Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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Das Dingslamdei

Wann Willi erstmals das Meer sah, daran konnte er sich beim besten Willen nicht mehr erinnern. Doch sobald er durch die Haustüre trat, konnte er es riechen und schmecken. Vater Wilhelm, ein langer schmaler Mann, arbeitete bei den Elbingener Schichauwerken als Werkzeugmacher, Mutter Johanna kümmerte sich um die Kinder. Als da waren: Willi, sein kleinerer Bruder Kurt und seine ältere Schwester Elisabeth. Gemeinsam bewohnten sie in Mattendorf ein kleines Häuschen. Von hieraus war es nicht weit zum Ostpreußenwerk am Elbingfluss, die Schornsteine der Brauerei Englisch-Brunnen konnte man sehen, und auch der schöne Ziesepark lag in der Nähe. Hinterm Haus gab es einen kleinen Obstgarten mit Äpfel-, Birnen- und Kirschbäumen. Hier saß Johanna an milden Tagen oft auf einer Bank und schaute den Kindern beim Spielen zu. An dem großen Kirschbaum hatte Vater Wilhelm eine Schaukel befestigt, das Brett dazu stammte von einem Bierkasten der Brauerei Englisch-Brunnen, das Seil hatte er am Hafen besorgt. Johanna liebte die Schaukel am Kirschbaum, sie mochte es, wenn sie in der noch warmen Abendsonne den kleinen Kurt auf den Armen hielt und der Wind durch ihre rabenschwarzen Haare streifte. Wenn sie schaukelte, fühlte sie sich dem Himmel auf Erden ein Stückchen näher.

Es war schon spät am Nachmittag, als es Willi vor die Haustüre zog.

»Mutter, kann ich mal zum Paulchen rüber?«

»Ja, aber komm nicht zu spät nach Hause. Du weißt, dass dein Vater es nicht mag, wenn du nicht beizeiten am Abendtisch sitzt.«

»Kein Problem!«, versicherte Willi.

Er wusste, dass sein Vater sehr ungehalten sein konnte, wenn er mal etwas später kam. Früher – vor dem Krieg – da war er ganz anders zu den Kindern gewesen, hatte ständig mit ihnen rumgealbert, und sie hatten jede Menge Spaß miteinander. Als Mutter ihn zu den anderen Soldaten an den Bahnhof brachte, steckten ihm zwei Frauen eine Blume an. Er nahm sie und gab sie seiner Frau, »damit sie immer an ihn denken möge.« Das war 1914. Als er drei Jahre später verwundet und gezeichnet aus der Gashölle von Ypern zurückkehrte, hatte Johanna als Willkommensgruß einen Blumenkranz um die Eingangstür gewunden. Wilhelm nahm ihn nicht einmal zur Kenntnis. Sein Blick war starr geworden, und manchmal zitterte er am ganzen Körper. Ständig war er gereizt, die kleinste Kleinigkeit konnte ihn aus der Bahn werfen.

»Vater hat im Krieg Furchtbares erlebt«, sagte Mutter einmal. Darüber geredet hatte er nie. Mit den Jahren wurde sein Zustand etwas besser. Die Arbeit in den Schichauwerken machte ihm jedoch stark zu schaffen. Ganz gesund wurde er nie wieder. Das Giftgas von Ypern steckte tief in seinem Körper und in seiner Seele.

Nach ein paar Minuten hatte Willi Paulchens Haus erreicht. Er klopfte an die Tür, die sich kurze Zeit später öffnete. Vor ihm stand Paulchens größere Schwester Hanne in Pampuschen und Kittelschürze. Sie war von schlanker Statur, mit blonden Zöpfen und einer riesigen Oberweite, was zu dieser Zeit selbst dem kleinen Willi ins Auge fiel. Schließlich konnte man ihre Brüste einfach nicht übersehen. Hanne, da war er sich sicher, die hatte bestimmt Dutzende von Verehrern.

»Na Willi, willste zu unserem Paule?«

Willi nickte.

»Ja, ist er zu Hause?«

»Ja, ist er. Sag mal Willi, kann es sein, dass ihr – also du und det Paulchen – in den vergangenen Tagen mal was mitgenommen habt, was mir gehörte und was im Wäschekorb hinterm Haus lag?«

»Nee, was meinste denn?«

Willi schluckte.

