Das Mädchen mit den Schlittschuhen

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Der erste Wagen

»Suchst du etwa die hier?«

Die Stimme, die Albert hinter sich vernahm, kannte er nur zu gut.

Ist das nicht …?

Noch immer sprachlos, drehte er sich um.

Karlchen? Natürlich! Es war Karlchen, sein kleiner Bruder. Geschniegelt und gestriegelt stand er im Eingang zum Schlafzimmer, etepetete, wie aus einem Ei gepellt. Pechschwarze Haare, akkurater Seitenscheitel, Knickerbocker mit Hosenträger, darunter sein Lieblingshemd – ein weißes, langarmiges. Die Schuhe blitzblank geputzt, dass man sich fast darin hätte spiegeln können.

Albert hatte ihn gar nicht bemerkt. Doch immer dann, wenn man überhaupt nicht mit ihm rechnete, war er plötzlich da.

»Woher hast du gewusst, wo die Schlittschuhe sind?«

Die Schlittschuhe an den Schnüren gepackt, hielt er sie zwei Trophäen gleich in die Höhe und stand dabei wie angewurzelt in der Zimmertür. Ein breites schelmisches Grinsen legte sich auf sein Gesicht, so wie er immer grinste, wenn ihm irgendetwas durch den Kopf schoss, was nichts taugte. Karlchen war zehn Jahre alt, aber ein ausgekochtes Schlitzohr, wie es in Klotainen kein zweites gab.

»Willumeit hat es mir zugeflüstert!«, antwortete Karl.

»Willumeit? Nie und nimmer!«, fauchte Albert ihn an.

Adolf Willumeit galt im Dorf als Sonderling, von der Statur her war er ein stangenlanges Gerebbel mit ausgesprochen großen Ohren, die er zumeist unter einer Mütze zu verstecken versuchte. Sommer wie Winter lief er mit der gleichen, zigfach gestopften Jacke durchs Dorf, die er vor dem Anziehen ausschlackerte und die aussah, als hätten die Mäuse daran geknabbert. Willumeit galt als wortkarg, er redete nicht viel, was aber nichts damit zu tun hatte, dass er nichts zu sagen gehabt hätte. Im Gegenteil. Wenn er etwas mitzuteilen hatte, dann fanden sich in dem ansonsten ereignisarmen Klotainen auch rasch ein paar Zuhörer. Das lag wohl daran, dass manche Leute im Dorf glaubten, er habe so etwas Ähnliches wie seherische Fähigkeiten. Im Jahr 1933, als ein kleiner Weltkriegsgefreiter, der eigentlich gar kein Deutscher war, Deutschland auf Kosten anderer zur Weltmacht machen wollte, erzählte Willumeit im Dorf von einem großen Krieg, der das Land überziehen würde. »Millionen von Menschen werden ihr Leben lassen«, erzählte er den Leuten im Dorf, den Kleinen wie den Großen. Und dass es am Firmament geschrieben stand, von wo er es nur habe ablesen müssen, was ihm in dem kleinen ermländischen Dörfchen stets größte Aufmerksamkeit zuteil werden ließ.

Jemand hatte also für andere unsichtbar am Himmel herum gepinselt, und Adolf Willumeit, der Sonderling aus Klotainen, brauchte es nur noch zu lesen. Die meisten im Dorf hielten ihn für einen Schossel, für jemanden, der einfach nur dumm daher redete. Sie zeigten mit dem Finger an den Kopf, wenn die Rede auf Willumeit und seine Prophezeiungen kam. Auch seiner Frau war das Gerede nicht geheuer. »Schlabber nuscht so kariert«, meinte sie zu ihm. »Du machst mir in Klotainen noch alle ganz meschugge! Ja sie drohte ihm sogar damit, dass sie ihm sein Klunkermus, eine Art Milchsuppe mit eingerührten Mehlklößen, seine Lieblingsspeise, entziehen würde, wenn er nicht damit aufhören würde, von irgendwelchen Himmelserscheinungen zu faseln. Fortan hielt Willumeit zwar immer häufiger seinen Mund, wenn es um die Dinge ging, die es da oben zwischen den zumeist tief liegenden Wolken zu lesen gab, aber dennoch sah man ihn stets mit erhobenem Kopf durchs Dorf stolzieren. Im Laufe der Zeit entwickelte er dabei sogar eine ganz eigene Technik, indem er mit einem Auge zum Boden blickte, mit dem anderen zum Himmel hoch linste – immer auf der Suche nach irgendwelchen überirdischen Neuigkeiten.

Albert fand ihn auch immer etwas sonderlich. Karlchen aber, der mochte ihn.

