Verfassungsprozessrecht

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c) Persönliche Rechtsstellung der Richter

56Regelungen über die persönliche Rechtsstellung der Richter des BVerfG finden sich in den Schlussvorschriften der §§ 98ff. BVerfGG; ergänzend greifen nach § 69 DRiG die Bestimmungen des allgemeinen Richterrechts ein, soweit dies mit der besonderen Stellung der Richter des BVerfG vereinbar ist.

Fragen zu B. Gerichtsverfassung:

1 Was bedeutet die sog. Inkompatibilität des verfassungsrichterlichen Amts, und wo ist sie geregelt?

2 Wie ist die Zuständigkeit der Senate prinzipiell aufgeteilt?

3 Wie sind die Senate besetzt, und wer führt den Vorsitz?

4 Wann ist ein Senat beschlussfähig?

5 Was sind die Aufgaben des Plenums?

6 Mit welchen Mehrheiten werden die Richter des BVerfG gewählt, und was ist Zweck der diesbezüglichen Regelungen?

Die Lösungen finden Sie auf S. 194.

Literaturhinweis: Hong, Mathias, Ein Gericht oder zwei Gerichte?, Der Staat 54 (2015), 409.

|17|C. Allgemeine Verfahrensregeln
I. Lückenhaftigkeit des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes

57Das BVerfGG stellt keine in jeder Hinsicht umfassende, eigenständige Prozessordnung dar, ist vielmehr durchaus lückenhaft angelegt. Diese Lücken lassen sich zum Teil durch Rückgriff auf die GOBVerfG schließen, z.T. verweist das BVerfGG auch ausdrücklich auf gesetzliche Regelungen für andere Gerichte, ordnet namentlich in § 17 die entsprechende Anwendbarkeit von Vorschriften des GVG an. Soweit danach Lücken verbleiben, sollten diese – der Gerichts- und Rechtsprechungsqualität des BVerfG und seiner Tätigkeit entsprechend – grundsätzlich durch analoge Anwendung allgemeiner verfahrensrechtlicher Grundsätze im Wege einer Gesamtanalogie geschlossen werden.

58Unbeschadet der zwischenzeitlich vom Gesetzgeber anerkannten Geschäftsordnungsautonomie des Verfassungsorgans BVerfG kann die Lückenhaftigkeit der bundesverfassungsgerichtlichen Regelung nicht allgemein im Sinne einer Verfahrensautonomie dahin verstanden werden, dass das Verfahrensrecht im Einzelnen dem BVerfG zur freien Ausgestaltung nach seinen eigenen Vorstellungen überlassen werden sollte. Allerdings muss jede entsprechende Anwendung allgemeinen Prozessrechts auf das BVerfG seiner besonderen Stellung und seinen besonderen Aufgaben Rechnung tragen.

Beispiel: Ob wie in anderen Gerichtsbarkeiten ein Prozessvergleich geschlossen werden kann, wie ihn das BVerfG in den LER-Verfahren (zum Religionsunterricht in Brandenburg) vorgeschlagen hat (BVerfGE 104, 305, sodann BVerfGE 106, 210), kann deswegen unterschiedlich beurteilt werden, s. dafür Schmidt, NVwZ 2002, 925ff., dagegen Wolff, EuGRZ 2003, 463; differenzierend Schlaich/Korioth, Das Bundesverfassungsgericht, 10. Aufl. 2015, Rn. 67f.

II. Ausschluss und Ablehnung von Richtern

59Eine bedeutsame Rolle im verfassungsgerichtlichen Verfahren spielen die beteiligten Richter des BVerfG, deren grundsätzliche Rechtsstellung bereits dargestellt wurde (→ Rn. 3, 56). Im Hinblick auf die Beziehung des Richters zu einem einzelnen Verfahren können sich Probleme ergeben, denen die §§ 18, 19 BVerfGG Rechnung zu tragen suchen. Diese in ähnlicher Form aus allen Prozessordnungen bekannten Bestimmungen sollen sicherstellen, dass auch beim BVerfG die Richter die für ihre Entscheidungen im Einzelfall notwendige Neutralität mitbringen. Eine Verletzung der §§ 18, 19 BVerfGG würde zugleich einen Verstoß gegen das Gebot des |18|gesetzlichen und verfassungsmäßigen Richters gemäß Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG bedeuten.