»Na, so’ n Stück Wäsche.«

Willi stellte sich dumm. Er wusste nur zu genau, worauf die Hanne hinaus wollte.

»Nen Stück Wäsche? Wat denn für ne Wäsche? Strümpfe vellecht?«

»Ne keijne Strümpfe. So nen Büstenhalter eben.«

»Eijnen Büstenhalter? Eijnen in echt?«

Willi bemerkte, wie sich in Hannes Gesicht zu dem ansonsten so blassen Teint ein leichtes Rot gesellte.

»Aber Hanne, wat sollen Paulchen und ich denn mit nem Büstenhalter? Wir sind doch keijene Marjellchens nuscht. Brauch ich etwa nen Büstenhalter?«, lachte er und schob sich mit beiden Händen den Pullover nach oben.

Willi wusste, dass Hanne sehr eigen war, was ihre Kleider betraf. Würde sie merken, dass er ihr etwas vorgaukelte? Oder würde er sie tatsächlich mit seinem stümperhaften schauspielerischen Talent täuschen können?

»Ja, wer wees, wat hier manchmal für Packzeug um de Häuser streicht! Da hatte bestimmt einer einen Furz im Kopf.«

Paul erschien in der Tür und zwängte sich mit einer Angel unterm Arm und einem Eimer in der Hand an Hanne vorbei.

»Hallo Paulchen! Wie geht’s?«

»Gut! Weijste Willi, Hanne sucht immer noch ihren Büstenhalter, so eijnen großen. Irgend eijn Lodschack hat den wohl mit nach Hause genommen. Vellecht hat da jemand eijne Sammlung mit eröffnet.«

»Wisst ihr, wenn ich den erwische, dem hau ich eins auf den Nischel«, zischte Hanne und meinte: »So, ihr beiden. Ich muss mich noch um de Wäsche kimmern.«

»Tschüss, Hanne.«

»Tschüss, Willi.«

Hanne schloss die Tür. Willi wandte sich Paulchen zu.

»Gehen wir angeln? Zum Elbing-Fluss?«

»Ja klar, warum nicht.«

Für Willi gehörte der Elbing-Fluss zu den bemerkenswertesten Flüssen der Welt. Oft schon hatte er hier gefischt. Für ihn war dieses Gewässer nicht nur das Tor zur Welt, es ernährte ihn zuweilen auch ganz gut mit fangfrischem Fisch – wenn man diese wenige Zentimeter langen Rotaugen denn zur Gattung der Fische zählen wollte, die in den häufigsten Fällen am Haken zappelten. »Mit denen brauchst erst gar nuscht durch die Haustür zu kommen«, hatte seine Mutter gemeint. Also grillte Willi sie zumeist am Fluss oder schenkte ihnen ein zweites Leben, indem er sie wieder zurück ins Wasser beförderte.

Willi und Paul hatten sich am Ufer ein schattiges Plätzchen gesucht. Aus einer kleinen Streichholzschachtel, die Paul in der Hosentasche trug, fischte er einen Regenwurm heraus und hielt ihn wie eine Trophäe in die Höhe.

»Schau, den hab’ ich heute morgen im Garten ausgebuddelt.«

Paul hielt Willi das stattlichste Exemplar vor die Nase.

»Dass der überhaupt in eine Schachtel passt!«, grinste Willi.

Nachdem der Köder fachmännisch am Haken befestigt worden war, warf Paul die Angel aus. Am oberen Ende der Rute befestigte er ein kleines Glöckchen. Dann zogen beide ihr Hemden aus und rollten sie als Kopfkissen zusammen. Sie legten sich ins Gras und ließen sich die letzten Sonnenstrahlen des Tages auf den Bauch scheinen, als plötzlich ein wuchtiger Ruck durch die Angel ging.

»Schnell Willi, pack mit zu!«

Paulchen hatte wohl gemerkt, dass da etwas am Haken zappelte – zunächst nur ganz leicht, dann immer heftiger, je mehr er die Angelschnur einholte. Alleine, das spürte er, würde er diesen kapitalen Burschen nicht einholen können. Das Fischlein schlug todesmutige Haken nach allen vier Himmelsrichtungen. Zu zweit umklammerten sie die Angel, die sich am oberen Ende gefährlich nach unten bog, so als wollte sie mit jedem Augenblick zerbersten. Das Tierchen musste noch sehr an seinem Leben im Wasser hängen, denn es wehrte sich nach Leibeskräften. Die beiden starrten wie gebannt auf die Wasseroberfläche, bis sich dort erste dunkle Konturen abzeichneten.