»Dem Karlchen, mit dem ist was gefällig«, pflegte Willumeit immer zu sagen. Das Karlchen, das sei kein Glumskopp, meinte er, das sei so schlau, das könne sogar Katzendreck im Dunkeln riechen. Dem kleinen Karl imponierte das mächtig. Einen ellenlangen Vortrag über das ostpreußische Rindvieh an sich und insbesondere über die klotainische Kuh hatte er Willumeit während eines Spaziergangs gehalten. Und der hatte andächtig zugehört. Karlchen klärte ihn darüber auf, warum die Viecher in Klotainen mehr Milch geben als ihre Artgenossen in Wernegitten und wieso die Kuh von Frau Glupsch die größten Fladen fallen lässt. Karlchen wusste alles übers Viehzeug, zumindest tat er so. Selbst der Kuhschwanzastronom aus Heilsberg, womit er den örtlichen Tierarzt meinte, und da war er sich sicher, hätte von ihm noch etwas lernen können. Und was Willumeit an Karlchen besonders gefiel, war die Tatsche, dass er auch über Klunkermus sprach, welche Sorten von Klunkermus es gibt, darüber, wie man die Mehlklöße zubereitet, damit sie nicht auseinanderfallen und wie lange man sie in der Milchsuppe garen muss. Willumeit war stets fasziniert von so viel Gourmetwissen.

Karlchen war stolz darauf, Katzendreck im Dunkeln riechen zu können. Er verstand es als Kompliment und fühlte sich geehrt, geradeso als habe ihm der alte Willumeit mit diesem Satz einen Orden verpasst. Mit Stolz geschwellter Brust ging er fortan durchs Dorf, erzählte jedem, der seinen Weg kreuzte, von Kühen und Katzen, und wenn der Tag zu Ende ging und Karlchen in den Schlaf fiel, dann fing er am nächsten Morgen wieder damit an. Er hatte eben einen ausgeprägten Missionsgeist. An klaren Tagen erwischte er sich sogar manchmal dabei, wie er zum Himmel hochblickte. Doch außer Cumulus- oder Cirruswolken konnte er dort nichts ausmachen.

Doch der alte Willumeit – er sollte Recht behalten. Man schrieb das Jahr 1944. Der große Krieg war bereits im fünften Jahr. Tausende und Abertausende waren auf den Schlachtfeldern gestorben. Vielleicht konnte Willumeit die Dinge tatsächlich voraussehen, vielleicht war er aber auch nur etwas verwirrter als andere. Aber woher zum Teufel sollte dieser seltsame Mensch wissen, wo sich Mutters Geheimfach befand und dass die Schlittschuhe darin lagen? An der Sache, das roch Albert sofort, an der war irgendetwas faul.

Es gab Tage, da hätte er Karlchen zum Mond schießen können und vielleicht auch noch ein Stückchen weiter. Und heute, da war so ein Tag. Ständig nervte er, und nie blieb er bei der Wahrheit. Und stur konnte er sein. Ein Esel hätte sich vor Neid in den Schwanz gebissen. Was dieser kleine schwarzhaarige Ermländer sich einmal in den Kopf gesetzt hatte, das bekam da so schnell keiner mehr heraus.

»Du kannst die Schuhe gerne haben. Aber nur unter einer Bedingung«, machte Karlchen seinem Bruder unmissverständlich klar.

»Und unter welcher?«, fragte Albert ungläubig.

»Wenn ich heute Abend deinen Nachtisch bekomme!«

»Den eingemachten Kürbis?«

»Ja, den Kürbis!«

»Muss das sein?«

Eingemacht mochte ihn Albert für sein Leben gern.

»Ja!«

»Na denn … Ja, kannste haben. Also her mit den Schlittschuhen!«

Ungeduldig griff Albert nach den blinkenden Kufen. Es war Ende 1944, der erste längere Frost hatte Besitz vom Land ergriffen. Seit Tagen war es bitterkalt geworden. Eine dicke Eisdecke hatte den See überzogen.

»Ich bin in einer Stunde wieder zurück. Sag mir Bescheid, wenn Mutter früher von der Arbeit kommen sollte«, rief Albert seinem Bruder zu, während er die Schlittschuhe unter die Arme packte und zur Haustür rannte.

»Mach ich. Und nicht vergessen: Den Kürbis bekomme ich!«, rief Karlchen ihm hinterher.

