BÄR: CHIMÄRA

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»Jiminy? Hörst du mich?« Hastig überwand ich die nächste Passage und fand mich eine Etage höher wieder. Der Klangteppich des Gemeuchels erstarb in meinem Rücken. Mein Atem ging schwer. »Jiminy?«

»Bär!« Kristallklar tönte mein Name aus dem Kommunikator. »Bär, was geht da vor? Geht es dir – bist du verletzt?«

»Der Angriff aus dem Tunnel! Sie halten ihn auf. Was oben – bin gleich da.« Mein Dasein wurde auf eine harte Probe gestellt. Meine Muskeln reagierten zunehmend widerwillig gegen die für sie unnatürliche Anstrengung. Es wurde dunkler. Zu Beginn dachte ich, mir würde schwarz vor Augen. Aber es war die Beleuchtung. Die Leuchtstoffröhren waren ausgeschaltet worden, absichtlich, wegen eines technischen Defekts oder aus taktischen Erwägungen. Mir war es einerlei, denn im nächsten Moment schlug etwas im düster rötlichen Notlicht gegen meine Schulter, kein Geschoss, sondern ein Mensch. Eine Faust traf mein Kinn eine Sekunde darauf. Blindlings prasselten meine Hiebe zur Antwort auf den Fremden nieder. Wir umfassten uns, pressten uns gegenseitig die Luft aus den Lungen, nach Art hellenisch-marsianischer Ringer, und wankten geradewegs auf das Bassin zu. Ich kann nicht mehr sagen, woher es plötzlich in unser Sichtfeld gelangte oder wie wir in die Nähe des Reservoirs gekommen waren. Nach Luft zu japsen und zur selben Zeit von der Schwerkraft niedergedrückt zu werden, vertrug sich einfach nicht mit einem ungetrübten Sehvermögen. Ich roch das graugrüne Tuch meines Gegners, nach einem gemeinsamen Taumeln nicht einmal mehr das. Der nächste Schritt brachte uns über den Rand der Zisterne hinaus und hinein ins Wasser. Wir wanden uns auf Leben und Tod, jeder versuchte den anderen in den Griff zu bekommen. Mir gelang es, den Gegner an den Schultern herabzudrücken. Ich war in meinem Element. Wasser ist nur vage vergleichbar mit dem Vakuum des Alls. Es gibt Widerstände. Dennoch bewegte ich mich leichter, teils vom Druck befreit. Der Mann wollte nicht aufgeben. Es gelang ihm, sich an meine Beine zu klammern, eine Klinge reflektierte Licht. Ich gab seine Schultern frei, tastete nach seinem Hals, bekam Kettenglieder zwischen die Finger. Sie riss nicht, so sehr er auch zerrte, um sich zu befreien, also drehte ich an ihr, schraubte sie enger und enger um den Hals des Feindes. Niemals war der Mann ein Schwimmer, der Kerl war ein Wüstennomade. Er hatte keine Ahnung von Atemtechniken, keine Ahnung, wie sich Kleidung mit Wasser vollsog und tonnenschwer an einem hing. Ihm wurde der Sauerstoff knapp. Bläschen sausten an mir vorüber in die Höhe, blubberten aus seinem erschreckend weit aufgerissenen Rachen, der nach Luft schnappte und Wasser in die Lungen soff.

Wir haben diesen Spruch auf dem Mars. Wenn dich ein Gepardenraptor ins Wasser verfolgt, halt dich an ihm fest, tauch unter und das einzige, was du tun musst, ist länger die Luft anzuhalten als er. Wahrscheinlich hat jede Kultur eine ähnliche Weisheit mit einem räuberischen Fleischfresser.

So wartete ich eine kleine Weile und sah ihn neugierig an. Jeder reagierte anders auf Auswegslosigkeit. Die Augen meines Gegners quollen hervor, die Zunge zappelte. Seine Kräfte erlahmten, die Griffe an meiner Schulter, meinem Arm lösten sich. Sobald ich sicher war, dass ich nicht mehr mit einer Gegenwehr rechnen musste, packte ich ihn am Stoff um seinen Nacken und gemeinsam brachen wir durch die Wasseroberfläche.

