Freie und faire Wahlen?

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Aus der Reihe: Politisches Sachbuch
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Der Index gibt einen ersten, möglicherweise hilfreichen Überblick über Wahlen weltweit.

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 Allerdings lässt die Transparenz der von Expertinnen und Experten zwar anhand objektiver Kriterien, aber dennoch subjektiv vorgenommenen Länderbewertungen zu wünschen übrig. Auch fördert der Index mitunter Bewertungen zutage, die kontraintuitiv sind, schon gar im interregionalen Vergleich. So ist beispielsweise schwer nachvollziehbar, dass die Wahlen im Sudan weit mehr Punkte erhalten als die sicherlich kritikwürdigen, aber doch kompetitiveren Wahlen in Honduras und Nicaragua. Ländervergleiche, zumal über verschiedene Weltregionen hinweg, sind bei solchen Indizes mit großer Vorsicht zu genießen, da die Bewertungen insbesondere vor dem Hintergrund des nationalen und allenfalls noch des regionalen Kontexts erfolgen, nicht aber auf Grundlage eines zumal interregionalen Vergleichs. Es wäre daher stets zu prüfen, welche Aspekte der Wahlen für eine bessere oder schlechtere Bewertung der Wahlen ausschlaggebend waren und wie sich etwaige Bewertungsvarianzen begründen lassen. Die aggregierten Länderdaten geben hierzu kaum Aufschluss. Zugleich können die kumulativen Ergebnisse die Unterschiede der Integrität von Wahlen in ein und demselben Land verwischen. Mitunter sind auch Wahlen, die zu abweichenden Bewertungen kommen, noch nicht erfasst: In der knapp 20-jährigen Vorzeigedemokratie Westafrikas, Benin, die für den Zeitraum zwischen 2012 und 2018 eine sehr hohe Bewertung erhielt, wurden bei den Parlamentswahlen im Mai 2019 nur zwei regierungsnahe Parteien zugelassen, fünf Oppositionsparteien(-bündnisse), darunter auch jene des ehemaligen Präsidenten Boni Yayi, wurde die Zulassung verwehrt. Die Wahlbeteiligung sank rapide auf rund 23 %, und es folgten schwere Zusammenstöße zwischen Polizei und Demonstrierenden.







Wahlbeobachtung – inzwischen weit verbreitet





Internationale Wahlbeobachtung spielt eine potenziell wichtige Rolle für die Transparenz und Integrität des Wahlgangs. Durch Wahlbeobachtung lassen sich Wahlunregelmäßigkeiten und Wahlmanipulationen nicht nur aufdecken, sondern möglicherweise auch vermeiden. Angesichts der Präsenz von Wahlbeobachtungsteams nehmen die politischen Kontrahentinnen und Kontrahenten gegebenenfalls von (allzu offenem) Wahlbetrug Abstand. Zum anderen können unabhängige Wahlbeobachtungsmissionen auch bezeugen, wenn die Wahlen hinreichend frei und fair abliefen. Der Ausweis, dass die Wahlen internationalen Standards genügten, kann die Legitimität der Wahlen stärken, gerade dann, wenn diese infrage gestellt wird. Vor allem in solchen Gesellschaften, in denen – beispielsweise nach Bürgerkriegen oder im Rahmen von Demokratisierungsprozessen – großes Misstrauen zwischen den kandidierenden Personen und Parteien herrscht, kann Wahlbeobachtung zur Vertrauensbildung beitragen. Gleiches gilt für Länder, in denen eine ausgeprägte politische oder gesellschaftliche Polarisierung einen demokratischen Wahlprozess erschwert. Selbst in etablierten Demokratien können Empfehlungen von Wahlbeobachtungsteams wahlrechtliche oder wahlorganisatorische Reformen anstoßen.