»Natürlich! Kriegste.«

Albert lief zum Teich, der sich direkt hinter dem Haus befand. Er hockte sich auf eine kleine Bank, die dort stand. Mit zwei, drei Griffen streifte er den blinkenden Stahl über die Schuhe. Es waren seine Sonntagsschuhe, die er immer zum Kirchgang anziehen oder zu anderen festlichen Anlässen tragen musste. Wenn das Mutter wüsste …! Dann würde es etwas setzen.

Mit wenigen schnellen Schritten glitt er über den vereisten Teich weiter auf der eisigen Rinne des kleinen Baches Richtung See. In der Senke nahm Albert auf der Straße in Richtung Siegfriedswalde einen dunklen Punkt wahr, der sich langsam bergabwärts bewegte. Albert stoppte abrupt. Die Kufen krallten sich ins Eis. Eiskristalle spritzten über den kleinen Bachlauf. Was zum Teufel ist das?

Albert wartete, bis sich aus dem kleinen schwarzen Punkt erste Konturen abzeichneten. Er erkannte einen Wagen. Es war ein alter, klappriger Leiterwagen, so wie in Klotainen einer bei Urbschats hinter der Schmiede stand. Vorne auf saß ein vermummter pummeliger Mann, eine Kapuze über den Kopf geschlagen, darunter einen Hut. Sein Atem dampfte. Hinten an dem seltsamen Gespann hatte er eine Kuh angebunden. Der Wagen selbst war mit einer Plane zugedeckt. An der Seite klapperte ein Eimer am Holz, so alt wie ein Gewehr aus der Rüstkammer von Plibischken. Nebenher lief ein bis fast auf die Knochen abgemagerter Schäferhund.

Bei dieser Kälte zieht jemand mit dem Wagen übers Land?

Albert kam dies nicht geheuer vor.

Der Mann mit dem Gespann hielt an.

»Na, Jungelchen. Wo willste denn hinne? Schlittschuhlaufen?«

»Ja, drüben auf dem See«, stammelte Albert leicht verdutzt. Er hatte nicht damit gerechnet, dass der Fremde ihn ansprechen würde.

»Wo wollen Sie denn bei dieser Kälte hin?«

»Gen Westen will ich. Da wo du und deine Leute auch bald hingehen werden. Gen Westen

Albert versuchte, sich den seltsamen Mann näher anzuschauen. Doch er sah kaum seine Nasenspitze.

»Warum, Väterchen, sollten wir denn nach dem Westen gehen?«

»Deiwel noch eins! Hat man dir das noch nicht gesagt? Weil de Russen kommen! Deshalb!«

 

Die Russen kommen? Nach Ostpreußen? Albert wusste, dass die Front näher gerückt war. Mutter hatte heimlich am Volksempfänger gelauscht, und sie hatte ihm erzählt, dass sie Klotainen möglicherweise verlassen müssen. Sollte es wirklich bald soweit sein? Alles lief doch so wie sonst! 1944 war ein gutes Jahr, hatten die Bauern im Dorf gesagt. Die Ernte war ohne große Verluste geborgen worden, die Scheunen gefüllt. Mitte Oktober war auch die Hackfruchternte abgeschlossen worden. Die Keller waren ebenfalls gefüllt, und die Bauern hatten schon vor Wochen die Winterfurchen auf ihren Äckern gezogen.

»Ach wo, hier kommen doch keine Russen. Das würde der Führer niemals zulassen.«

»Das, Jungchen, das Zeugs haben die Leute in meinem Heimatdorf auch gefaselt. Doch zum Schluss hat keiner dort mehr an den Endsieg geglaubt, nicht mal die Nazibonzen selbst. Und diejenigen, die geblieben sind, die sind fast alle tot. Glaub mir Jungchen: Der Tod macht keinen Unterschied zwischen Nazis und einem aufrechten Ostpreußen.«

Noch immer sah Albert nur den Dampf des Atems, der sich wie ein undurchdringlicher Schleier vor das vermummte Gesicht gelegt hatte.

»Wo kommen Sie her?«

»Aus dem Memelland, aus der Nähe von Tilsit. Und ihr, ihr solltet auch auf der Hut sein. Unterwegs habe ich die ersten russischen Aufklärungsflugzeuge gesehen. Die waren ziemlich hoch. Aber man konnte sie deutlich ausmachen.«

»Ach Väterchen, das waren bestimmt die unsrigen!«, versuchte Albert ihm entgegen zu halten.

»Jungchen, sag deinen Eltern, sie sollen den Wagen packen. Auch wenn sie euch etwas anderes erzählen. Es wird nicht mehr lange dauern, dann wird hier die Hölle los sein. Glaub mir.«

Jetzt wurde es Albert zu bunt.

»Unsere Soldaten werden die schon aufhalten«, keifte er.