Von den Gitterrosten rings um das Reseroir hatte man das Schattenspiel unseres Zweikampfes beobachtet. Ohne dass jemand auf den Gedanken verfallen wäre, mir zu helfen. Nun, ich war ein Fremder, ein geduldeter zwar, aber ein Fremder. Warum für so jemanden sein Leben riskieren? Letztendlich half man uns beiden aus dem Wasser. Mir mit ausgestreckten Händen und einem aufmunterndem Grinsen im weiß verschmierten Gesicht, ihm, indem man ihn aus dem Bassin riss, ungeachtet dessen, wo sein Kopf und seine Extremitäten überall anschlugen.

Wasser perlte mir aus den Ohren. Meine patschnasse Stachelfrisur hing mir strähnig über die restliche Glatze.

»Drietsackjesich«, raunte jemand in meiner Nähe und trat dem bewusstlosen Nomadenanführer in die Seite. Keine Ahnung, was er gesagt hatte, aber irgendwie konnte ich es mir denken.

Ein anderer aus der Kolonne 50 zog dem Gefangenen die Kette über den Kopf, bedachte das Medaillon daran mit einem prüfenden Blick und warf es mir zu. »Vüürdämüssjöh!«

Ich nickte dankend. Eine Trophäe, kreisrund, ungepflegt, golden unter einer Schmutzschicht. Im Zentrum eingraviert ein Kreuz, darüber, nachträglich eingekratzt eine mir unbekannte Sternenkonstellation. Darunter, am Rand, eingelassen, drei lilafarbene Schmucksteinchen. Ich steckte das Medaillon ein. »Jiminy? Jiminy, hörst du mich.« Meine Stimme krächzte, noch belegt vom Wasser und einem klebrigen Sekret in Nase und Hals, eindeutig mit Blut vermischt, wie der metallische Geschmack im Mund verriet.

»Bär? Du lebst!« Elektronischer Jubel. »Bär? Ich nehme doch an, du wirst diesem Ort jetzt den Rücken kehren und an Bord der SCHILDKRÖTE III zurückkommen?«

Ich sah mich um. »Da spricht wohl nichts gegen. Gebadet habe ich ausgiebig. Sportlich betätigt genauso. Ich sollte einen Gang in die Gravitationskammer ausfallen lassen können.«

»Versuchst du witzig zu sein, Bär? Denn es ist nicht witzig.«

»Jiminy, keine Vorwürfe, ja?« Ich seufzte. »Stehe jetzt auf und bin auf dem Weg.«

8: ABREISE

»Dünger.«

Meine fragende Kopfneigung stand universell für Unverständnis in unserem Sonnensystem und wurde wortlos verstanden, so dass Babbellies ihre Aussage wiederholte.

»Dünger.«

Die Steigerung meines Nichtverstehens durch ein sachtes Kopfschütteln rang ihr eine traurige Miene ab. Über meine, ihrer Meinung nach, Dummheit? Ich zwang mich zur Zurückhaltung.

»Dünger«, sagte sie. »Das ist sein Schicksal. Wir können es uns nicht erlauben, jegliches Quäntchen Rohstoffe zu verschwenden. Der Wüstensand ist unfruchtbar und toxisch. Nach seiner Hinrichtung wird der Skorpion zu Dünger für Nährlösungen verarbeitet, die wir in unseren hydroponischen Gärten einsetzen.«

»Skorpion, wie? Er nennt sich – nannte sich – der Skorpion?«

»Ja.« Die Frau lächelte mich an. Ich kam nicht umhin bei ihrem Anblick an einen Clown zu denken. Unsere Pierrots auf dem Mars verwendeten den gleichen Trick zur Verfremdung, wenn die Festumzüge unserer Befreiungstage stattfanden. Es machte sie alterslos. »Der Bär schlägt den Skorpion«, führte Babbellies aus. »Ein gutes Bild. Wir werden es bewahren.«

