mehr und mehr bewusst, dass es deutlich zweierlei war, einerseits einen auf Diskussion hin angelegten Vortrag über soziale Gerechtigkeit zu halten und andererseits konkret und ergebnisorientiert die Interessen der ausgebeuteten Arbeiter zu vertreten, denen in der Regel schon eine differenzierte Wahrnehmung ihrer Situation verschlossen blieb. Sollte den Arbeitern wirklich geholfen werden, dann galt es einerseits, ihnen Anleitung zu einem organisierten Vorgehen zu geben, damit sie die Lähmung ihrer Wehrlosigkeit hinter sich lassen konnten, und andererseits, ihnen durch Mitwirkung im „Blauen Kreuz“ in ihrem Alkoholproblem konkret zur Seite zu stehen. Die Brisanz der Frage des Alkoholismus mag daran abgelesen werden, dass in dieser Zeit fast die Hälfte aller Pfarrer sich für die Abstinenz entschieden. Auf einen scharfen öffentlichen Angriff vonseiten des Fabrikanten Walter Hüssy, mit dem er Barths Engagement als weltfremden Idealismus lächerlich zu machen versuchte, reagierte Barth mit einer ebenso zugespitzten öffentlichen Antwort, die einerseits deutlich zu erkennen gibt, wie sehr er sich bereits mit den Sachfragen auseinandergesetzt hatte, und andererseits jede Polemik des Angreifers parierte:

Zum Schluß noch ein Wort über Ihre Phrase, daß zwischen Theorie und Praxis ein Unterschied bestehe. (Denn Sie werden doch selbst nicht den Mut haben, diesen Gemeinplatz als einen Gedanken zu bezeichnen?) Sie wollen damit sagen, daß man die Praxis mit der Theorie möglichst ungeschoren lassen sollte. Dieser Wunsch ist in Ihrem Munde höchst begreiflich. Was Sie mit der Praxis meinen, das ist der Privatnutzen, und was ich mit der Theorie meine, das ist die Gerechtigkeit. Sie tun sehr klug daran, dem Privatnutzen die Gerechtigkeit möglichst vom Leibe zu halten und gewisse fatale Bibelsprüche als „alt und deshalb nicht mehr zeitgemäß“ zu erklären. Aber wir wollen es abwarten, wessen Licht länger brennt, dasjenige Ihrer Klugheit, die die Theorie von der Praxis trennt, oder dasjenige des Sozialismus und der Bibel, die an die Stelle des Privatnutzen die Gerechtigkeit setzen.18

Nachdem er entsprechende Einladungen und Aufforderungen mehrfach abgelehnt hat, trat er 1915 schließlich doch noch in die sozialdemokratische Partei ein, um sich auch konkret in den politischen Auseinandersetzungen zu positionieren. Am 5. Feb. 1915 schreibt er an Thurneysen:

Ich bin nun in die sozialdemokratische Partei eingetreten. Gerade weil ich mich bemühe, Sonntag für Sonntag von den letzten Dingen zu reden, ließ es es mir nicht mehr zu, persönlich in den Wolken über der jetzigen bösen Welt zu schweben, sondern es musste gerade jetzt gezeigt werden, daß der Glaube an das Größte die Arbeit und das Leiden im Unvollkommenen nicht aus- sondern einschließt.19

Im Abwägen zwischen Kutter und Ragaz – mit beiden stand er auch im persönlichen Kontakt – schlug er sich eher auf die Seite Kutters, weil er sich zunehmend kritisch gegen jede religiöse Überhöhung des politischen Engagements etwa als die uns gebotene Arbeit am Reich Gottes aussprach, wie sie von Ragaz immer wieder eingefordert wurde. Wiederum an Thurneysen schreibt er:

