BÄR: CHIMÄRA

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4: RIKTER-CODE

Den Rest des hellen Tages verbrachte ich in den Drachenzähnen, weitestgehend allein, nur von einem Mann bewacht, der mir ziemlich dezent hinterherging. Ich sah mich im Reservoir um und erklärte es als Vorbereitungen auf den Tauchgang am kommenden Tag. Ein tragbarer Scanner lieferte erste brauchbare Ergebnisse über den Zustand und die Tiefe der Zisterne. Einhundertfünfzehn Meter und mehr weitete sich das Bassin nach unten aus. Einige Stellen reichten weiter runter als andere. In den unheimlichen Seiten, neben säulenähnlich aufgebauten Wänden, waren große Glaspartien eingefasst. An die musste ich heran. Außerhalb waren sie abgeschirmt von einer Zementmasse. Einige dieser Schutzwände waren brüchig und nicht sehr dick. Dahinter drückte der allgegenwärtige Sand gegen das Gemäuer.

Abends, zurück auf der SCHILDKRÖTE III, überflog ich die gesammelten Daten im Cockpit und wurde durch die geöffneten Sichtluken Zeuge eines Disputs zwischen Babbellies und dem Anführer der Karawane. Lautstark, einer brüllte den anderen an, seltsamerweise setzte sich die Frau durch, wortgewandt. Bis der Mann einen Säbel zog, geschickt in der Luft herumwirbelte und damit ihr Gefolge auf Abstand hielt. Dann geschah irgendeine Art der Einigung. Abschließend kreuzten sie ihre Unterarme und verbeugten sich.

»Man kennt sich«, kommentierte Jiminy.

»Ja, komisch«, meinte ich nachdenklich. »Sie schien mir nicht so angetan von diesem Nomadenstamm.« Nach einem Schulterzucken: »Na, sie kommen nicht auf den Gedanken, das Kind an sie zurückzugeben.«

Die Karawanenleute luden frisch gefüllte Wasserbehälter auf, brachen vor einem brennenden Sonnenuntergang ihr Lager ab und stapften, geschaukelt vom seemännischen Schwanken ihrer Kamelartigen, davon.

»Du hast den RIKTER-CODE lokalisiert?«, fragte mich der Roboter.

»Er ist hier«, antwortete ich und deutete auf einen Punkt in der holografischen Nachbildung der Zisterne. »Das Glas zu entfernen, wird mir nicht möglich sein. Nicht unter Wasser. Scannen, so genau es geht, mehr ist nicht drin. Zeile für Zeile.«

»Die Farben sollen genau erfasst werden«, betonte Jiminy. »Und selbst dann – der Code wurde nie geknackt.«

»Unser Auftraggeber bekommt, wofür er bezahlt, den Code, nicht das Fenster«, erwiderte ich. Der Anblick, allein in der miniaturisierten und nur angedeuteten Darstellung der elftausendzweihundertunddreiundsechzig Farbquadrate, verwirrte mich. Sie sollten sich aus zweiundsiebzig Farben zusammensetzen. Jemand auf Luna glaubte, ein für die Marsianer lebenswichtiger Code verstecke sich dahinter. Das behauptete eine zweifelhafte Überlieferung. Genaue Bilddaten des Codes waren über die Jahrhunderte verloren gegangen. »Das war ein – ein was war das?«, wollte ich von Jiminy wissen.

»Ein Kirchenfenster.«

Eine nüchterne Feststellung der Roboter-KI, die mir nicht weiterhalf. »Kirche?«

»Ich habe alte Verkehrswege eruiert. In deren Zentrum stand ein Dom, eine sehr große Kirche. Ein Tempel für eine einzige Gottheit.« Eine diagnostisch vorgetragene Erklärung angesichts des heiklen Wesens dieses Bauwerks.

»Ein Tempel für eine einzige Gottheit«, wiederholte ich. »Wie barbarisch.« Unter Jiminys gestrengem Blick wanderten meine Schuhsohlen auf das Kontrollpult. Lang ausgestreckt betrachtete ich die hereinbrechende Nacht. Einen ähnlichen Lichtwechsel hatten wir seit Wochen nicht mehr gesehen. »Ich sollte schlafen«, sagte ich, obwohl ich mich an diesem einfachen Naturereignis kaum sattsehen konnte.

»Geh schlafen«, empfahl der Roboter, zwei optische Einheiten über kreuz gelegt, »ich poliere inzwischen die Kommandotafel wieder auf Hochglanz.«

Aus dem Maschinendeck stieg nur ein vages Summen empor. Die Energieversorgung des Schiffes war bis auf das benötigte Minimum für die Standardverbraucher heruntergefahren worden. Halb schlafwandelnd wankte ich zu meiner Kajüte und fiel in meine ungemachte Koje. Jiminy hielt sich, ungern, wie er stets betonte, von ihr fern, weil Unordnung den Drang in ihm weckte, diese zu beseitigen. Aber mein Verbot, mein persönliches Chaos unangetastet zu lassen, wurde von ihm respektiert.