»1,5 Millionen Russen? Schabber nuscht so kariert, Jungchen! 1,5 Millionen, die kann man nicht mal eben so aufhalten!«

»Aber es werden doch jetzt auch überall Gräben ausgehoben«, meinte Albert fast verlegen.

»Willst du diese roten Teufel vielleicht mit der Schaufel aufhalten? Etwa mit Schipp-schipp-hurra? Glaub mir, ihr werdet alle noch einmal nach eurer Mutter schreien!«

Der Alte lachte laut und hämisch.

»Glaub mir, Jungchen, die hält niemand auf! Seht zu, dass ihr fortkommt. Noch ist Zeit. Weggehen ist besser als Schipp-schipp-hurra …«

Der Alte lachte immer noch, brachte das Pferd wieder auf Trab und zog auf der Landstraße weiter in Richtung Heilsberg. »Schipp-schipp-hurra … Schipp-schipp-hurra …«, hörte Albert ihn noch in der Ferne rufen, und er sah, wie sich das merkwürdige Gespann langsam über den Hügel entfernte.

Was erzählte der für einen Humbug? Die Schutzwälle würden die Russen mit ihren Panzern schon stoppen. Und außerdem: Wer dachte jetzt ans Graben. Schlittschuhe wollte er laufen. Schnell nahm Albert wieder an Fahrt auf. Und dann hatte er den See endlich erreicht.

Für ihn war es so, als ob er in ein römisches Amphitheater einmarschieren würde. Er war der Gladiator, da draußen warteten die Bestien, und die Menge, sie applaudierte ihm. Die Welt, sie reduzierte sich für Albert in diesem Augenblick auf diese paar Quadratkilometer Eis. Hier war der Nabel der Welt – zumindest für einen Jungen aus Klotainen. Ein winziger Punkt, der über das Eis sauste und der der Schwerkraft scheinbar entfloh. Stunden konnte er so über das Eis gleiten. Zeit, sie spielte keine Rolle. Oder doch?

Verdammt, der alte Mann mit dem Gespann hatte ihn lange aufgehalten! Und auf dem Eis war er auch schon eine ganze Weile unterwegs gewesen. Mutter konnte schon wieder von der Küchenarbeit zurückgekommen sein. Was, wenn sie bemerkt hatte, dass er die Schlittschuhe aus ihrem Versteck genommen hatte? Nichts wie nach Hause.

In schnellen Schritten glitt Albert zurück zum Bachlauf, dann über den Teich. Am Haus war alles ruhig. Mutter schien noch nicht da zu sein. Albert stieß das Fenster zu seinem Zimmer auf, das er vor seinem Ausflug angelehnt hatte. Nur nicht durch die Vordertür, dachte er. Man könnte ihn sehen. Auf Spitzzehen tapste er durchs Zimmer. Mit ein paar Handbewegungen entriegelte Albert das geheime Fach, wischte mit dem Jackenärmel schnell über die Schlittschuhe und über die kleine Wasserpfütze vor dem Schrank. Dann legte er die Schuhe in das Fach, schob den Riegel vom linken Fach in die Öse und drehte sich herum. Das war an jenem Tag im Jahr 1944, als der Frost das Land fest in seinen Würgegriff genommen hatte.

Und jetzt! Albert konnte es nicht begreifen. Er starrte in eine leere, verstaubte Schublade.

»Sie sind weg, Heinrich. Sie sind nicht mehr in diesem Fach!«

Heinrich und der alte Wójcik hatten die ganze Weile beobachtet, wie Albert sich an dem Schrank zu schaffen machte. Sie sahen seine Enttäuschung. Sie stand ihm in großen Buchstaben ins Gesicht geschrieben. Wie sehr hatte er sich gewünscht, die Schuhe gleich in seinen Händen zu halten. Und jetzt blickte er in dieses verstaubte und leere Fach.

Fragend schaute Albert den alten Mann an, der sich schulterzuckend Heinrich zuwandte.

»Herr Wójcik sagt, es tue ihm leid, dass da keine Schlittschuhe drin waren.«

Ihm tut’s leid? Wie konnte dieser Pole, der hier in seinem Elternhaus wohnte, ermessen, was ihm diese Schuhe bedeuteten? Nicht ansatzweise! Und jetzt sagt er, es tue ihm leid.