1. Ausschluss eines Richters

60§ 18 Abs. 1 BVerfGG schließt den Richter des BVerfG mit unmittelbarer Wirkung von der Ausübung seines Richteramts in einer bestimmten Sache aus. Dies hat zur Konsequenz, dass der ausgeschlossene Richter sich jeder weiteren Tätigkeit in der Sache zu enthalten hat. Entscheidungen, die der jeweils befasste Spruchkörper des BVerfG über den Ausschluss eines Richters ohne dessen Mitwirkung treffen kann, haben nur deklaratorische Bedeutung, sind aber im Interesse der Rechtsklarheit praktisch gleichwohl wichtig.

61Die Ausschlussgründe sind im Rahmen des § 18 BVerfGG so ausgestaltet, dass zunächst in Abs. 1 die beiden Grundtatbestände genannt und sodann in den Absätzen 2 und 3 restriktiv präzisiert werden. Die Rechtsprechungspraxis tendiert dazu, die Bestimmung so auszulegen, dass es nur selten zum Ausschluss von Richtern kommt. Dies ist nicht allein mit dem Ziel der Vermeidung von Beschlussunfähigkeit zu erklären, sondern auch dadurch, dass sich durch den Ausschluss eines Richters die Mehrheitsverhältnisse verschieben können.

62Nach § 18 Abs. 1 Nr. 1 BVerfGG ist ein Richter ausgeschlossen, wenn er an der Sache in eigener Person beteiligt ist oder aber mit einem Beteiligten durch Heirat, Verwandtschaft oder Schwägerschaft in einer besonders engen Beziehung steht. Zur Bedeutung der ausschlussbegründenden Beteiligung legt § 18 Abs. 2 BVerfGG fest, dass eine Beteiligung nicht schon dann vorliegt, wenn der Richter oder seine Beziehungsperson aufgrund des Familienstandes, des Berufs, der Abstammung, der parteipolitischen Zugehörigkeit oder aus ähnlichen allgemeinen Gesichtspunkten am Ausgang des Verfahrens interessiert ist. Ein weitergehendes Verständnis von Beteiligung wäre gerade beim BVerfG problematisch, weil seine Entscheidungen häufig große Bevölkerungsgruppen betreffen, zu denen die Richter oder ihre Beziehungspersonen in sehr vielen Fällen gehören würden. § 18 Abs. 2 BVerfGG verlangt damit zugleich vom Richter des BVerfG, dass er sich von seinen persönlichen Interessen am Ausgang einer Sache, die sich nur aus einem allgemeinen Gesichtspunkt der angesprochenen Art ergeben, frei macht und seine Neutralität bewahrt.

Beispiel: Bei einer Entscheidung über die Vereinbarkeit einer mietrechtlichen Gesetzesbestimmung mit dem Grundgesetz begründet es keine Beteiligung, wenn die allgemeinen Konsequenzen der zu treffenden Entscheidung einen Richter (oder seine Angehörigen) als Mieter oder als Vermieter berühren.

63Der Ausschluss gemäß § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG setzt voraus, dass der Richter in derselben Sache bereits von Amts oder Berufs wegen tätig gewesen ist. Die Reichweite dieses Ausschlussgrundes ist dadurch begrenzt, dass die frühere Tätigkeit sich auf dieselbe Sache beziehen muss. Damit ist nur eine Tätigkeit in derselben konkreten Rechtsangelegenheit (in streng verfahrensbezogenem Sinne) gemeint, nicht etwa eine frühere Befassung mit demselben Rechtsproblem anlässlich anderer Streitigkeiten oder sonstiger Vorgänge, selbst wenn diese sachlich in engem Zusammenhang |19|mit der Verfassungsbeschwerde stehen (BVerfG [K], NVwZ 2004, 855 [856]).

Hinweis: BVerfGE 133, 163 Rn. 6ff. sieht in der Mitwirkung an der unanfechtbaren Festsetzung einer Missbrauchsgebühr nach § 34 Abs. 2 BVerfGG keine Vorbefassung, wenn der Betroffene dann gegen die Festsetzung offensichtlich unzulässige Klagen vor den Verwaltungsgerichten erhoben hat und gegen die ablehnenden Prozessentscheidungen der Verwaltungsgerichte anschließend Verfassungsbeschwerde erhoben wird.