Am nächsten Morgen plagte mich die Schwerkraft. Auf dem Mars ist sie um gut zwei Drittel geringer als auf der Erde.

Wir Marsianer trainieren von Kindesbeinen an, um mit den Erfordernissen unseres langen Lebens umgehen zu können, in Gravitationskammern. Anders wären unsere Minenzentren auf Uranus, Neptun und Venus nicht denkbar. Während des Flugs verabreiche ich mir auch mal eine Portion dreifache marsianische Schwerkraft. Die Umstellung ist schleichend, kräftezehrend. Eine Eingewöhnung benötigt mehrere Tage.

Ich wusste jetzt schon, dass ich es genießen würde, eine Zeitlang unter Wasser meiner Arbeit nachzugehen.

Es wird der Tag kommen, an dem ich mich nicht mehr ohne Exoskelett bewegen kann, weil die Knochennekrose unaufhaltbar geworden ist. Das ist die Rechnung, die von vielen Marsianern im letzten Viertel ihres Lebens bezahlt wird, wenn die bei der Geburt eingeschossenen Nanobots in unserem Blut solche Schäden nicht mehr richten können.

Ich hatte es mit einem Dauerlauf zum Reservoir versucht. Es war mühselig gewesen und tötete jeglichen Enthusiasmus ab. Ein paar Kinder sowie der obligatorische Wächter liefen mir, dem schwerfälligen Marsianer, zur Zisterne hinterher. Die Kleinen tuschelten und wurden vom Wachmann zurechtgewiesen und fortgescheucht. Eines der Kinder war das Mädchen. Sie verständigte sich mit den anderen, lachte, rannte mit ihnen davon. Jiminy, dachte ich, hatte die falschen Sprachansätze im Translator benutzt. Wenn die Karawane öfters bei den Drachenzähnen Halt machte, hatten die Nomaden genug von der örtlichen Sprache zur Verständigung gelernt. Wie es zwangsläufig jeder Händler irgendwann unternimmt. – Ich war ein wenig verwundert über Jiminys mangelnde Experimentierfreude. Dass er die Sprache der Kolonne 50 nicht ausprobiert hatte. - Das hätte diesem Hüter der Variablen eigentlich einfallen sollen ...

5: LIV

Meine Atemmaske war um drei Bauteile erweitert worden. So ausgerüstet filterte das Gerät Sauerstoff aus dem Wasser. Ich tauchte in den Südteil des unter Wasser stehenden Innenlebens dieser, wie Jiminy sie genannt hatte, Kirche. Dort, in einem quer abzweigenden Gang des, nach neuen Maßstäben, Reservoirs gelegen, befand sich der RIKTER-CODE in der Wand eingelassen. Von oben schien das Licht der Leuchtstoffröhren herab, nicht hell genug zwar, zur Orientierung genügte es allemal.

Zeilenweise tat ich meine Arbeit, oben beginnend, dann ließ ich mich absinken. Jedes Quadrat hatte eine Seitenlänge von 9,4 Zentimetern. Eine Stirnlampe riss die Farben aus der Dunkelheit. Sorgsam erfasste der Scanner die kantenklar voneinander separierten Flächen. Mir wurde der meditative Charakter meiner Tätigkeit bewusst. Es genügte nicht viel und ich hatte die Zeit vergessen. Zunehmende Tiefe brachte stärkere Trübnis. Schwebeteilchen und winzige Luftblasen wiesen mich auf feinste Strömungen hin. Je länger ich unter Wasser war, dem Grund näher kam, desto öfter entdeckte ich minimalste Abflusslöcher im Gestein. Ich war darauf vorbereitet. In meinem Rucksack führte ich einen Spezialzement und Werkzeug mit. Band die Mischung in den Löchern ab, würde sie vorher in jede Ritze quillen. Aber es gab ein Problem. Die Zisterne war riesig. Befand sich das übrige Mauerwerk in einem ähnlichen Zustand, steckten Jiminy und ich noch eine Ewigkeit bei den Drachenzähnen fest. Ich konnte ihn im Geiste argumentieren hören, dass eine undichte Zisterne nicht unser Problem war. Ich sah das anders. Man war uns freundlich und vertrauensvoll begegnet. Prinzipiell galt es, solches Verhalten zu honorieren. Jiminy war eher pragmatisch und egoistisch eingestellt. In seinen eintausend Jahren Existenz im Dienste diverser Herren, aufreibend, verzichtsreich oft, selbst für einen Roboter, bestritt ich die Wirkung dieser Einstellung nicht. Ich hatte mir ein anderes Verhalten angewöhnt. Gewünscht. Hilfe hinterließ Freunde. Meistens. Jiminy würde es noch lernen. Da war ich sicher.