Die Vereinten Nationen entsandten bereits zwischen 1956 und 1990 rund 30, meist kleine Wahlbeobachtungsmissionen in die sich damals entkolonialisierenden Staaten Afrikas und Asiens. Doch die von den Vereinten Nationen überwachten Wahlen zur Verfassungsgebenden Versammlung im November 1989 in Namibia, auf die im März 1990 die Unabhängigkeit des Lands folgte, bildeten vom Umfang her eine Zäsur: Die dortige

United Nations Transaction Assistance Group

 umfasste 8.000 Personen.

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 Es folgten die bis dahin international am besten beobachteten Wahlen in einem souveränen Staat: die Wahlen 1990 in Nicaragua, aus denen das sandinistische Revolutionsregime (1979 – 1990) nach siegreichen Wahlen 1984 überraschend als Verlierer hervorging und die Regierungsmacht abgab. Die Wahlen waren Teil des zentralamerikanischen Friedensprozesses

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 und wurden nicht nur von den Vereinten Nationen beobachtet, sondern auch von der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die zwischen 1962 und 1990 an mehr als 20 kleineren Wahlbeobachtungsmissionen in der Region teilgenommen hatte, sowie von etlichen weiteren internationalen NGOs, wie etwa dem

Carter Center

. Während sich die Vereinten Nationen im Laufe der 1990er Jahre zusehends aus der Wahlbeobachtung zurückzogen, war bei den darauffolgenden Wahlen 1996 in Nicaragua die OAS, die Europäische Union sowie eine kaum überschaubare Anzahl an internationalen Wahlorganisationen, NGOs, Stiftungen, Parteien, Botschaften und Abgeordneten vor Ort. Sie trugen erheblich zur Integrität der Wahlen und zur neuerlichen Akzeptanz der Wahlniederlage durch die Sandinisten bei.



Im Zuge der Demokratisierungsprozesse auch in anderen Weltregionen entwickelten weitere Institutionen eine kontinuierliche, professionelle Wahlbeobachtung. Im OSZE-Raum mit seinen 57 Teilnahmestaaten ist hier vor allem das

Office for Democratic Institutions and Human Rights

 (ODIHR) der OSZE hervorzuheben. Es entsandte 1996 sein erstes Langzeitwahlbeobachtungsteam und hat bis Ende 2018 insgesamt 358 Beobachtungen von Wahlen und Referenden durchgeführt.

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 Die EU wiederum schickte, beginnend mit einer Mission nach Russland im Jahr 1993, bis Ende 2019 insgesamt 197 Wahlbeobachtungsteams in sogenannte „Drittstaaten“.

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Mit dabei waren von Beginn an Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter aus Deutschland, da internationale Wahlbeobachtung schon früh als Instrument der Demokratisierungshilfe erachtet wurde.

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 Deren Beteiligung wurde in den 1990er Jahren direkt über das Auswärtige Amt koordiniert, später übernahm das 2002 gegründete Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF) die Rekrutierung und Ausbildung deutscher Wahlbeobachterinnen und -beobachter. Bis September 2019 vermittelte das ZIF insgesamt 4.242 Kurzzeit- und 534 Langzeitwahlbeobachterinnen und -beobachter an Wahlbeobachtungsmissionen von ODIHR und 366 bzw. 319 an jene der EU. Nicht einbezogen sind hierbei die direkt bei der OSZE oder der EU beschäftigten Personen. Darüber hinaus entsandten auch nicht staatliche Organisationen Wahlbeobachterinnen und -beobachter von Deutschland aus ins Ausland.