»Was ist das? Ist das eine Schlange?«, fragte Willi ungläubig und starrte aufs Wasser.

Er spürte jetzt jede Muskelsehne in seinen Oberarmen. Das Wassertierchen kämpfte wahrlich tapfer. Doch was würde es ihm nützen? Es hatte sich gänzlich am Haken verbissen.

Nach ein paar Minuten anstrengendem Drill standen Willi und Paul mehr fragend als freudig vor ihrer Beute. Nun hatten sie also etwas an Land gezogen, aber was zum Teufel war das? Es sah aus wie eine Schlange, war aber keine. Und ein Aal? Ein Aal, soviel stand fest, war das auch nicht.

»Ich glaube, ich hab so ein Dingslamdei schon einmal gesehen«, gab sich Willi selbstsicher und erzählte Paulchen, dass es sich dabei um ein recht seltenes Exemplar einer bestimmten Gattung handeln könnte, dessen Name er zwar kannte, der ihm aber bedauerlicherweise soeben während des Drills vor lauter Aufregung entfallen sei. Er glaube aber, sich noch daran erinnern zu können, dass es für die Bratpfanne sehr geeignet gewesen sei, ja dass es eine geradezu vorzügliche Schmackhaftigkeit besessen habe.

Willi überlegte kurz. Dann schaute er Paulchen an und stutzte.

»Schau mal die vielen Augen, die es hat. Meinst du, das ist vielleicht so ein Nässie?«

»Ein Nässie!?«

»Ja! So eijene Sorte eben, die so heijßt, weil sie in eijnem dunklen und furchtbar nassen Wasserloch im Schottenland haust!«, gab sich Willi besserwisserisch.

»Glaub ich nuscht«, wehrte Paulchen ab. »Wat soll denn da hausen?«

»Ja so ‘nen Ungeheuer. Vellecht ist dat hier auch so ‘nen Ungeheuer – halt eben nur etwas kleijner?«

Die beiden debattierten noch eine ganze Weile lautstark. Doch Nässie hin, Nässie her – Paulchen wäre nicht Paulchen, hätte er nicht einen Rat gewusst.

»Wejste Willi, wenn man etwas nuscht kennt, dann muss man einen kennen, der es kennt.«

»Ach ja. Und wen bitte kennst du, der was kennt, was wir nicht kennen?«, fragte Willi neunmalklug.

»Na Raschke, den Schleusenwärter, der weiß bestimmt, was es mit dieser Kreatur auf sich hat. Der lebt schon seit vielen Jahren hier am Fluss und hat schon so manches seltene Wassergetier zu Gesicht bekommen.«

Die Schleuse war eine richtige Falle für die Fische, die den Fluss hinauf und hinab zogen. Da gab es Plötze und Barsche, Aale und Schleie, Bleie und Hechte. An einem Wehr sammelten sie sich an manchen Tagen zu Tausenden. Die Fische bescherten Raschke nicht nur eine stets willkommene Mahlzeit, sondern auch eine satte Nebeneinkunft, die in manchen Monaten größer gewesen sein dürfte, als sein Lohn als Schleusenwärter. Saß er nicht bei seiner Schleuse, war er auf dem Fischmarkt in Elbing unterwegs. Hinter der Schleuse betrieb er noch einen kleinen Räucherschuppen, aus dem ständig stinkender Qualm zog. Hier räucherte er die Aale. Das Feuer nährte er mit Tannenzapfen. »Wegen dat janz besondere Auroma«, wie Raschke stets prahlte.

 

Also gingen Willi und Paulchen mit Nässie, oder was immer sich auch in dem Eimer befand, zum Haus des Schleusenwärters. Willi klopfte an die Tür, während Paul den Eimer mit der Beute fest mit beiden Händen umklammerte. Die Tür öffnete sich und heraus trat ein kleines hageres Männlein mit einer Schifffahrtsmütze auf dem Kopf und einem Giezkocher im Mundwinkel, der nur noch im Entferntesten Ähnlichkeit mit einer Tabakspfeife hatte.