Zusätzlich stellt § 18 Abs. 3 BVerfGG fest, dass die Mitwirkung im Gesetzgebungsverfahren (Nr. 1) (→ Rn. 65). sowie die Äußerung einer wissenschaftlichen Meinung zu einer für das Verfahren möglicherweise bedeutsamen Rechtsfrage (Nr. 2) nicht als Tätigkeiten im Sinne des § 18 Abs. 1 Nr. 2 BVerfGG gelten.

2. Ablehnung eines Richters

64§ 19 BVerfGG sieht die Möglichkeit vor, dass ein Richter des BVerfG aufgrund einer Entscheidung dieses Gerichts, an der er nicht mitwirkt, von der weiteren Mitwirkung im Verfahren ausgeschlossen wird. Diese Entscheidung des BVerfG kann in zwei Fällen ergehen: Zum einen kann ein Beteiligter den Richter wegen Besorgnis der Befangenheit ablehnen, was nur bis zum Beginn der mündlichen Verhandlung beachtlich ist (§ 19 Abs. 1, Abs. 2 Satz 3 BVerfGG). Zum anderen kann sich ein nicht abgelehnter Richter selbst für befangen erklären (§ 19 Abs. 3 BVerfGG). In beiden Fällen muss der befasste Spruchkörper des BVerfG nicht etwa feststellen, ob der Richter tatsächlich befangen, d.h. nicht zu einer neutralen Entscheidung fähig ist; vielmehr geht es allein darum, ob aus der Sicht eines Beteiligten Anlass besteht, die Befangenheit des Richters zu befürchten.

65In Anwendung des § 19 BVerfGG legt das BVerfG ein enges Verständnis der Besorgnis der Befangenheit zu Grunde; es vermeidet dadurch insbesondere, dass auf dem Umweg über die Befangenheitsrüge die Gründe, die nach § 18 BVerfGG für einen Ausschluss vom Richteramt nicht ausreichen, über § 19 BVerfGG doch noch regelmäßig dasselbe Ergebnis begründen.

Hinweis: BVerfGE 135, 248 Rn. 26ff. hat ausnahmsweise Besorgnis der Befangenheit gegen den Vizepräsidenten Ferdinand Kirchhof angenommen, weil er durch intensive Mitwirkung an früheren Gesetzgebungsverfahren und die Äußerung wissenschaftlicher Auffassungen auch in Parlamentsanhörungen und Gerichtsverfahren über § 18 Abs. 3 BVerfGG hinausgehend „eine Art Urheberschaft“ für das Konzept der angegriffenen Regelung über das Kopftuchverbot für Lehrerinnen erworben hatte.

III. Beteiligte

66Für die Beteiligten eines verfassungsgerichtlichen Verfahrens bestehen einige allgemeine verfahrensrechtliche Vorschriften, die deren Rechte näher ausgestalten. Der Kreis der Beteiligten ist nicht für alle Verfahren einheitlich festgelegt, sondern richtet sich nach den Bestimmungen über die einzelnen Verfahrensarten.

 

67|20|In erster Linie kommen als Beteiligte die natürlichen und juristischen Personen oder sonstigen Rechtsgebilde in Betracht, die durch ihren Rechtsbehelf das Verfahren überhaupt in Gang setzen. Diese werden zumeist als Antragsteller, bei der Verfassungsbeschwerde etwa als Beschwerdeführer bezeichnet. Bei kontradiktorischen Verfahren gehören außerdem die Antragsgegner zu den Beteiligten. Hinzu kommen nach den Vorschriften für die einzelnen Verfahrensarten Verfassungsorgane oder Länder, die dem Verfahren beigetreten sind (vgl. z.B. § 65 Abs. 1 BVerfGG für den Organstreit; § 94 Abs. 5 Satz 1 BVerfGG für die Verfassungsbeschwerde).

68Keine Beteiligten des Verfahrens im technischen Sinne sind sonstige Personen oder Stellen, die sich im Rahmen des Verfahrens äußern, Stellungnahmen abgeben usw., erst recht nicht Zeugen oder Sachverständige (→ Rn. 80). In manchen Fällen werden allerdings bloß Äußerungsberechtigte, die von ihrer Berechtigung Gebrauch machen, im Verfahren in ähnlicher Weise behandelt wie Beteiligte (so z.B. die Verfassungsorgane, die die Gelegenheit zur Stellungnahme nach § 77 BVerfGG in Verfahren der abstrakten Normenkontrolle nutzen).