Entsandte Wahlbeobachterinnen und Wahlbeobachter (ZiF)












ODIHR









Jahr 2002









Jahr 2003









Jahr 2004









Jahr 2005









Jahr 2006









Jahr 2007









Jahr 2008









Jahr 2009









Jahr 2010









Jahr 2011









Jahr 2012









Jahr 2013









Jahr 2014









Jahr 2015









Jahr 2016









Jahr 2017









Jahr 2018









Jahr 2019*













STOs







            141





            269





            441





            252





            189





            217





            191





            168





            272





            138





            195





            239





            234





            213





            323





            187





            276





            297











LTOs







            15





            32





            34





            25





            24





            27





            31





            18





            33





            19





            38





            19





            31





            31





            47





            27





            42





            41

















EU









Jahr 2002









Jahr 2003









Jahr 2004









Jahr 2005









Jahr 2006









Jahr 2007









Jahr 2008









Jahr 2009









Jahr 2010









Jahr 2011









Jahr 2012









Jahr 2013









Jahr 2014









Jahr 2015









Jahr 2016









Jahr 2017









Jahr 2018









Jahr 2019*













STOs







            6





            25





            47





            39





            50





            24





            18





            18





            28





            21





            6





            22





            6





            9





            6





            13





            16





            12











LTOs







            2





            14





            26





            34





            38





            27





            25





            20





            17





            21





            8





            16





            17





            8





            8





            12





            18





            8








Quelle: ZIF, zusammengestellt von Dominika Eichstädt

 



*

 Stand: September 2019. STO: Short-term observers, LTO: Long-term observers.



Neben der internationalen Wahlbeobachtung wuchs zugleich die Bedeutung der Wahlbeobachtung durch nationale und lokale Organisationen innerhalb der jeweiligen Länder, gerade auch seitens der dortigen Zivilgesellschaft

(domestic observers, citizens observers)

. Hinzu kommen in vielen Ländern

„observers“, „agents“

 oder

„proxies“

 der kandidierenden Personen und Parteien.



Als ein frühes Beispiel für eine umfassende und erfolgreiche nationale Wahlbeobachtung gelten die Präsidentschaftswahlen 1986 auf den Philippinen, die ein wichtiger Baustein der dortigen Demokratisierung waren. Sie wurden von rund 500.000 Freiwilligen beobachtet. Die

National Citizens’ Movement for Free Elections

 (NAMFREL) hatte landesweit Bemühungen unternommen, um Wahlbetrug zu verhindern oder zu dokumentieren. NAMFREL diente als Inspiration für zahlreiche weitere nationale Wahlbeobachtungen in Asien. Zu nennen sind beispielsweise die 1991 gegründete

Citizens’ Coalition for Clean and Fair Elections

 (CCCFE) in Südkorea oder in Bangladesch die

Bangladesh Movement for Fair Elections

 (BMNA), die ebenfalls 1991 entstand, sowie später die

Fair Election Monitoring Alliance

 (FEMA), die zu den Wahlen 1996 gegründet worden war. Auch in anderen asiatischen Staaten wie Thailand, Nepal oder Sri Lanka, in denen in der erste Hälfte der 1990er Jahre erstmals Mehrparteienwahlen stattfanden, bildeten sich, vorübergehend oder dauerhaft, kleinere oder größere Wahlbeobachtungsorganisationen und -netzwerke heraus.

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In anderen Weltregionen, allen voran in Lateinamerika, gewannen ab Ende der 1980er Jahre nationale Wahlbeobachtungen ebenfalls stark an Bedeutung. Zivilgesellschaftliche Organisationen wie

CIVITAS

 in Chile,

Participación Ciudadana

 in der Dominikanischen Republik,

Alianza Cívica

 in Mexiko, die

Comisión Justicia y Paz

 in Panama oder

Transparencia

 in Peru beobachteten die Wahlen in den sich (re-)demokratisierten Staaten der Region.

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 Bei den bereits erwähnten Wahlen von 1996 in Nicaragua wurden die internationalen Wahlbeobachtungsmissionen durch etwa 5.000 nationale Wahlbeobachterinnen und -beobachter sowie ungefähr 30.000 bis 50.000 Vertreterinnen und Vertreter von Parteien ergänzt. In Europa gründeten im Dezember 2012 insgesamt 13 unabhängige zivilgesellschaftliche Wahlbeobachtungsorganisationen die

European Platform for Democratic Elections

 (EPDE),

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 die wiederum Mitglied des

Global Network of Domestic Election Monitors

 (GNDEM) ist, in dem auch zahlreiche Organisationen und Netzwerke aus Afrika, Asien, Europa und Lateinamerika mitwirken.