Raschke fehlte am rechten Arm die Hand. Als Schreinergeselle hatte er sie bei einem Unfall an einer Maschine verloren. Aber er war deshalb kein Griesgram. Trotz seiner Behinderung konnte er ohne Probleme die Schleuse öffnen. An einem großen Kreuzhebel, der aus dem Boden ragte, stemmte er sich mit seinem ganzen hageren Körper gegen die Flügel aus Eisen. Ein Teil der Brücke, die über den Fluss führte, bewegte sich schließlich seitwärts und gab nach kurzer Zeit die Durchfahrt frei.

Raschke lebte alleine und zurückgezogen. Schon vor Jahren war seine Frau verstorben. Kinder hatte sie ihm keine geboren. Sein Haus zierte ein guter Giebel, worüber die Leute zuweilen ihre Späße machten, wollte heißen, seine Nase war etwas größer als die seiner Mitmenschen. Aber das spielte für Willi und Paulchen in diesem Moment keine Rolle.

»Na, ihr Lachodder , wat habt ihr zweje den da inne Ejmer?« Lachodder, das war einer, der zu nichts taugte. Als Schimpfname, der mit einem Augenzwinkern verbunden war, musste man sich den Namen in Elbing gefallen lassen. Und so kümmerte es Willi und Paulchen wenig, wenn Raschke sie auf diese Weise begrüßte.

»Dat wissen wir auch nuscht so genau, Herr Raschke. Wir dachten, dass Sie sich das Tierchen mal etwas genauer anschauen könnten. Vellecht wissen Sie ja, zu welcher Gattung es gehören könnt.«

Raschke kratzte sich am Kopf.

»Gattung! Na gut, dann kommt man ruhig rein, ihr Banausen.«

Die Burschen betraten das Schleusenwärterhäuschen.

Der Schleusenwärter nahm das Tierchen aus dem Eimer. Er hielt es in die Höhe, während es wie wild hin und her zappelte, und betrachtete es von allen Seiten. Immer wieder drehte und wendete er es.

»Hmmh …?« brummelte er dabei in seinen langen zotteligen Bart. »Hmmh …?«

Dann wendete er das Wassertierchen ein weiteres Mal, diesmal in die andere Richtung.

»Also … Es könnte … Hmmh, ja also… Ja ihr Lachodder, also so genau kann ich euch das auch nicht sagen, das mit der Gattung. Wisst ihr, so ein seltenes Tierchen, das muss man sich allemal in aller Ruhe betrachten. Ich denke, um es genauer bestimmen zu können, misd ich es erst mal ein Weilchen in meijne fürsorgliche Obhut nehmen. Am besten, ihr lasst das Tierchen mal hier, dann kann ich es mir in aller Ruhe beäugen, wenn ich etwas mehr Zeit habe.«

Willi und Paule ließen den Schleusenwärter also aus Forschungsgründen alleine mit dem unbekannten Flussbewohner. Noch Tage später erzählten sie sich von diesem schlangenartigen Ungeheuer. Was aus dem Tierchen wurde, Willi und Paul hatten es nie erfahren. Raschke meinte einmal nur beiläufig, als Willi ihn in Elbing auf dem Fischmarkt traf, dass es sich bei diesem Dingslamdei wohl um eine Lamprete gehandelt haben müsste und …, dass es geräuchert ähnlich vorzüglich delikat schmecke wie ein Aal!

Das Geburtstagsgeschenk

»Es hat geschneet, Mutter! Es hat geschneet!«

Der Anblick der weißen Pracht hatte Willi in helle Verzückung geraten lassen. Über Nacht war plötzlich die Temperatur gefallen, und der Frost hatte ein dünnes pulvriges Kleid über Elbing gelegt. Man schrieb den 15. Oktober des Jahres 1922, und eigentlich war es noch viel zu früh für einen Wintereinbruch. Willi blickte auf seinen 12. Geburtstag, und draußen lag Schnee. War das nicht ein Zeichen des Himmels? Nichts hatte er sich sehnlicher gewünscht, als ein Paar Schlittschuhe, mit denen er auf der zugefrorenen Hommel oder dem Elbing-Fluss im Winter seine Runden drehen konnte. Willi hatte die Schlittschuhe vergangenes Jahr in der Vorweihnachtszeit in den großen Schaufensterauslagen eines Kaufhauses entdeckt.

»Na, Willichen, haste Geburtstag heut?«

Mutter Johanna tat so, als habe sie mit dem Geburtsdatum ihres Sohnes gewisse Zweifel.