Albert war zutiefst misstrauisch geworden. Vielleicht wusste dieser alte Mann mehr als er sagte! Mutter hatte ihm erzählt, wie sie von den Polen auf ihrer Flucht um ihre letzten Habseligkeiten gebracht worden waren. Alles hatten sie ihr genommen: ihre ganzen Ersparnisse, ihren Ehering, die Uhr, die sie von Vater zum zehnten Hochzeitstag geschenkt bekommen hatte. Alles. Was ihr blieb, das waren nur noch die Kleider, die sie am Leibe trug und ihre Kinder, die sie vor der russischen Kriegsfurie in Sicherheit bringen musste. Und da wollte ihm dieser alte, freundlich gestikulierende Pole wirklich Glauben machen, er wüsste nichts von dem Fach im Schrank und den Schlittschuhen, die sich darin befunden hatten. Nie und nimmer!

»Herr Wójcik, fragt, ob wir noch zum Kaffee bleiben wollen, Albert.«

Zum Kaffee? Wie konnte er sich jetzt mit diesem Menschen an einen gemachten Tisch setzen? Undenkbar.

»Sag ihm, dass wir wieder ins Hotel müssen, Heinrich. Wir haben leider keine Zeit!«, knotterte Albert. Er reichte Wójcik die Hand, bedankte sich für die Gastfreundschaft und steuerte in schnellen Schritten die Treppe an. Unterwegs rannte er im Flur an einem kleinen, etwa zehnjährigen Kind vorbei. Er nahm kaum Notiz von ihm. Draußen am Auto wartete er ungeduldig auf Heinrich.

»Warum bist du nicht noch eine Weile geblieben?«, wollte sein Reisebegleiter wissen, als dieser einige Minuten später das Fahrzeug erreichte und hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte.

»Weil ich glaube, dass er lügt. Deshalb!!«, fauchte Albert.

»Das glaube ich nicht.«

»Oh doch, Heinrich. Ich kenne diese Sorte von Polen nur zu gut. Sie lügen, weil sie falsch sind, weil es ihnen im Blut liegt.«

Die beiden fuhren zurück zum Hotel. Die Abenddämmerung war angebrochen. Sie gingen ins Restaurant und bestellten sich noch einen Kaffee. Ein richtiges Gespräch wollte nicht mehr aufkommen. An diesem Abend ging Albert Steinky früh zu Bett. Seine Gedanken schweiften umher. Es dauerte lange, bis er endlich in den Schlaf kam.

Der Herrgottschnitzer

Am nächsten Tag war Albert schon früh aus den Federn gekrochen. Als er das Restaurant des Hotels erreichte, hatte Heinrich schon am Frühstückstisch Platz genommen und genoss den heißen Kaffee und den Blick aus dem Fenster.

»Wie war die Nacht, Albert?«

»Geht so. Hat ein bisschen gedauert, bis ich in den Schlaf kam. Und bei dir?«

Auch Heinrich hatte offenbar schon bessere Nächte erlebt.

»Wie ein Murmeltier hätte ich geschlafen, hätte es da nicht die Bekanntschaft mit dieser Spanplatte unter der Matratze gegeben. Jedes Mal, wenn ich mich umgedreht habe, quietschte das Bettgestell. Fürchterlich! Was steht heute an?«

Albert hatte sich einen dieser köstlichen polnischen Pfannkuchen auf den Teller gelegt, während Heinrich weiter an seinem Kaffee schlürfte und sich gerade an dem Frühstücksei zu schaffen machte. Beide verloren kein Wort über den gestrigen Tag.

»Ich dachte, wir fahren nach Heilsberg und statten der Bischofsburg einen Besuch ab.«

»Ja, warum nicht. Eine gute Idee!«

Albert und Heinrich genossen das üppige Frühstück. Danach packten sie noch ein bisschen Proviant in die Rucksäcke. Schließlich hatten sie sich viel vorgenommen für diesen Tag. Sie wollten Heilsberg erkunden und der altehrwürdigen Bischofsburg einen Besuch abstatten. Gegen 10 Uhr verließen sie das Hotel zu Fuß in Richtung Stadtmitte.

Sie überquerten die Brücke über die Aller und gingen an der Kirche vorbei. Auf der Außenmauer thronten Heiligenfiguren in Übergröße. Sie bildeten einen seltsamen Kontrast zu den Plattenbauten in der unmittelbaren Nähe. Auf einem Balkon hatte jemand einen Schäferhund angebunden, der unentwegt kläffte.

»Ein bisschen Auslauf könnte dem aber auch nicht schaden«, meinte Heinrich und blickte zu Albert.

Doch der hatte gar nicht zugehört. Wie angewurzelt stand er da, starrte auf das Gebäude hinter der Kirche.

»Was ist los, Albert? Du bist ja mit einem Male so blass. Geht es dir nicht gut?«

Albert reagierte immer noch nicht.