69Für die Beteiligten eines bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens ist in den allgemeinen Verfahrensvorschriften eine Reihe von Rechten vorgesehen. Zu diesen gehören insbesondere die Befugnis zur Richterablehnung nach § 19 BVerfGG, das Recht der Akteneinsicht (§ 20 BVerfGG), das Recht auf Zustellung von Anträgen und Gelegenheit zur Äußerung (§ 23 Abs. 2 BVerfGG), das Recht auf eine mündliche Verhandlung und die Möglichkeit des Verzichts darauf (§ 25 Abs. 1 BVerfGG), bestimmte Rechte bei der Beweisaufnahme (§ 29 BVerfGG) und das Recht auf die Bekanntgabe aller Entscheidungen nach § 30 Abs. 3 BVerfGG.

70Grundsätzlich besteht für alle Beteiligten die Möglichkeit, sich vor dem BVerfG durch einen Rechtsanwalt oder einen Rechtslehrer an einer staatlichen oder staatlich anerkannten Hochschule insbesondere eines Mitgliedsstaates der Europäischen Union, der die Befähigung zum Richteramt besitzt, vertreten zu lassen. In der mündlichen Verhandlung ist eine solche Vertretung zwingend vorgeschrieben (§ 22 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG).

Hinweis: BVerfGE 134, 239 Rn. 4ff. hat einen nicht als Rechtsanwalt bei einem deutschen Gericht zugelassenen Rechtsassessor als nicht postulationsfähig qualifiziert, zumal auch nach Unionsrecht trotz Zulassung als rumänischer Advocat nach den Gegebenheiten des Einzelfalls keine Gleichstellung mit Rechtsanwälten geboten war.

Abweichend ist für gesetzgebende Körperschaften und ihre Teile die Möglichkeit vorgesehen, sich durch ihre Mitglieder vertreten zu lassen (§ 22 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG). Nach Satz 3 der Bestimmung können sich der Bund, die Länder und ihre Verfassungsorgane außerdem durch Beamte mit näher bestimmten Qualifikationen vertreten lassen.

IV. Einleitung und Fortgang des Verfahrens – Verfahrenshindernisse

71Die Einleitung eines Verfahrens vor dem BVerfG erfolgt nicht von Amts wegen, sondern grundsätzlich nur auf Antrag (Ausnahme: der Sonderfall eines Verfahrens |21|nach § 105 BVerfGG; dazu → Rn. 630 und → Rn. 40, 55). Die näheren Voraussetzungen sind je nach Verfahrensart weitgehend verschieden. Eine einheitliche Regelung findet sich in § 23 Abs. 1 BVerfGG insoweit, als verfahrenseinleitende Anträge schriftlich beim BVerfG einzureichen und zu begründen sind. Auch sind die erforderlichen Beweismittel anzugeben. Durch den Antrag (nicht erst durch dessen Zustellung) wird die Rechtssache anhängig und rechtshängig. Dies hat die Bedeutung, dass sich das BVerfG mit dem Gegenstand des Verfahrens befassen kann, der zugleich durch den Antrag fixiert wird (ferner → Rn. 104, 244f.).

72Über den Fortgang des Verfahrens enthält das BVerfGG nur wenige Bestimmungen. Dazu gehört insbesondere die Zustellung von Anträgen nach § 23 Abs. 2 BVerfGG. Bei vorgreiflicher Bedeutung eines anderen Gerichtsverfahrens kann das BVerfG sein Verfahren bis zu dessen Erledigung aussetzen (§ 33 Abs. 1 BVerfGG); dies ist etwa durch BVerfGE 134, 366 Rn. 104 verbunden mit einer Vorlage des BVerfG zum EuGH geschehen. Grundsätzlich besteht für das BVerfG auch die Möglichkeit, nach seinem Ermessen anhängige Verfahren zu trennen oder zu verbinden, was teilweise zudem ausdrücklich vorgesehen ist (vgl. §§ 66, 69 BVerfGG).