Willi nickte. Was für eine Frage? Er befand sich sozusagen in einem Zustand freudiger Erwartung und seine Mutter machte Scherze. Mutter Johanna hatte mit Elisabeth bereits am Frühstückstisch Platz genommen. Der kleine Kurt schlief nebenan. In der Mitte des Tisches stand eine prächtige Schokoladentorte, darauf waren zwölf kleine Kerzen eingesteckt.

»Ich wünsche dir alles Gute zu deinem 12. Geburtstag, mein Schatz.«

Johanna presste Willi fest an sich und drückte ihm einen dicken Kuss auf die Stirn.

»Ich wünsche dir auch alles Gute«, gratulierte Elisabeth, seine ältere Schwester. Vater Wilhelm würde sich den guten Wünschen am Abend anschließen. Er war schon in aller Frühe zur Arbeit aus dem Haus gegangen.

»Du weißt ja, wenn du die Kerzen nicht mit einem Male ausbläst, dann bringt das Unglück«, frotzelte Elisabeth.

»Ach sei still, Elisabeth«, mahnte Mutter Johanna. »Erzähl dem Jungen doch nicht so ein dummes Zeug.«

Es war Tradition im Hause Steinky, dass das Geburtstagskind am Morgen die Kerzen ausblasen musste. Dann durfte es sich ein großes Stück von der Torte nehmen und alle schauten zu, wie es die süße Portion in einem Gefühl von Glückseligkeit verspachtelte. Der Rest der Torte wurde weggestellt, und am Nachmittag machte sich dann die ganze Geburtsgesellschaft genüsslich darüber her. Warum das so war, das wusste keiner. Es war halt schon immer so.

Willi visierte die Kerzen auf dem Kuchen an und holte kräftig Luft, so als wolle er den ganzen Tisch umpusten. Er blies und blies, und als er fertig war, da war das eingetreten, was nicht geschehen sollte: Eine Kerze war nicht erloschen. Sie leuchtete trotzend in hellem Licht, so als wollte sie die ganze Küche ausleuchten.

Willi blickte ängstlich zu seiner Mutter.

»Wird jetzt was Schlimmes passieren?«

»Ach was, Willi. Geh, iss deine Schokoladentorte. Nichts wird passieren!«

Obwohl die Worte seiner Mutter ihn zunächst zu beruhigen schienen, musste Willi unentwegt auf die Kerze blicken. Er ließ sie nicht aus den Augen und hatte sie schon eine ganze Weile fixiert, als er schließlich mit einem Satz aufsprang, den Kopf über den Tisch beugte und auch dieser letzten Kerze das Licht auslöschte.

»So«, meinte Willi. »Damit auch gar nuscht Schlimmes nuscht wird passieren können.«

Genüsslich machte er sich sodann über das Tortenstück her. Ach, wie genoss er es. Nie im Leben würde er vergessen, wie fein Mutters ostpreußische Schokoladentorte schmeckte. Nie im Leben. Doch seine Gedanken kreisten in diesem Augenblick nicht nur um die Torte. Gab es zum Geburtstag nicht auch immer noch ein Geschenk? Hastig schlang er die süße Köstlichkeit hinunter. Als das letzte Stückchen vertilgt war, fasste Mutter Johanna hinter die Kommode und fischte ein kleines Päckchen hervor.

»Hier Willi, für dich.«

Willi stutzte. Misstrauisch beäugte er das Paket. Schon rein äußerlich erweckte es nicht den Anschein, als könnten darin ein Paar Schlittschuhe verborgen sein. Willi bedankte sich und öffnete das Geschenk. Zum Vorschein kamen Wollsocken und Handschuhe. Stinknormales, hundsgemeines Strickwerk, nichts, was das Herz eines zwölfjährigen Jungen hätte höher schlagen lassen können.

»Damit du es im Winter immer warm hast. Die haben Elisabeth und ich für dich gestrickt.«

»Ja, das haben wir«, fügte Elisabeth bei und hielt ein weiteres kleines Päckchen in Händen, das sie kurz zuvor ebenfalls hinter der Kommode herausgefischt hatte.

»Und das gehört auch noch dazu. Die habe ich alleine gemacht.«

Willi öffnete auch diese Gabe. Zum Vorschein kamen eine Mütze und ein Schal.