Versteht es sich denn von selbst, daß „wir“ das Gottesreich „vertreten“ (ein ganz toller Ausdruck! […])? […] Haben wir denn das Gottesreich in seinem radikalen Ernst überhaupt erfaßt, erlebt? Ist der Glaube nur auch für Ragaz persönlich, geschweige denn für die übrige Menschheit eine selbstverständliche Voraussetzung, über die man einfach hinweghüpft, um nun das Gottesreich eins20 zu vertreten? Kein Wort von der „Erkenntnis Gottes“, von der „Umkehr“, dem „Warten“ auf das Gottesreich, […] das doch das Apriori alles „Vertretens“ ist! (69 f)

Eine besondere Bedeutung hatte schließlich im April 1915 ein mehrtägiger Besuch bei Christoph Blumhardt in Bad Boll, der ihm in ausgiebigen Gesprächen vor allem die Unterscheidung zwischen unserem politischen und somit weltlichen Engagement und dem Warten und Hoffen auf das Reich Gottes, das allein durch das Handeln Gottes selbst herbeigeführt wird, prägend ins Bewusstsein einschrieb. Allein die Zuversicht, die der Wirklichkeit Gottes zugewandt bleibt, vermag auch die Handlungsspielräume und Entschlossenheiten in eben das relative Recht zu versetzen, in dem unser Engagement allein seine ebenfalls immer nur relative Bedeutung bekommen kann. Die betonte Relativität steht dabei nicht nur für die zu realisierende Bescheidenheit, sondern in gleichem Maße auch für die wahrzunehmenden Beziehungszusammenhänge, in denen unsere menschliche Geschichte überhaupt erst eine theologisch tragfähige Orientierung gewinnen kann.

Es war insgesamt eine Zeit, in der die Brüchigkeit des Überkommenen bereits zu einer Gewissheit geworden war, ohne dass sich bereits absehen ließ, in welche Richtung es weitergehen sollte. Die Fragen wurden immer drängender und die Antworten immer ungreifbarer. Im Rückblick schreibt Barth 1955 an seine Söhne, dass er zu dieser Zeit „wie eine Hummel gegen alle die verschlossenen Fenster angerannt“ sei.21 Das Problem der Predigt rückte ihm mit einer ganz neuen Grundsätzlichkeit auf den Leib, was er in einer dann in der ganzen Gemeinde verteilten Predigt über falsche Prophetie in Auslegung von Ez 13 auch mitzuteilen versuchte unter der Überschrift: „Der Pfarrer, der es den Leuten recht macht“.22 Tatsächlich polarisierte sich die Gemeinde zunehmend, und Barth wurde mit scharfer Kritik, persönlichen Angriffen, dem Rücktritt von Gemeinderepräsentanten (Kirchenpfleger) aus dem Gemeinderat und auch Kirchenaustritten konfrontiert, was sich unschwer nachvollziehen lässt. Das hatte ihn durchaus auch belastet, und er fragte seinen Freund Thurneysen weniger zweifelnd als selbstermutigend, ob sie da tatsächlich „mitsamt unsern Gemeinden“ hindurchmüssten?23

3.„Gott ist uns ein Fremder geworden“

Mit diesen letzten Überlegungen bewegen wir uns bereits im gründlich veränderten Horizont einer Zeit, die durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs am 1. August 1914 bestimmt wird. Während in Deutschland der Ausbruch des Krieges weithin mit Begeisterung und Enthusiasmus begrüßt wurde, wurde er von Barth als eine katastrophale Kapitulation eines in seinem Narzissmus gegenüber der Realität zunehmend erblindenden Fortschrittsglaubens wahrgenommen. Insbesondere für die Theologie erlebte Barth den Kriegsausbruch nicht zuletzt deshalb als eine grundstürzende Krise, weil er unter einem am 3. Oktober veröffentlichtem Manifest „An die Kulturwelt!“24 mit den Unterschriften von 93 Intellektuellen, in dem der Kriegsausbruch und das deutsche Vorgehen propagandistisch gerechtfertigt werden,