Ich überlegte. Ich taugte nicht als Wandikone. Das Schicksal des Skorpions war nicht der wahre Grund für meinen letzten Besuch in der Kolonne 50. Einer der Wachleute hatte mir ein Gerücht zugetragen. »Das Mädchen. Liv, so heißt sie. Die auf der Flucht war. Die ich in der Wüste gerettet habe. Ich habe gehört, sie hat mit den Nomaden zusammengearbeitet?«

Babbellies' Gesichtsausdruck geriet undeutbar für mich. Ihre Schminke begann einzutrocknen. Ein Stirnrunzeln zersplitterte die Maskerade in unschöne Risse. Ein Schmunzeln verwandelte sich in Charons Fratze, des Fährmanns, der die Verstorbenen ins Totenreich brachte. Nicht, dass ich daran glaubte, wie überhaupt an keinen Gott oder Dämon oder einen ihrer Helfershelfer. Auf der Schiffshülle der SCHILDKRÖTE III stehend, hatte ich zu allen Seiten ein Meer von Sternen tanzen sehen. Keine Götter. Wir feierten sie bloß, damit es etwas zum Feiern gab. »Liv hat uns verraten«, sagte Babbellies und unterbrach meine abschweifenden Gedanken.

Wir schlenderten die umlaufende Anlage des Reservois entlang. Die Vorsteherin erzählte mir von dem kleinen Trick, den die Nomadenbande vor den Beobachtungsposten abgezogen hatten, so dass jedermann annehmen musste, Liv sei vor diesen Leuten auf der Flucht. Das sollte Vertrauen schaffen und Liv frühzeitige Bewegungsfreiheit innerhalb der Drachenzähne geben. Ich quittierte diese Information mit einem beschämten Zähneknirschen. Tröstend war einzig, dass die Bewohner der Kolonne 50 der gleichen Täuschung erlegen waren. Die Wüstenbewohner hatten nicht gewusst, von wo man ihnen nachspionierte. Das umfangreiche Wissen der Kommune dessen, was im Umfeld der Zisterne alles geschah, ließ die Nomaden einen oder mehrere Beobachtungsposten erahnen. Eine heimliche Suche über Monate hinweg war ergebnislos geblieben. Daher der Plan, eine traditionelle Übereinkunft zu riskieren, für den einen Überfall, der sie in den Besitz der Zisterne bringen sollte.

»Sie haben unsere Erinnerungswand gesehen. Wir werden der Chronik unserer Kämpfe einen weiteren Sieg hinzufügen.«

»Und Liv? Was geschieht mit ihr?«, wollte ich wissen.

»Sie ist ein Kind«, antwortete Babbellies.

»Ja«, entgegnete ich zögerlich.

»Wir können kein Kind hinrichten«, stellte die Vorsteherin fest und bemerkte mein befreites Aufatmen, nur um meine Erleichterung mit dem nächsten Atemzug zunichte zu machen. »Wir setzen sie aus. Ein Akt der Milde.«

Babbellies verstand ihre Aussage als echte Begründung, keinesfalls meinte sie es spöttisch. Es widersprach einem ungeschriebenen Kodex der Gemeinschaft, ein Kind einer Erwachsenenstrafe zu unterziehen. Selten nur wurden solche drakonischen Strafen überhaupt in Erwägung gezogen. Ein Kind beging keine Morde. Falls es doch einmal einen Zusammenhang mit einem Jugendlichen gab, waren stets Unfälle die Ursache von Toten, und niemals steckte Absicht dahinter. Innerhalb der Kolonne 50 war die atmende, intelligente und gesunde Existenz ein nahezu heiliges Gut. Wahrscheinlich, weil so wenig davon zu ihrer Kommune gehörten. Aber jedem Verantwortlichen war bewusst, dass dem Mädchen Liv nie mehr vertraut werden konnte. Ihr Mitwirken an dem Angriff, der elf Erwachsenen und zwei Kindern der Gemeinschaft das Leben gekostet hatte, war allgemein bekannt. Dergleichen würde ihr niemand verzeihen.