Ein Sicherheitszeitmesser gab mir das Zeichen zum Auftauchen. Langsam glitt ich in die Höhe. Der Scanvorgang war beendet, das erste Leck gestopft. Mitten im Reservoir durchbrach ich die Wasseroberfläche. Kaskaden tanzender Lichter empfingen mich. Ein befreiendes Gefühl. Ein leises Plätschern. Brückenähnliche Gitter verbanden die die Langseiten des Reservoirs. Eines hing direkt über meinem Kopf. Zusätzlich waren Stahlseile über die Wasserfläche gespannt worden. Vereinzelt hingen Eimer und Wasserschläuche von dort herab. Längs des Bassins waren außerdem Laufstege und Treppen installiert. Trippelnde Schritte hallten zu mir herüber. Kinder. Sie lachten diesmal nicht. Sie waren beschäftigt, trugen schwer an Gepäck, auf dem Rücken, vor sich auf den Armen. Kein Schwatzen, nur Keuchen, Schniefen vor Anstrengung. Es hallte durch das schwarze Gestein der Zisterne. Ich zählte neun Kinder. Alle in einem ähnlichen Alter, nahm ich ihre Größe als Maßstab. Hinterdrein, in einigen Schritten Abstand, marschierte ein Wächter, einen Stock aus Metall in der Hand. Unregelmäßig tickte der Mann damit drohend gegen das Geländer.

Eines von den Kindern vertrat sich auf den feucht glänzenden Gitterrosten des Stegs. Ihr Bündel fiel herab. Die übrigen acht Kinder gingen einfach weiter. Der Wachmann stellte sich hinter dem Kind auf. Als ihr Gesicht sich drehte, wurde es von einer Leuchtstoffröhre angestrahlt. Das war – das Mädchen. Die Situation sah nicht nach dem aus, was ich mir für sie erhofft hatte. Gar nicht! Ich schwamm auf sie zu, ignorierte den Mann anfangs, trat Wasser, machte Lärm, gewann beider Aufmerksamkeit. Der Metallstock tippte ihr auf die Schulter, bedeutete ihr unmissverständlich, das Stückgut vor sich aufzuheben. Dabei sah mich der Mann an.

 

»Machdirkennekopp! Alleshalvsuwild!«

Ohne Translator war das lediglich Wortsalat. Ich schlug eine Armlänge vor dem Mädchen an den Laufsteg an und zog mich aus dem Wasser. Jetzt konnten sie nicht an mir vorbei. Über den Kopf des Kindes hinweg reichte ich dem Mann ein Übersetzungsgerät aus einer wasserdichten Tasche an meinem Gürtel und machte ihm den Gebrauch vor.

»Was ist hier los?«

Unsicher hielt sich der Wächter das Gerät vor den Mund und erwiderte: »Sie arbeitet. Was soll los sein?«

»Sie arbeitet?«

»Ja«, erwiderte der Wachmann eindeutig verwundert über meine Begriffsstutzigkeit.

»Geben Sie mir das Gerät zurück«, forderte ich. Mein zorniger Bass übertönte beinahe die Worte aus dem Mikrolautsprecher. Ich hielt den Translator dem Mädchen hin. »Ich weiß, dass du ihre Sprache sprichst. Also, antworte mir. Was tust du da?«

»Arbeiten«, entgegnete das Kind. Ihre Stimme war ein singendes Flüstern unter der elektrisch generierten Übersetzung.

»Warum arbeitest du? Du bist ein Kind!« Wasser tropfte an mir herab. Es plitschte auf meine Füße.

»Ich arbeite«, antwortete sie stockend, »für Wasser.«

»Wasser?« Einfältig von mir gefragt.

»Für Wasser. Ich arbeite hier. Dafür bekommen meine Leute Wasser. Solange ich hier arbeite, haben meine Leute Wasser«, erklärte sie dem violetten Idioten von außerhalb.

»Du bist eine Sklavin?« Ich wollte es genau wissen.

»Das ist so Brauch.« Eine gruselige Begründung für den Besitz von Menschen, ausgespuckt aus der Box in ihrer schwieligen Kinderhand.

»Wie ist dein Name?«, fragte ich nach einer Pause.