73Nicht ausdrücklich im BVerfGG geregelt ist die Möglichkeit von Verfahrenshindernissen, die die Einstellung eines bundesverfassungsgerichtlichen Verfahrens zur Folge haben. Ein solches Verfahrenshindernis hat das BVerfG zuletzt im NPD-Verbotsverfahren aus dem Jahr 2003 (BVerfGE 107, 339 [360ff.]) angenommen, nachdem die Antragsteller ihre Anträge in großem Umfang auf die Aktivitäten von V-Leuten gestützt hatten, die selbst nach Einleitung des Verfahrens noch in maßgeblichen Funktionen der NPD tätig geblieben waren.

V. Verfahrensgrundsätze

74Für die Verfahren des BVerfG gelten einige allgemeine Grundsätze, die aus anderen Gerichtsbarkeiten bekannt sind, aber mit Rücksicht auf die Besonderheiten der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Teil Modifikationen erfahren.

1. Mündlichkeit und Öffentlichkeit

75Nach § 25 Abs. 1 BVerfGG ergehen Entscheidungen des BVerfG grundsätzlich aufgrund mündlicher Verhandlung. In der Praxis ist dieser Grundsatz der Mündlichkeit indes weitestgehend durchbrochen. Dies beruht zum Teil darauf, dass im BVerfGG anderes bestimmt, also vorgeschrieben oder zugelassen ist, so in § 24 Satz 1 i.V.m. § 25 Abs. 2, § 32 Abs. 2 Satz 1, § 66a, § 82a Abs. 3, § 93d Abs. 1 Satz 1 BVerfGG. Im Übrigen wird in großem Umfang von der Möglichkeit des Verzichts auf die mündliche Verhandlung nach § 25 Abs. 1 BVerfGG, auch im Rahmen des § 94 Abs. 5 Satz 2 BVerfGG, Gebrauch gemacht.

76Die mündliche Verhandlung erfolgt nach § 17 BVerfGG i.V.m. § 169 GVG öffentlich; § 169 Satz 2 GVG erklärt aber Ton- und Fernseh-Rundfunk-Aufnahmen allgemein für unzulässig. Nachdem das BVerfG in seiner Rechtspraxis bereits über |22|das GVG hinausgegangen war, ist 1998 mit § 17a BVerfGG auch eine gesetzliche Grundlage hierfür geschaffen worden. Danach sind Aufnahmen insbesondere bei der öffentlichen Verkündung von Entscheidungen durch das BVerfG zulässig.

2. Verfügungsgrundsatz

77Im Hinblick auf den Verfahrensgegenstand folgt das Verfassungsprozessrecht dem Verfügungsgrundsatz (auch: Dispositionsmaxime). Dies wurde bereits daran deutlich, dass ein Verfahren stets nur auf Antrag eingeleitet wird (→ Rn. 71). Dies entspricht dem überkommenen Rechtsgrundsatz „ne eat iudex ex officio“. Der Antrag hat zudem die Bedeutung, den Verfahrensgegenstand abschließend zu bestimmen und damit den möglichen Entscheidungsumfang des BVerfG entsprechend dem überkommenen Rechtsgrundsatz „ne ultra petita“ zu begrenzen. Das Gesetz kennt allerdings insoweit in einzelnen Verfahrensarten begrenzte Ausnahmen, namentlich in § 67 Satz 3, § 78 Satz 2, § 95 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG (→ Rn. 162, 346, 608).

78Nicht abschließend geklärt ist die Geltung der Dispositionsmaxime im Hinblick auf die Beendigung des Verfahrens. Während es in anderen gerichtlichen Verfahren als Ausdruck der Dispositionsmaxime regelmäßig in der Hand der Antragsteller liegt, durch Rücknahme ihres Antrags das Verfahren zu beenden, hält sich das BVerfG die Möglichkeit offen, im Hinblick auf die berührten öffentlichen Interessen seine Verfahren trotz Rücknahme von Anträgen fortzuführen und mit einer Entscheidung abzuschließen.

Beispiel: Um Rechtsklarheit für die Allgemeinheit zu schaffen, hat BVerfGE 98, 218 (242f.) über die Verfassungsbeschwerde im Hinblick auf die Rechtschreibreform entschieden, obwohl sie – nach Durchführung der mündlichen Verhandlung – zurückgenommen worden war.