 

»Sie ist ein Kind.« Ein Fakt, wie ein Vorwurf in Babbellies' weiße Fratze geschleudert. Atemlos gezischt, denn ich hätte lieber vor Wut gebrüllt. Jiminys Unterricht in Diplomatie behielt die Oberhand. Noch. Immerhin übertrug der Translator meinen Einwurf mit der gleichen absoluten Emotionslosigkeit, die mir von der Vorsteherin entgegenschlug.

»Ja«, erwiderte sie ungerührt.

»Ich kann sie stattdessen mit an Bord nehmen und weit, weit fortbringen.« Kaum war der Vorschlag ausgesprochen, wusste ich, was sich daraus ergeben würde. Ärger. Seitens Jiminy. Eine Tirade aus Einwänden würde auf mich niederprasseln wie ein Eisregen auf dem Jupitermond Europa. Seitens Liv. Ich konnte ihre Zornes- und Verzweiflungsschreie schon jetzt auf dem ganzen Schiff hören. Und wenn sie den Umgang mit dem Übersetzungsgerät vernünftig lernte oder sofort unsere Sprache, sogar verstehen.

»Weit? Wie weit?«, fragte Babbelies.

»Weg von der Erde«, lautete meine Erwiderung. Ich wusste nicht, wieso ich so geantwortet hatte. War es, weil mich das widerspenstige Ding an mich erinnerte? An den jungen Kootenai Brown, Anführer einer Jugendbande. Dem man eine zweite Chance gegeben hatte. Eine Ausbildung. Ein Ziel. Im Geiste vernahm ich Jiminys Begründung. Weil die Familie der Browns angesehen auf dem Mars war. Keine dahergelaufenen Verbrecher. Vor allem keine Mörder.

Babbellies starrte mich lange aus wässrig umwölkten Augen an. Zweifel, Interesse, Trauer waren darin zu lesen. »Wenn sie es selber möchte. Wenn sie mit zu den Sternen reisen möchte und nie zurückkehrt. Dann sollen Sie, Bär, Ihren Willen haben.«

Das Gefängnis der Drachenzähne war ein wenig genutzter Ort. Ein vergorenes Gebräu aus Algen und kostbarem Holz verschaffte der Einrichtung manchmal Insassen zur Ausnüchterung. Ansonsten standen die Handvoll Zellen leer. An diesem Tag hielt sich nur Liv hinter einem der Gitter auf.

Die Vorsteherin wies wortlos zu der Gefangenen. Babbellies machte bereits Anstalten, den Vorraum zu den Zellen zu verlassen, da berührte sie mich schmetterlingsgleich am Arm und sagte: »Seien Sie vorsichtig.« Anschließend händigte sie mir den Translator sowie den Zellenschlüssel aus und verschwand über eine Treppe nach oben.

In meinem Hirn war ein Wortschwall geboren worden und gestorben, ehe ich diese Abteilung betreten hatte. Worte des Trostes, Erheiterung, Motivation. Warum ich das tat. Welches Leben sie erwartete. Wie das Leben über den Wolken war. Sein konnte. All das war am Ende Unsinn. Es lief auf viel weniger hinaus. Ich reichte Liv das Übersetzungsgerät. »Du weißt, dass deine Leute tot sind? Alle? Du weißt, was die Kolonne 50 mit dir vorhat? Welches Urteil die Gemeinschaft über dich gefällt hat?«

Sie nickte. Die puppenhaft weiße Maskerade blieb unbewegt.

»Wir, Jiminy und ich – du hast Jiminy kennengelernt – wir können dich von hier fortbringen. Weg von der Erde. Da oben hin. Zum Mond, zu den Sternen. Oder – wir finden anderswo ein Zuhause für dich. Auf der Erde. Wenn du willst. Die Erde ist groß. Am Ende steht auf jeden Fall, dass du überlebst.«

Neuerliches Nicken, ein Schimmer von Hoffnung in den Augen.