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Selbst wenn die Wahlgesetze (gerade von etablierten Demokratien) nicht immer Abschnitte zur Wahlbeobachtung enthalten, sind mittlerweile bei vielen Wahlen weltweit internationale wie nationale Beobachtungsteams akkreditiert und zugegen. Dadurch geraten auch Wahlautokratien unter Handlungsdruck. So ist nur vorderhand erstaunlich, dass autokratische Regierungen internationale Wahlbeobachtungsteams ins Land lassen. Behnke, Grotz und Hartmann erklären dies dadurch, dass eine Verweigerungshaltung – sofern diese möglich ist

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 – leicht als Täuschungsabsicht wahrgenommen werden könnte.

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 Tatsächlich nährt die Nichtzulassung oder Behinderung internationaler Wahlbeobachtung oft berechtigte Zweifel an dem politischen Willen der Regierung, demokratische Wahlen abzuhalten. Aus diesem Grund sind Autokraten dazu übergegangen, mittels einer selektiven Einladungspolitik – zusätzlich oder ausschließlich – Wahlbeobachtungsgruppen von befreundeten Regimen und angeblich unabhängigen Organisation einzuladen, die ein gefälliges Bild der Wahlen zeichnen. Bereits erwähnte Beispiele sind hier Aserbaidschan, Zimbabwe und Venezuela. Ohnehin können Autokraten, wie später noch gezeigt werden wird, den Ausgang der Wahlen bereits lange vor dem Wahltag beeinflussen (oder schlimmstenfalls sogar festlegen), sodass offener Wahlbetrug am Wahltag, also dem Höhepunkt der Kurzzeitwahlbeobachtung, nicht mehr unbedingt nötig ist.



Bei den russischen Präsidentschaftswahlen im Jahr 2018 beispielsweise war zwar eine große ODIHR-Wahlbeobachtungsmission zugegen. Doch blieb etlichen anderen „unerwünschten“ ausländischen Wahlbeobachtungsorganisationen eine Einreise verwehrt. Auch lud die Regierung eigens rund 300 Personen (darunter auch AfD-Politiker aus Deutschland) zur Wahlbeobachtung ein, die hauptsächlich dazu dienten, die „Legitimität“ der Wahlen zu bestätigen. Da der Regierung an einer hohen Wahlbeteiligung gelegen war, nutzte sie ferner regimeloyale nationale Wahlbeobachtungsgruppen, um die Bürgerinnen und Bürger zur Wahlteilnahme zu bewegen.

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 Regimekritische nationale Wahlbeobachtungsteams wurden hingegen schikaniert. Zugleich setzte die Regierung darauf, dass der eigentliche Wahltag, auf den sich die Hauptaufmerksamkeit von Kurzzeitwahlbeobachtungen richtete, vergleichsweise ruhig und geordnet verlief, was internationale Wahlbeobachtungsteams – trotz mancher Unregelmäßigkeit – auch bestätigten. Allerdings machte ODIHR deutlich, dass im Vorfeld der Wahlen deren Freiheit und Fairness unzulässig beschnitten worden waren. Noch deutlicher war dies bisher in Belarus der Fall, wo ebenfalls internationale und (vorwiegend regimeloyale) nationale Wahlbeobachtungsteams die Wahlbeteiligung erhöhen und einen geordneten Wahlvorgang bezeugen sollten.



Dass Wahlautokratien inzwischen gezielt versuchen, über ihnen genehme Wahlbeobachtungen Legitimation für nur beschränkt kompetitive Wahlen zu gewinnen, lässt sich auch für andere Länder feststellen. In Kambodscha sollten beispielsweise fragwürdige internationale und nationale Wahlbeobachtungsgruppen

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