3. Untersuchungsgrundsatz

79Im Hinblick auf die Beschaffung der tatsächlichen Entscheidungsgrundlagen ist der Verfassungsprozess vom Untersuchungsgrundsatz (auch: Inquisitionsmaxime) beherrscht, der in § 26 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG seinen Ausdruck gefunden hat. In der Praxis des BVerfG stehen freilich Fragen der Beweisaufnahme eher selten im Mittelpunkt. Dies erklärt sich zum Teil daraus, dass die Problematik vieler Verfahren weitgehend auf reine Verfassungsrechtsfragen konzentriert ist. Namentlich gilt dies für die Verfassungsbeschwerde, bei der nach Feststellung eines relevanten Rechtsanwendungsfehlers die Möglichkeit besteht, die Streitsache an die Gerichte zurückzuverweisen, so dass dort auch unterbliebene Beweiserhebungen stattfinden können. Was die im verfassungsgerichtlichen Verfahren häufig bedeutsame Beurteilung größerer gesellschaftlicher Entwicklungen angeht, kann sich das BVerfG vielfach auf die im Verfahren von den Beteiligten abgegebenen Erklärungen oder sonst eingeholten Stellungnahmen stützen. Gerade in neuerer Zeit hat das Gericht aber auch in derartigen Fällen sogar in der mündlichen Verhandlung ausführlich durch Anhörung von Sachverständigen selbst Beweis erhoben.

|23|Beispiele: Dies war der Fall etwa im Verfahren der abstrakten Normenkontrolle gegen das Altenpflegegesetz, BVerfGE 106, 62 (104), oder auch im Verfahren zum Kopftuch bei Lehrerinnen, BVerfGE 108, 282 (304ff., aber S. 293: sachverständige Auskunftspersonen). Zuletzt hat das BVerfG in demselben Rahmen auf sachkundige Dritte gem. § 27a BVerfGG (auch → Rn. 80), Vertreter von Organisationen (BVerfGE 135, 259 Rn. 84), aber auch Einzelpersonen (BVerfGE 135, 259 Rn. 28: „als sachverständige Auskunftspersonen“) zurückgegriffen.

80Für den Fall einer Beweisaufnahme stehen dem BVerfG nach den §§ 26ff. BVerfGG als Beweismittel sowohl Urkunden als auch Vernehmungen von Zeugen und Sachverständigen zur Verfügung. Über die gesetzlich ausdrücklich genannten Möglichkeiten hinaus kann das BVerfG grundsätzlich auch andere Beweismittel einsetzen, etwa Beweis durch Augenschein erheben oder eine Parteivernehmung durchführen. In § 27a BVerfGG neu eingefügt ist die Möglichkeit, sachkundigen Dritten (zumal einschlägig tätigen Verbänden, vgl. BVerfGE 136, 194 Rn. 78; 137, 108 Rn. 45; auch → Rn. 79) Gelegenheit zur Stellungnahme zu geben. Die Beweisaufnahme findet in der mündlichen Verhandlung oder in gesonderten Beweisterminen statt. Die Beteiligten können der Beweisaufnahme in jedem Falle beiwohnen und dabei Zeugen und Sachverständige befragen, vgl. § 29 BVerfGG. In seiner Beweiswürdigung ist das BVerfG frei, vgl. § 30 Abs. 1 Satz 1 BVerfGG.

81Nicht gesetzlich gelöst ist das Problem der objektiven Beweislast. Diese betrifft die Frage, wie im Falle der objektiven Nichterweislichkeit einer entscheidungserheblichen Tatsache zu entscheiden ist. Insoweit ist es problematisch, allgemeine Beweislastregeln aus anderen Gerichtsbarkeiten zu übernehmen. Dies gilt namentlich im Verhältnis zur Zivilgerichtsbarkeit, deren Normenmaterial ganz anders als das Verfassungsrecht vielfach von vornherein auf Probleme der Nichtfeststellbarkeit von Tatsachen zugeschnitten ist. Im Rahmen von Verfassungsbeschwerdeverfahren spricht einiges für die Anerkennung des Prinzips „in dubio pro libertate“, das dem Grundsatz der größtmöglichen Effektivität der Grundrechtsgeltung entsprechen dürfte. Seine Geltung kann aber keinesfalls als allgemein gesichert angesehen werden.