»Es ist einfach. Du bleibst, du stirbst. Du kommst mit, du lebst«, fasste ich zusammen. »Wie entscheidest du dich?« Das waren die Worte meines Vaters gewesen. Vor langer Zeit.

Bevor Liv antwortete, wischte sie an der weißen Schminke auf ihrem Gesicht herum. Graue Striemen durchzogen die cremeartige Substanz, machten sie häßlich, monströs, bedrohlich. Wie sie auf ihrer Pritsche saß, die Knie bis zu den Schultern hochgezogen, ähnelte sie den Schattenwichten des Mars oder den Strahlungsversehrten in den Umlaufstationen von Ganymed. Jiminy hätte dieser Anblick zu einer heftigen Argumenation veranlasst, warum es besser wäre, Liv nicht mitzunehmen. Das Mädchen säuberte ihre Hände an ihrer Kleidung. Ein paar helle Flecken, auf Nase, Stirn und Kinn waren übriggeblieben. Sie zupfte den Translator aus einer Stofffalte an ihrer Halsbeuge. Kurz betrachtete sie das Gerät. »Ja«, sagte sie daraufhin, ohne die Übersetzungsmatrix in Anspruch zu nehmen.

»Gut«, entgegnete ich.

Wahrscheinlich hatte Jiminy an Bord begonnen, den Lehrmeister zu spielen. Ja. Nein. Da. Hier. Oben. Unten. Zuversicht erfüllte mich. Ein starkes Gefühl. Ein gutes Gefühl. Aus dem heraus ich Jiminy überzeugen wollte. Flugs war Liv mit einer Schlüsseldrehung aus ihrer Zelle befreit. Ich drehte ihr den Rücken zu. Vertrauen gegen Vertrauen. Die labyrinthartige Anlage war in manchen Bereichen, solchen, die der öffentlichen Sicherheit dienten, mit Wegweisern versehen. Deshalb stieg ich mit sicheren Schritten und frohen Mutes voran. Das Konzept von Loyalität gehörte zu den Dingen, die mich in der Vergangenheit in Schwierigkeiten gebracht hatten. Familiäre Bande, getragen vom selben Konzept, waren es gewesen, die mich von zerstörerischen Pfaden erretteten. Ich verstand, was Liv bewogen hatte, für ihre Leute einzutreten. Sie kannte nichts anderes in ihrem Leben. Dachte ich gerade – als sich, vor einem Torbogen stehend und das von den Wänden funkelnde Wasser der Zisterne vor Augen, mir die Nackenhaare aufstellten und ich den Geruch des Kodiakbären um mich herum wahrnahm. Mein Totem – es warnte mich! Nicht in letzter Sekunde. Nein, sanft, voller Enttäuschung. Soldatisch, auf dem Absatz schwang ich zu Liv herum, erwartete sie mit einem Schlagwerkzeug vor mir verharren zu sehen, noch in der Bewegung gefangen, aufgehalten von der Überraschung, ganz sicher nicht von einem schlechten Gewissen. Liv hingegen war zu einer ängstlichen, waffenlosen Statue eingefroren. Angriffslustig, von Urinstinkten befeuert, war ich es, der violette Klotz, der sie zum Fürchten brachte. Und ich verstand nicht wieso. Plötzlich sprangen sie aus ihren Verstecken hervor, uninteressiert an dem Marsianer, nur auf Liv fixiert. Drei Kinder, so groß wie das Mädchen, einheitlich gekleidet wie alle hier, Knüppel aus Werkzeugabfall in den Händen, von schaurig entschlossener Stille umgeben. Ich war zu perplex, um sogleich zu reagieren. Die Hiebe schwangen unkordiniert auf Liv zu. Zwei der Kinder behinderten sich gegenseitig, trafen einander an den Unterarmen. Eines jaulte vor Schmerz auf. Seine improvisierte Waffe polterte zu Boden. Ein kaputter Lötkolben krachte dem Mädchen vor den Oberkörper. Liv purzelte rückwärts vom Treppenabsatz. Ihr Hinterkopf knallte auf die Kante einer Stufe. Gegen Kinder zu kämpfen, widerstrebte mir. Ich war kräftig und schnell genug, diese Möchtegernattacken auf andere Weise zu unterbinden. Ich packte eines am Nacken, warf es mir über die Schulter, ignorierte das Fäustegetrommel auf meinem Rücken, schnappte mir das zweite, das gegen das dritte Kind, zufällig und in irrer Panik, austrat und ein Schienbein erwischte. Den zweiten Tölpel klemmte ich unter dem Arm ein. Den dritten, noch auf einem Bein tanzenden Hilfskrieger hielt ich am Genick in einer säuerlich blau verfärbten Pranke, marschierte stracks die letzten Meter zum Bassin und schleuderte sie überhaupt nicht freundlich hinein.