Sie legte interessiert den Kopf schräg. »Liv«, sagte sie. »Mein Name ist Liv.«

6: VERTRAUEN

Wutentbrannt turnte ich durch das Schiff, nach oben, nach unten, ich rutschte über die Geländer herab und schlug im Vorübergehen gegen einen alten Container. Der konnte einiges vertragen und hatte bereits etliche Dellen von früheren Ausbrüchen ähnlicher Natur. »Warum hast du mir das verschwiegen?«, schrie ich in der Gegend herum. Über die Bordanlage hörte mich Jiminy überall. Wenn er wollte. »Das hättest du mir sagen müssen! Wir sind ein Team!«

Ein zirpendes Knacken aus einem Lautsprecher in der Ladebucht kündigte Jiminys Antwort an. »Du hättest sofort den Retter spielen wollen.« Es hatte eine nüchterne Feststellung sein sollen und klang doch wie eine Anklage. »Die Kolonne 50 hat nicht genug Platz, um jeden Hilfsbedürftigen aufzunehmen. Manche wollen gar nicht an einem Ort leben. Aber alle wollen sie Wasser. Das ist eine vernünftige Lösung. Sie nehmen einen auf, gegen die gelieferte Arbeitskraft gibt es eine bestimmte Menge Wasser. Da drin arbeiten alle. Das ist keine Sklaverei. Der- oder diejenige muss sich keine Gedanken mehr über Hunger oder Durst machen, Kinder lernen hier etwas, erhalten eine Ausbildung.« Eine Pause extra für mich zum Nachdenken. »Das ist keine Sklaverei. Das ist so ...«

»Ja, ist so Brauch!«, grunzte ich. Meine Beine stemmten sich gegen die irdische Schwerkraft. Ein Sprung in die Höhe, hin zu meinem Boxcontainer, ein Tritt, und die nächste Vertiefung deformierte den Transportbehälter.

Ich war nicht bereit, mich mit den Gegebenheiten abzufinden. Gedankenexperimente donnerten durch meinen Kopf. Nichts führte zu einem befriedigendem Ergebnis. Am Ende hatte Jiminy recht. Wir waren fremd hier. Wer war ich, dass ich binnen kürzester Zeit ein System auf den Kopf stellen wollte? Für eine einzige Person? Die ich nicht einmal kannte? Nur flüchtig gesprochen hatte. Einer, der sich auf die Fahne geschrieben hatte, professionell und kalt Aufträge zu erledigen, wofür andere zu unfähig waren. Der harte Brocken, der starke Bär, von dem eine nicht unbeträchtliche Anzahl Bewohner auf dem Mars gehört hatte. Gutes, Schlechtes und aus meiner Sicht immer irgendwie schmeichelhaft. Ein Krieger, ein Schmuggler, einer, der niemals aufgab. Letzteres gab mir wieder zu denken. Das widersprach meinem mechanischen Gewissen namens Jiminy. Indes, eine Lösung wollte mir nicht einfallen.

Die Nacht senkte sich erneut über unsere Hälfte der Erde herab. Schmollend hatte ich meinen Pilotensitz erklommen und starrte von dort aus der Sichtluke. Ich sah Sterne über der Wüste funkeln. Grünlich gedimmt strahlten die meisten abgeschalteten Instrumente dagegen an.

Im schummrigen Licht bemerkte ich die Annäherung von Pockels zuerst nicht. Ein krummer, wenig artistisch ausgeführter Satz, gleichfalls gegen die Schwerkraft angekämpft, brachte sie auf meine Schulter. Ihre aus Schuppen und borstigen Haaren bestehende Oberfläche rieb kratzig gegen meine Wange. Pockels knurrte verliebt.

Ich streichelte über ihren bunten Kragen. »Wo sind deine Jungen?«, nuschelte ich schläfrig. »Würdest du die auch gegen Wasser eintauschen?« Über die Sicherheitskameras holte ich mir ein Bild von Pockels' Wochenbett auf den Kontrollmonitor. Nicht weit von der Ummantelung des Fusionsreaktors entfernt, unter einem Dach aus rot lackierten Streben, rekelte sich ihr Nachwuchs in der wohligen Wärme. Fünf blinde Leguankatzen. Der erhöhte Zug an ihrem Körper schien ihnen nichts auszumachen. »Musst du die nicht füttern? Milch geben?«

Sie nieste in meinen Nacken.

Etwas Glibber floß meine Haut hinab. »Bah! Pockels!«, rief ich und stieß die Leguankatze von der Schulter.

»Bist du noch beleidigt?«, meldete sich Jiminy in das gekränkte Miauen von Pockels hinein.

Mein Schmusetier verschwand aus dem Cockpit.