Heinrich wartete einen kurzen Moment, dann wagte er einen weiteren Versuch.

»Sag doch, was ist?«

Albert sah Heinrich an. Seine Augen wirkten starr.

»Sag mal Heinrich, war hier mal ein Kloster, ein Altenheim oder so etwas Ähnliches?«

»Ja, mag sein. Warum?«

»Ich glaube, ich kenne dieses Haus. Ich meine, nicht persönlich. Nicht selbst. Ich habe lediglich davon gehört. Aber ich weiß, dass es ein furchtbarer Ort ist.«

Albert schluckte kurz.

»Hatte ich dir schon von Sophie erzählt?«

»Sophie …?

Heinrich schaute Albert ungläubig an.

»Nein, ich glaub nicht!«

Albert wirkte nachdenklich. Seine Gesichtsmuskeln waren angespannt. Unentwegt blickt er auf das Backsteinhaus mit dem großen Tor. Dann begann er mit leisen Worten zu erzählen.

»Sophie war die Tochter des Schmieds Urbschat in Klotainen. Sie war eine rechte Frohnatur und hatte kurzes feuerrotes Haar. Urbschats Wagen hatte sich im Januar 1945 bei der Flucht von Klotainen auf der vereisten Straße quer gestellt, weil er in dem ganzen Chaos des Rückzugs von einem deutschen Panzer gerammt worden war. Dabei brach eine Deichsel. Sie mussten bis Heilsberg zu Fuß weiter. Dort sind sie dann von der Roten Armee eingeholt worden. Sophie, ihre Mutter und ihr Vater und die kleine Schwester Käthe wurden hinter diesen Mauern mit vielen anderen zusammen eingesperrt. Hinter diesen Toren mussten sie wohl ihre schwersten Stunden verbracht haben.«

Damit hatte Heinrich nicht gerechnet.

»Was macht dich da so sicher, dass es ausgerechnet hier war?«

Albert starrte immer noch auf das große Tor.

»Es kann nur hier gewesen sein. Es war ein Altenheim unmittelbar hinter der Kirche, zwischen Kirche und Bischofsburg. Es kann daher also nur hier gewesen sein. Es waren Hunderte von Menschen. Die Russen haben alles zugenagelt: die Tore, die Türen und die Fenster – 14 Tage lang. Die Frauen und Mädchen, darunter auch Sophie, ihre Schwester und ihre Mutter, haben sie täglich raus gezerrt und vergewaltigt. An manchen Tagen ist die ganze Horde über sie hergefallen.«

Albert schluckte schwer, Heinrich merkte wie seinem Begleiter das Reden schwerfiel.

»Ihr Vater stellte sich den Peinigern entgegen. Weißt du, Urbschat, der Schmied, der hatte Riesenkräfte. Er schlug zwei der Russen mit jeweils einem Schlag nieder, bevor der dritte ihm von hinten eine Kugel in den Kopf jagte. Wer sich ihnen entgegen gestellt hat, der wurde einfach erschossen, so war das eben. Und es gab offenbar viele Tote hinter diesen Mauern. Und auch nichts zu essen und, na ja, die Leute starben auch wie die Fliegen am Hunger. Hinter dem Kloster haben sie die Leichen in die Alle geworfen. Aus dem Fluss nahmen sich die Eingeschlossenen das Trinkwasser – und bekamen davon die Ruhr. Auch daran sind viele zugrunde gegangen.«

»Und Sophie?«

»Sie löste nachts eine Glasscherbe aus einem Fenster und…«

Albert stoppte mitten im Satz. Ihm stockte der Atem. Heinrich sagte kein Wort, wartete ab, was geschehen würde.

 

»Ja Heinrich, in diesem verdammten Krieg sind viele schlimme Dinge passiert! Wir Ostpreußen waren eben die ersten, die die Rechnung für Hitlers Größenwahn und die Gräueltaten seiner SS-Schergen in der Sowjetunion bezahlen mussten. Komm, lass uns weitergehen. Das hier ist kein guter Ort, um zu verweilen!«

Albert und Heinrich überquerten eine weitere Brücke in der Nähe des Schlosses, sie wechselten kaum ein Wort. In der Nähe der Peter-und-Paul-Kirche durchquerten sie ein kleines Gässchen, den alten Bischofsitz mit seinen wuchtigen Wehrtürmen in Sichtweite.

»Als Schüler waren wir einmal während eines Wandertages in der Burg. Anschließend mussten wir einen Aufsatz schreiben – über die ermländischen Bischöfe und was für ein Segen sie für die Region waren«, brachte Albert die Unterhaltung wieder in Gang.