»Kann mal jemand die Bande rausfischen?«, schrie ich wütend quer durch die Halle, ohne Benutzung des Translators.

Aus dem Augenwinkel sah ich jenseits des Beckens einen Mann, der sich mit meiner Tauchermaske vertraut zu machen schien. Aufgeschreckt vom Platschen der Kinder glitt er ohne Ausrüstung ins Wasser und paddelte ungelenk zu den unglücklichen Rabauken hinüber. Sie würden alle absaufen, war mein erster Gedanke. Die ungewöhnlichen Geräusche lockten weitere Mitglieder der Kolonne 50 an. Nach und nach versuchten mehrere Erwachsene die drei Kinder aus dem Reservoir zu bergen. Quälend langsam gelang die Rettungsaktion. Inzwischen war ich um das Wohlergehen von Liv besorgt, die, eine Blutung am Hinterkopf, bewusstlos auf der Treppe lag. Immerhin bot sie mir auf die Art einen Vorwand, sie an Bord der SCHILDKRÖTE III zu tragen, in die Krankenstation, und Jiminy aufzufordern, er möge seine ärztlichen Fähigkeiten spielen lassen. Weil man sie in der Kommune nicht auf eine Gehirnerschütterung untersuchen könne. Eine Notlüge von mir. Natürlich. Die er bemerkte, kaum dass sie mir über die Lippen gekommen war, und er sich davon überzeugt hatte, dass faktisch wirklich eine Gehirnerschütterung vorlag.

Es ist nicht einfach, jemanden hereinzulegen, der den Puls eines Marsianers hören, seine Atemfrequenz zählen, Schweißausdünstungen, Körpertemperatur und Hautverfärbungen aus der Entfernung messen kann.

»Du willst sie mitnehmen? Wie es dir gleich zu Anfang in den Sinn kam, Mr. Brown, gib es nur zu.« Der Roboter gab sich jovial, und das beunruhigte mich sehr.

Liv lag auf der einzigen Bettstatt unserer Krankenstation, den Kopf auf die rechte Wange gedreht. Eine Platzwunde klaffte, Blut floss keines mehr.

Jiminy säuberte die Verletzungsstelle chirurgisch präzise und sorgfältig. Die Roboter-KI ahnte nicht, wie sehr sie sich durch ihr Verhalten verriet. Jiminy hatte bereits ein neues Besatzungsmitglied vor sich. Eigentlich war jede weitere Argumentation überflüssig. Ein medizinisches Vielzweckgerät, von Jiminy in Zeitlupe geführt, verschloss das Gewebe mit einer glänzenden Naht. Danach verabreichte er Liv ein Schmerzmittel. »Sie wird eine ganze Weile ruhen. Die Aufregung, Schock, Schmerz. Das braucht Zeit. Sie wird das verkraften.«

»Den Verlust?«, fragte ich leise.

»Sie wird es lernen«, konstatierte der Roboter. Behände fixierte er Liv mit einem Brustgurt auf der Liege, damit sie nicht herunterfiel, sobald sie sich rührte. Würde sie wach werden, war es ein Leichtes für sie, die Schlaufen selber zu lösen.

»Was willst du?«, lautete meine logisch abgeleitete Frage.

»Was ich will?« Es stand einer Roboter-KI niemals gut zu Gesicht, sich dumm zu stellen.