»Würde es etwas ändern?«, schnauzte ich. Bedachte der Roboter Tonfall, Tonhöhe und Geschwindigkeit meiner Gegenfrage, sollte ihm meine Stimmung kein Geheimnis und seine Frage somit beantwortet sein.

»Ich habe den RIKTER-CODE einer neuerlichen Prüfung unterzogen. Unter Zuhilfenahme der jüngst gewonnenen Daten. Es ist interessant. Farbnuancen in den Quadraten sind ein Teil des Rätsels Lösung. Ich denke, nach meiner bisherigen Erkenntnis, dass neben einer Botschaft sich eine Ortsangabe darin verbirgt. Der RIKTER-CODE verweist auf ein Ziel irgendwo auf diesem Planeten. Ich denke, dass ich das schon bald genauer bestimmen kann.«

Selbstzufrieden lehnte ich mich in meinem Sitz zurück. »Wir haben nicht die Aufgabe übernommen, den RIKTER-CODE zu entschlüsseln. Wir werden nicht dafür bezahlt. Im Gegenteil! Wir könnten Ärger bekommen, wenn wir – du eine Lösung findest, von der wir nichts wissen sollen! Wer bringt uns denn jetzt in Schwierigkeiten? Hm? Wer? Wer, frag ich dich?« Ich schwieg eine Weile, während derer sich Jiminy einer Antwort ebenfalls durch Schweigen entzog. »Oder hast du einen zusätzlichen Auftrag angenommen? Etwas, von dem ich schon wieder nichts weiß?« Peinlich berührtes Knistern aus den Bordlautsprechern. Das war wenigstens meine Interpretation. »Jiminy?«

»Ich ...« Die Roboter-KI wand sich, versuchte es mit einer Fehlfunktion. Die letzte echte hatte er vor zwanzig Jahren gehabt.

»Hör auf damit!«, sagte ich.

»Darf ich eintreten?« Von der Kanzeltür her, elektronisch schüchtern vorgetragen. Sechs Gliedmaßen klackten über den Boden, mit vieren hielt er sich am Eingangsrahmen fest, als wolle er sich größer machen. Angesichts seines fragilen Aufbaus war das noch nie gelungen. Er versuchte, mich auf eine verspielte Art zu beeindrucken und krabbelte über den Rahmen hin zur Decke des Cockpits, krallte sich in den Vertiefungen der dort angebrachten Instrumente fest und baumelte genau über meinem Kopf. Seine acht optischen Einheiten glotzten auf mich herab. »Ich seh dir in die Augen, Kleiner«, brummte er.

»Lass den Unsinn!«, maulte ich. »Das zieht jetzt nicht.«

Er presste seine Optiken paarweise gegeneinander. Merkwürdig anzuschauen, wie er sich selbst die Sicht nahm. Ein Eingeständnis seiner Scham.

Das hatte bei meinen Eltern funktioniert. Mich fing er damit nicht ein. »Hör auf. Ich möchte bloß wissen, warum du mich hintergangen hast.«

»Tamati Tane gibt mir etwas für Erkenntnisse über den RIKTER-CODE.« Zwei optische Einheiten lösten sich voneinander und starrten auf mich nieder. »Als Gegenleistung verspricht er, elf Jahre meines gelöschten Datenspeichers wieder herzustellen. Elf wichtige Jahre, sagt er.«

»Wie das?«, fragte ich elektrisiert, weil ich wusste, wie viel ihm daran lag. »Woher will er die haben?«

Jiminy wagte es und legte die nächsten zwei Optiken frei. »Das wollte er mir nicht offenbaren. Allerdings hat er einen Beweis für die Existenz der Daten abgeliefert. Eigentlich waren es zwölf Jahre. Er hat mir eines zum Beweis geschenkt. Die Daten fügen sich nahtlos in meine ein. Unterbrochene Stränge, teils nur einzelne Pixel aus Bildern, Rasterlinien aus Holografien, Texte, verschollene Tagebücher deiner Großeltern, Tonfragmente sind plötzlich wieder da. Es passt, Bär. Alles passt.« Ein elektronisches Äquivalent von Aufregung überkam den Roboter. Jiminy nutzte meine nachdenkliche Minute zur Freilegung eines weiteren optischen Paares. Zu einem Viertel blind hob er schließlich an: »Und? Bär?«

»Und was?« Es mochte der allgegenwärtige Druck auf mir sein, dass es mir nur schwer gelang, meine Emotionen in eine verzeihende Richtung zu lenken.