»Freuste dich?«

»Ja Mutter, das tue ich«, flunkerte Willi. Ihm war klar, dass jeder am Tisch spüren musste, in welch einem Dilemma er sich gerade befand. Sein Seelenzustand musste ihm ins Gesicht geschrieben sein. »Ich bin todtraurig, denn ich habe keine Schlittschuhe bekommen«, stand dort für jeden sichtbar in dicken Buchstaben zu lesen.

Johanna sah ihren Sohn an und lächelte.

»Ach, fast hätte ich es vergessen. Da müsste ja noch was unter dem Küchenschrank liegen, ganz hinten, da wo wir nicht hinkommen. Aber vielleicht schaffst du es ja.«

Noch was unterm Küchenschrank? Willi blickte ungläubig zu seiner Mutter hinüber. Hatte sie gerade »noch was« gesagt? Mit einem Satz hechtete er Richtung Schrank, streckte sich flach wie ein Brett auf den Boden und verschwand im nächsten Augenblick mit dem halben Kopf unter dem massiven Möbelstück. So als würde er irgendwelche Schwimmübungen vollziehen, ruderte er mit beiden Händen nach vorne. Willi erkannte, dass da noch etwas in der hintersten Ecke lag. Möglicherweise ein Karton – oder nicht? Doch ergreifen konnte er ihn nicht.

»Probier es doch mal damit!«

Willi rutschte ein Stück zurück. Er schlug fast mit dem Kopf gegen den Schrankboden und griff nach einem großen Kochlöffel, den seine Mutter ihm reichte.

»Ja, damit müsste es klappen!«

Willi verschwand mit dem Werkzeug wieder zur Hälfte unter dem Schrank. Mit beiden Händen setzte er den Kochlöffel an dem Päckchen an, um es mit einem gewaltigen Ruck nach vorne in Richtung Tisch zu befördern. Und dann kam es mit einem Male unterem Schrank hervor gesaust. Willi rutschte auf dem Hosenboden zur Seite und saß jetzt vor diesem verschnürten Paket wie das Karnickel vor der Schlange.

»Darf ich es aufmachen?«

»Natürlich!«, lachte Johanna. »Schließlich ist es ist doch dein Päckchen.«

Hastig zog Willi an den dünnen Schnüren. Dann entfernte er das Geschenkpapier. Er spürte, wie sein Herz schneller zu schlagen begann. Zum Vorschein kam ein Karton mit einer maschinellen Aufschrift. »Hergestellt in Hamburg« stand darauf geschrieben und direkt daneben, da waren … ja, da waren ein Paar Schlittschuhe abgebildet.

»Mama, das ist ja fantastisch!«

Willi verschlug es fast die Sprache. Wie sehr hatte er auf diesen Augenblick gewartet. Eigentlich schon ab dem Moment, als er diese Schlittschuhe zum ersten Mal beim Kaufhaus am Elbing-Fluss in der Auslage entdeckt und verspürt hatte, dass er sie unbedingt haben musste. Mit einem schnellen Ruck entfernte er den Deckel, griff in das Paket, und im nächsten Moment hielt er sie auch schon in Händen: seine nagelneuen, funkelnden Schlittschuhe. Die besten Schlittschuhe der Welt. Seine Schlittschuhe!

»Ja, das sind jetzt deine.«

»Das ist ja prima, Mutter. Vielen, vielen Dank.«

Willis Freude kannte keine Grenzen. Er fiel seiner Mutter in die Arme, die ihn fest an sich presste. Er wusste sehr wohl, dass diese Schuhe nicht ganz billig gewesen waren. Was er jedoch nicht ahnte, war, dass Johanna sie mühsam verdient hatte. Ein ganzes Jahr lang war sie zwei- bis dreimal die Woche stundenweise zur Zigarrenfabrik Loeser & Wolff gegangen und hatte dort für einen geringen Stundenlohn Zigarren verpackt und Etiketten angebracht – Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat. Solange bis sie das Geld zusammen hatte.

»Na Willichen, freuste dich?«

Natürlich freute sich Willi. Und wie er sich freute. Es war für ihn der schönste Tag in seinem noch jungen Leben. Und jetzt fehlte zu seinem Glück nur noch eins: das Eis. Doch auf das würde er noch eine Weile warten müssen. Als Willi am nächsten Morgen aufwachte und aus dem Fenster schaute, war der Schnee verschwunden und das Thermometer über Nacht wieder nach oben geklettert.