Die Geschichtsaufsätze waren ihm immer ein Graus. Wie hatte er sie gehasst. Dabei war er heute selbst ein Stück Geschichte. Aufgewachsen und vertrieben aus einer Jahrhunderte alten deutschen Kulturlandschaft. Wie hatte sein Vater in den wenigen sentimentalen Stunden, die er hatte, immer gesagt, als sie nach dem Krieg im Westerwald sesshaft geworden waren: »Zuhause ist nicht hier, wo wir wohnen, unsere Heimat ist woanders, unsere Heimat, die liegt in Ostpreußen.«

»Ja, ja – die Bischofsburg«, sinnierte Heinrich. »Den günstigen Standort zwischen der Alle und der hier einmündenden Simser haben schon die alten Prussen für die Anlage einer Wehreinrichtung genutzt. Sie nannten sie »Licbark.« Warmia steht für Ermland. So kommt der heutige polnische Name von Heilsberg zustande: Lidzbark Warminski. Wusstest du das, Albert?«

»Nein. Sag mal, was macht diese Bischofsburg eigentlich so außergewöhnlich?«

»So genau weiß ich es nicht. Ich glaube, weil sie so gut erhalten ist und weil ihr Erscheinungsbild so einzigartig ist.«

Albert und Heinrich lösten die Eintrittskarten. Dann begaben sie sich auf Entdeckungstour durch den riesigen Backsteinbau. Albert war besonders von den ausgestellten historischen ermländischen Gebrauchsgegenständen beeindruckt. Gerne hätte er sie fotografiert. Doch das war nicht erlaubt. Überall hingen Verbotsschilder, und das Aufsichtspersonal war ständig auf der Hut. Keine Chance also für einen Schnappschuss. Könnte wohl Ansprüche der früheren Eigentümer nach sich ziehen, wenn sie diese Dinge auf einem Foto entdecken, meinte er später zu Heinrich, als sie den Rückweg ins Hotel antraten.

Am Abend hatten sie Gesellschaft bekommen. Ein Ehepaar hatte am Tisch nebenan Platz genommen: Erwin und Elfriede Hippel aus Berlin-Charlottenburg. Sie befanden sich auf einer Ermland-Expedition in Sachen Familienchronik und erwiesen sich als äußerst mitteilungsbedürftig. Besonders Erwin Hippel. Auffällig waren seine »Berliner Schnauze« und sein Bierbauch, den er wie eine Trophäe vor sich her trug. Hippel war von kleiner Statur, und ein Meckischnitt zierte seinen kleinen runden Kopf. Seine Frau wirkte hingegen eher etwas farblos, ja fast unauffällig. Sie trug eine dicke Hornbrille. Wenn Erwin erzählte, nickte Elfriede oder sein »Friedchen«, wie er sie liebevoll nannte, zuweilen selbstzufrieden und zustimmend mit dem Kopf.

»Wissen Sie, meine Frau, die stammt aus Heilsberg – und wir haben uns beim hiesigen Standesamt ein paar alte Heiratsurkunden kopieren lassen. Der Hotelier war so freundlich und hat uns einen Dolmetscher besorgt.«

Mit einem schnellen und geübten Handgriff fischte Erwin Hippel aus Charlottenburg einen Laptop hervor, den er wohl schon eine Weile zuvor neben seinem Stuhl abgestellt hatte, und breitete sich damit vereinnahmend auf dem Tisch aus.

»Schauen se mal«, meinte er, nachdem alle auf den Augenblick gewartet hatten, dass das Gerät seinen Betrieb aufnehmen konnte. »Dat iss unser Stammbaum.«

Albert und Heinrich waren beeindruckt. Sie erblickten auf dem Monitor einen riesigen Baum, einer, wie er sonst nur im Urwald zu Hause war, mit Hunderten von kleinen Verzweigungen und Verästelungen. Und an allen Enden prangten Namen und Jahreszahlen.

»Haben Sie die etwa alle im Kopf?«, wollte Albert wissen.

»Nee, nisch alle. Aber die meesten.«

Und dann, dann kam die Stunde des Erwin Hippel. Er lief zur Hochform auf, gerade so, als habe er auf diese Frage gewartet, berichtete er von hugenottischen Verwandten dritten Grades, von Bauernkriegen und ehrbaren Kaufleuten, von einem Scharfrichter in der fünften Generation und von einer jungen Frau mütterlicherseits, die nach einem Ehebruch im 17. Jahrhundert qualvoll auf einem Scheiterhaufen endete.