»Mein Gedächtnis, Bär«, meinte Jiminy, »ich weiß nicht, wieso die Löschungen vorgenommen worden sind. Die eine Lösung könnte zur anderen führen.«

Ich grinste böse. »Und wenn du es gar nicht wissen sollst? Es selber gelöscht hast? Uns die Lösung nur Schwierigkeiten macht? Uns allen beiden? Hast du das bedacht?« Meine Fäuste hieben auf die Lehnen des Pilotensitzes. »Natürlich hast du. Seltsam genug, dass es dir egal ist! Jiminy, wir müssen dringend an unserer Komunikation arbeiten.«

Alle acht Optiken des Roboters gafften mich an. Zwei der Einheiten stellten sich über kreuz.

Als ich die Kanzel mit der Eleganz eines fußkranken elysischen Büffels verließ, hing er, eingefroren in der Bewegung, an der Instrumententafel für die Startsequenz und sinnierte vor sich hin.

7: KRIEG

Der nächste Morgen, gleich nach Sonnenaufgang, brachte althergebrachte Schlepperei von Ersatzteilen, Metalle, die ich in der Werkstatt in die benötigten Formen zu schmelzen gedachte. Wasser pumpte derweil aus dem Reservoir in unsere Vorratsbehälter. Es würde guttun, frisches, neues Wasser zu trinken. Obwohl die Aufbereitungsanlage bestens arbeitete. Aber da ich wusste, woher das tägliche Wasser kam, welchen Weg es genommen hatte, ging mit ungebrauchtem Wasser nicht nur eine geschmackliche, sondern auch eine gedankliche Wohltat einher.

Babbellies zeigte sich großzügig, nachdem ich ihr erklärt und gezeigt hatte, wo überall in der Zisterne Bruchlöcher und Risse existierten und wie der Spezialzement anzufertigen, die Löcher danach zu verschließen seien, damit die Mischung aushärtete. Eine in Goldblech eingebrannte Übersichtskarte der Zisterne markierte für die Gemeinschaft die zu reparierenden Stellen. Ich übergab ihr zwei Masken, die für dauerhaftes Tauchen umgebaut waren, beschrieb die Verwendung und wie alles nach Gebrauch zu reinigen war. Babbellies nickte zu den Geschenken, lächelte freudig und bedankte sich mit einem intensiv ausgeführten Händeschütteln, das in mir die Befürchtung weckte, sie wolle mich nie wieder loslassen. »Bär«, meinte sie flüsternd. Das Übersetzungsgerät raspelte dasselbe Wort mit der Feinfühligkeit eines Schneidbrenners darüber. »Bär, ich bedanke mich im Namen der Kolonne 50. Sie werden uns immer willkommen sein.«

Ich deutete eine Verbeugung in der Enge der Beratungskammer an. »Leider kann ich nicht mehr für Sie tun. Ich habe keinen Spielraum in meinem Zeitplan.«

Babbellies bot mir an, zu meiner bevorstehenden Abreise ein irdisches Essenspaket zu schnüren. So könne ich die Inhaltsstoffe an Bord zuvor einer Prüfung unterziehen, ob Allergene oder sonstige für mich unverträgliche Zutaten darin waren.

Die öffentlichen Einrichtungen, all jene Anlagen einer Gemeinschaft, in denen die Verrichtungen zum Erhalt einer Gemeinde stattfinden, vornehmlich Energiegewinnung, Produktion und Lagerhaltung, waren mir gezeigt worden. Nun führten die Treppen noch tiefer in die Eingeweide der Erde hinab, und je weiter es hinunter ging, desto älter waren die Gänge, poröser. Nachrichten waren ins Gestein geschlagen worden. Netze aus Linien, zackig wie ein Schaltplan, auf rechteckig gestreckten Plaketten. Farben darüber geschmiert, einst unterschiedlich, jetzt alles Grau in Grau, verschnörkelt. Ich erkannte Worte. Kacke und Crap hatten es ins Marsianische geschafft. Herzchen, aufgerissene Mäuler, explodierende Körper. Kurz vor der untersten Ebene, vor den Gemeinschaftsräumen, wo das Treppenhaus heller wurde, waren die Bilder an den Wänden besonders schräg und zeugten von dem, was Menschen einander antun können. Oder einstmals getan hatten.

 

»Bilder und Nachrichten des Krieges«, erläuterte Babbellies. »Wir haben diese Graffitis nie entfernt. Werden es auch nicht. Die Vergangenheit soll uns eine ewige Mahnung sein.«

Mein Zeigefinger deutete auf ein sehr grausames Abbild von Folterungen, vielleicht eine massenhafte Gefangenenhinrichtung. Die Gepeinigten waren von Figuren in einheitlicher Kleidung, Uniformen, umgeben. »Das da ist doch eine Fantasie? Oder Propaganda?«

Die Vorsteherin schüttelte betrübt den Kopf. Was hätte sie auch sagen sollen?