Daraus konnte eine unnötige Reparatur resultieren. Eine grimmige Eingebung. Ich behielt die blödsinnige Drohgebärde für mich. Was würde ich denn ohne Jiminy machen? »Wenn Liv an Bord bleibt. Du hättest schon protestiert! Aber du willst etwas im Ausgleich? Was ist das?«

Geheimnisvoll legte Jiminy eine Fingerimitation auf einen nichtexistenten Mund und forderte mich auf, ihn in der Pilotenkanzel zu treffen. Später – es vergingen unglaubliche zehn Minuten – brachte er zwei kleine, bronzefarbene Metallzylinder mit ins Cockpit und stellte sie nebeneinander auf die vordere Konsole. »Für unseren Kunden. Eines davon. Eine holografische Darstellung des RIKTER-CODES, absolut farbgetreu. Dieses hier.« Er rückte den linken Zylinder ein Stück von dem rechten ab. »Der andere Datenspeicher ist zusätzlich mit Lösungsansätzen und ersten Ergebnissen versehen.« Jiminy blickte mich mit seinen acht optischen Einheiten an. »Ich habe Kopien. In meinen Speichern und in der SCHILDKRÖTE III. Aber ich kann mir den Verlust dieser Daten nicht erlauben. Ich möchte dir den Chip in diesem Zylinder subkutan injizieren. Wir werden alles auf diesen Speichern zusammentragen, das mir hilft, meine fehlenden Erinnerungen wiederzufinden.«

»Ich verfüge bereits über ein paar Speicher in meinem Körper«, hielt ich dem Vorhaben entgegen.

»Diese Daten, Bär, sollen von den anderen getrennt sein. Das ist der Sinn und Zweck der Aktion. Es ist zu wichtig für mich.« Jiminy faltete vier Gliedmaßen in einer unterwürfigen Geste. Sehr marsianisch geriet die innere Haltung, wie wir es nannten, die Einkehr vor Augenzeugen, die verdeutlichen sollte, wie intensiv sich jemand mit einer bedeutsamen Frage auseinandergesetzt hatte und nun den wichtigen Schritt in die Öffentlichkeit wagte. Das nötigte allgemein Respekt ab und verriet mir, dass der Roboter mit sich gerungen hatte. Sonst nannte er dergleichen Theatralik im marsianischen Miteinander einen symbolleeren Eiertanz. An fünf Fingern abzählbar waren die Gelegenheiten, bei denen ich die innere Haltung verwendet hatte, umso schwerer wog es für mich, sie bei meinem langjährigen Freund zu sehen, der sich meist gegen gesellschaftlich aufgepflanzte Riten sperrte.

»Ja, ist ja gut«, wiegelte ich ab. Seine Demut machte mich verlegen. »Was macht dich so sicher, dass du auf der richtigen Spur bist?«

Hingestellt auf zwei seiner Extremitäten breitete Jiminy die restlichen acht wichtigtuerisch aus.

Das war der Jiminy, den ich kannte. Und liebte wie einen Bruder. Ich grinste ihn breit an. »Also, was jetzt?«

»Der RIKTER-CODE wurde nicht entworfen, Mr. Brown, er wurde benutzt. In früheren Zeiten, noch bevor man mich erschuf, nahm man Buchtexte zur Hand, zur Verschlüsselung einer Botschaft. Absender und Empfänger verfügten über die gleiche Ausgabe. Anstelle der Botschaft wurden Seitenzahlen, Zeilenzahlen und die jeweilige Stelle eines Buchstabens übermittelt. Wer es gemäß des Buches wieder zusammenfügte, konnte den Klartext lesen.«

 

»Buchtexte?«, fragte ich.