»Tja, scheußliche Sache«, meinte Albert und nippte an seinem Bier. Es war bereits das zweite, das er sich an diesem Abend bestellt hatte. Für ihn war es so, als wollten sich die Wurzeln dieses wundervollen Stammbaumes um den Tisch winden. Dieser Stammbaum, er nahm Besitz von jedem und allem.

»Erwinchen, erzähl den Herrschaften doch mal von unserem Herrgottschnitzer«, meldete sich völlig unerwartet Elfriede zu Wort. Sie hatte die ganze Zeit den Worten ihres Mannes andächtig gelauscht, was wohl Teil ihrer von Gott gegebenen Bestimmung war.

»Herrgottschnitzer? Meinen Sie etwa den Lipow?«, mischte sich Heinrich jetzt ein.

»Ja, genau den. Sie glauben ja nischt, wat wir jestern entdeckt haben.«

»Nun erzählen Sie schon, und spannen Sie uns nicht so auf die Folter«, drängelte Heinrich, der zunehmend neugieriger wurde.

»Also, meene Frau und icke, wir waren jestern auffe Heilsberger Waldfriedhof. Und wat glauben se, wat wir dort entdeckt haben?«

»Ja was denn?«

Zu Heinrichs Neugierde gesellte sich jetzt Ungeduld.

»Die Grabstätte meiner Schwiegerleute.«

»Das Grab existiert noch?«, fragte Heinrich verblüfft.

»Ja. Und das Beste kommt jetzt. Passen se jenau uff: Das Grabkreuz ist aus Holz. Und nun raten se mal, wer das anjefertigt hat.«

Ungläubig blickte Heinrich zu Hippel hinüber.

»Doch nicht etwa Michael Lipow?«

»Ja, jenau, der Michael Lipow.«

»Herr Hippel, da haben Sie aber einen Volltreffer gelandet.«

Heinrich wusste um dieses Kreuz, und er wusste auch um einen von Lipow gefertigten Tisch im Schlossmuseum.

»Ich erzähle Ihnen mal ein bisschen was über diesen Herrgottschnitzer.«

»Ach, Herr Ostrowski, det brauchen se nisch«, würgte Hippel Heinrichs Offerte ab.

»Wir haben uns schon informiert. Nisch wahr, Friedchen!«

»Ja, Herr Ostrowski, mein Mann hat sich in dem Internet informiert. Da hat er alles und noch viel mehr über den Herrn Lipow entdeckt.«

»Sehen Sie«, nickte Hippel. »Mein Friedchen und ich, wir sind bestens vorbereitet jewesen. «

Es gefiel Heinrich ganz und gar nicht, dass er jetzt nicht zum Zuge kam. Doch was sollte er tun? Also überließ er Erwin Hippel das Feld, der mit seinen Schilderungen urplötzlich und völlig unerwartet ins reine Hochdeutsch wechselte.

»Lipow, meine Herrschaften, also Lipow, der stammte aus einer deutschen Müller-Familie in Rschew, das etwa 250 Kilometer von Moskau entfernt liegt. Er entdeckte sehr früh die Kunst als den Inhalt seines Lebens«, erzählte Hippel, dialektfrei, gerade so als habe er die Sätze auswendig gelernt.

»Mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges musste er mit seiner Familie Russland für immer verlassen. Er zog nach Hannover, später nach Königsberg, wo er sein Studium beendete und seine künftige Frau Martha Hohmann hier aus Heilsberg kennenlernte. Schließlich fand er 1923 auch in Heilsberg seine Heimat. Sein schöpferisches Wirken können wir bis heute in vielen Kirchen und auf einigen Friedhöfen des Ermlands bewundern. Seine Heiligenstatuen, Grab- und Weg-Kreuze zieren Kirchen und Friedhöfe rund um die Stadt, aber auch die Wallfahrtskirche Heiliglinde und andere Orte. Als Restaurator arbeitete er ebenfalls an der Renovierung vieler Figuren und Bilder. Ob Holz, Stein oder Leinwand – Lipow ist sich selbst immer treu geblieben. Nach der Flucht vor der Roten Armee im Winter 1945 zog er nach Künzelsau in den heutigen Hohenlohekreis in der Nähe von Schwäbisch Hall. Dort war er bis ins hohe Alter von 92 Jahre tätig. Er starb als sozusagen »zweimal Heimatvertriebener« in Künzelsau im Jahr 1983. Seine Kunst im Ermland und im Hohenlohekreis beweist die Richtigkeit seiner Haltung gegenüber dem Schmerz des Heimatverlustes. »Arbeiten ist besser als Nüschtstun«, hat er einmal gemeint.«