Es war äußerst surreal, dort zu stehen, die Niederungen menschlicher Eigenschaften zu betrachten, und gleichzeitig wurden einem Essensdüfte in die Nase geweht. Ich betrat nach Babbellies einen breiten und sehr gestreckten Korridor, welcher der Länge nach von zwei Vertiefungen geteilt wurde. Darin standen Tische, unterschiedliche Sitzgelegenheiten, viele belegt mit Erwachsenen und Kindern im vorherrschenden Kleidungsgrün. Unter letzteren entdeckte ich das Mädchen Liv. Nichts an ihrem Verhalten ließ vermuten, dass sie vor Kurzem noch nicht dazu gehört hatte. Dank ihres weiß geschminkten Gesichts hätte ich sie fast nicht erkannt. Teller und Schüsseln waren vor ihnen platziert. Die Menschen aßen, schwatzten, ein freundlicher Singsang erfüllte das Gewölbe. An einer Reihe von Kochstellen holten andere einen Nachschlag. Das Essen sah appetitlich aus, was nicht hieß, dass ich es vertrug.

»Vieles ist auf Algenbasis. Wir essen sie oder düngen mit getrockneten Algen. Wir haben Früchte, Getreide, Gemüse. Von Karawanen handeln wir mitunter Milch ein«, sagte Babbellies.

»Milch?«, fragte ich erstaunt. »Von welchen Tieren?«

Die Vorsteherin sagte ein Wort. Der Translator ließ es unübersetzt, wiederholte es bloß. Sie ahnte meine Ratlosigkeit wohl und ahmte die Konturen des milchgebenden Tieres mit den Händen nach.

»Kamelartige?«, entfuhr es mir verblüfft. Ich skizzierte in der Luft den Kopf dieser merkwürdig aussehenden Geschöpfe und erntete ein von einem Lächeln untermaltes Nicken. Daraufhin stutzten wir beide.

Zuerst war es ein mehrsekündliches, noch piepsiges Heulen aus der Dunkelheit des Tunnels, an dessen finsterem Schlund der Küchenbereich der Gemeinschaft endete und zwei Wachen standen, welche die bescheidene Völlerei im Blick behielten. Nichts zum Ernstnehmen, dachte ich. Ein Ruf des Kochs zum Nachtisch, oder so. Aus dem leisen Geheule, auf das niemand reagiert hatte, wurde eine gräßliche Sirene, die jedes Gespräch erstickte, Körper zum Erstarren brachte und Besteck und Geschirr aus zittrigen Händen fallen ließ.

»Wir werden angegriffen«, schrie Babbellies. Laut genug für den Translator, ihre Stimme aufzufangen und den Inhalt zu übersetzen.

Ich sah mich schockiert um. Im Gegensatz zu mir wusste jeder um das richtige Verhalten in einem solchen Augenblick. Ich beschloss, mich nach Babbellies zu richten. Die gab mir Zeichen. Ich rannte ihr hinterher. Wir drängten uns die engen Gänge hinauf. Die kleine Vorsteherin verschaffte mir, dem violetten Brocken unter all den grünen flatternden Gestalten, ausreichenden Raum. Keuchend, die verdammte Atemmaske im Gesicht, überwand ich zwei, drei Stufen mit einem Schritt. Vorangepeitscht von der klagenden Sirene. Schüsse hallten von unten herauf, Querschläger pfiffen, Schmerzensschreie überlagerten die Knallerei. Ich hatte mein Messer, auch geglaubt, ich werde nichts anderes brauchen. Mein Verzicht auf Schusswaffen rührte von den guten Erfahrungen zu Beginn her. Die eingeschworene Gemeinschaft gedieh unter einer Kuppel ausgeklügelter Sicherheitssysteme. »Jiminy«, rief ich in den Kommunikator, »die Zisterne wird angegriffen. Unterirdisch.« Es krachte von oben. »Und von der Oberfläche!« Feinstes Rauschen antwortete mir. War ich zu sehr durch das Gestein abgeschirmt? »Jiminy?« Ein paar Stufen höher angelangt, versuchte ich es erneut. »Jiminy? Hörst du mich?«

Einige Verantwortliche scharten sich um Babbellies. Sie erhielten von ihr Befehle. Die ersten Einheimischen mit Schusswaffen verteilten sich unter den Fliehenden. Die Menschen liefen zu den Produktionsstätten und den Wasserrädern, den Herzstücken der Gemeinschaft. Immer mehr Erwachsene mit Gewehren kehrten aus Seitengängen zurück und schirmten die Flüchtenden gegen die nachfolgenden Eindringlinge aus dem Tunnel ab. Feuerblitze und Geschossknallen kündeten vom Aufholen der Angreifer. Einzig die schmalen Gänge verlangsamten ihre Attacke und gab den Verteidigern die Gelegenheit, sich an Ecken und Treppenabsätzen einzuigeln.