»Geschichten. Lehrmittel und Unterhaltung.« Ein elektronisches Seufzen. »Mr. Brown, es ist mir ernst.«

»Verzeihung, ich wollte nicht – mach weiter.«, nuschelte ich. »Der RIKTER-CODE ist also ein – Buch?«

Jiminy widersprach mir selbstredend. Der RIKTER-CODE sei ein zufällig entstandenes Bild. Jemand habe die Lage, die Tonnuancen der 72 unterschiedlichen Farbquadrate, ihre vielfältige Wiederkehr, ihre relativen Abstände zueinander, die Häufigkeit ihres Auftretens zeilenweise und spaltenweise und einige Faktoren mehr dazu verwendet, einen umfangreichen Codeschlüssel zu entwerfen. Meine Abwesenheit in den Drachenzähnen war für ihn ein günstiger Zeitpunkt gewesen, in der ruhigen Abgeschiedenheit ohne Ablenkung seiner Rechenleistung – wenn der Angriff der Nomaden großzügig übersehen wurde – tausende von Möglichkeiten zu prüfen. So lange, bis ein Ergebnis Sinn ergab. »Ich habe einen Schlüssel«, sagte Jiminy durchaus stolz.

»Wofür? Wofür all der Aufwand?« Gespannt klopfte ich einen brutalen Takt auf die Armlehnen.

»Das weiß ich nicht.« Er sackte auf alle zehn Gliedmaßen herab. Ein unzufriedenes Brummen knirschte aus unentschlossen gesteuerten Servos. »Ich weiß nicht, welche Information durch den Schlüssel umgewandelt werden kann.«

Ehrlich enttäuscht sank ich zurück. »Dann war alle Mühe umsonst?«

»Nicht ganz. Eine Information ist aus dem RIKTER-CODE übersetzbar. Koordinaten. Es ist keine zufällige Übereinstimmung. Ich spekuliere: Dort wird der Schlüssel anwendbar sein.« Jiminy nahm meinen Takt auf und tippte forsch gegen die Eingabetasten unter dem Bildschirm der Navigationskonsole. Ein Zielpunkt erstrahlte auf der globalen Übersichtskarte der Erde. »Das ist der Kontinent, der früher Nordamerika genannt wurde. Der kümmerliche Rest davon.« Ein rascher Fingerzeig Jiminys vergrößerte die Markierung. »Sehr zentral gelegen. Leicht zu finden.«

»Hm«, machte ich, »da wurdest du gebaut.«

»Nicht da genau. Diese Landmarke ist für jemand anderen weitaus wichtiger.« Hörte ich etwa ein Lächeln in Jiminys Artikulierung? »Für dich.«

Aus seinen existierenden Datenbanken zauberte der Roboter drei Bilder hervor. Das erste offensichtlich eine Nahaufnahme. Das zweite eine Totale. Das dritte Einstellung, eine jämmerliche Frühholografie, zeigte ein Panorama. Ich verschluckte meinen Atem, als mir die Proportionen bewusst wurden. »Darauf weisen die Koordinaten hin? Wirklich?«

»Exakt«, bestätigte der Roboter.

Sprachlos tastete ich mit den Augen das unvergleichliche Motiv ab. Wäre mir jemals eine Erzählung über ein solches Objekt unterbreitet worden, ich hätte sie als die üblichen Spinnereien unter Weltraumfahrern abgetan. Auf dem Mars besaßen wir nichts derartiges. »Fliegen wir hin?« Die Frage war überflüssig, aber der Theatralik wegen stellte ich sie.

Jiminy krabbelte auf den Copilotenplatz und richtete sich in seiner Sitzschale ein. »Bereit«, sagte er.

»Ich brauche was auf die Ohren«, bat ich den Roboter. »Vandalenkrawall.«

»Liv könnte davon geweckt werden«, gab Jiminy zu bedenken.

»Übertragung nur im Cockpit. Vorschläge?« Ich leitete den Startvorgang ein. Die SCHILDKRÖTE III sandte mir über das Triebwerk ihr zischendes Einverständnis.

»Frühes 21. Jahrhundert. Gruppe: Suicide Silence. Song: You only live once.«

»Dann lass es krachen!«, rief ich und wir hoben ab.

ENDE DIESES EINTRAGS

Fortsetzung der Serie in

BORDTAGEBUCH 2: CRAZY HORSE

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