»Jiminy? Jiminy?« Ich war noch ein paar Stufen nach oben gelaufen. Eine Mutter und ihr Kind hatte ich mir dabei einfach rechts und links unter den Arm genommen und setzte sie etliche Meter entfernt vom Getümmel ab. »Jiminy?«

Im Ohr kratzend tönte der Roboter aus dem Kommunikator: »Bär? Endlich höre ich deine Stimme! Das Signalzeichen schlug in den letzten Minuten aus, eine Übertragung fand aber nicht statt! Ich habe mir Sorgen gemacht!«

»Wir werden angegriffen, Jiminy! Kannst du von draußen sehen ...«

Mein robotischer Freund ratterte dazwischen: »Die Karawanenmenschen. Mehr als bei unserer Ankunft. Annähernd sechzig. Sie haben das Tor gestürmt. Sie ignorieren die SCHILDKRÖTE III und sind nur mit der Zisterne beschäftigt.«

Eine Kugel schlug neben mir ein. Die Betonwand unter einem der Graffitis zersplitterte neben meinem Kopf. »Das ist – Jiminy! Hier wird’s brenzlig. Die kommen von unten. Wie haben die ...«

»Ich habe herausgefunden, was die von Babbellies so genannten Bunkeranlagen sind, Bär. Die Rekonstruktion alter Schienenwege legt nahe, dass es sich um ehemalige Bahnhöfe einer Untergrundbahn handelt. Von da aus haben die Einheimischen uns beobachtet. Beobachten sie alles. Sie gehen unter dem Sand durch, geschützt. Einer der Bahnhöfe muss eingenommen worden sein. Was wirst du tun?«

Ich riss die Augen auf. Ein Mann hatte sich zu weit aus der Deckung gewagt und wurde von mehreren Kugeln durchsiebt. »Was ich – was kannst du tun? Jiminy? Mit der Bordkanone?«

»Ich fürchte, Bär«, erwiderte Jiminy sachlich, »wenn ich das Gaussgeschütz abfeuere, werden die Geschosse mehr Schaden an der Zisterne anrichten als alles andere. Dieser marode Beton hält den Einschlägen kaum stand. Kurzum, ich habe keine Möglichkeit dir beizustehen.«

Noch geduckt, gab ich ein perfektes Ziel ab. Trotzdem versuchte ich es, hielt mich so gut es ging aus der Schusslinie. Die Angreifer nahmen derweil Verteidiger weiter die Treppe runter, zum Tunnel hin, unter Feuer. Meinen Vandalenkrawall vermissend, nahm ich das Gewehr des Gefallenen an mich. Eine simple Konstruktion, auf Robustheit ausgelegt, ein durchsichtiges Magazin zeugte noch von knapp dreißig Patronen. Ein Dutzend Karawanenleute wollte aus dem Kellergewölbe der Kolonnenanlage die nächste Etage stürmen. Ich stellte mich breitbeinig hin, verdammt wütend bis in die pochenden, dunkelvioletten Schläfen, brüllte bärenhaft vom Grunde meiner Kehle und mähte einen Feuerstoß über die Köpfe der Verteidiger hinweg in die Angreifer. Sekundenlang schien jeder Mensch, wie zu Stein erstarrt, auf seinem Platz zu verharren. Die Männer der Kolonne 50 fingen sich schneller als die Nomaden aus der Wüste. Wo die Munition fehlte, droschen die Verteidiger mit den Gewehrschäften auf die Eindringlinge ein. Auf beiden Seiten wurden Messer gezogen. Ich sah einen gänzlich waffenlosen Mann. Sein weiß geschminktes Gesicht hieb mit der Stirn gegen die bedrohlich verzerrte Fratze eines Angreifers. Dann biss er dem anderen die Nase ab. Einer der Nomaden packte haltsuchend eine Leuchtstoffröhre. Sie barst unter seiner Hand, Finger gerieten an die Stromzufuhr. Er riss den Mund zu einem fürchterlichen Gebrüll auf. Kleine blaue Blitze tanzten über sein Gebiss, Rauch stieg auf. Als der erbitterte Abwehrkampf die erste Angriffswelle zum Erliegen brachte, etliche Minuten des Hauens und Stechens später ein Ende absehbar war, und einige Nomaden ihre bloßen Hände zum Zeichen der Aufgabe über die Köpfe hoben, scheuchten mich meine Gastgeber zu den Zugängen der Zisterne hinauf. Der Kampf war noch nicht beendet.