Die Charismatische Bewegung 2

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1.3. Charismatische Seelsorge

Seelsorge ist ein häufiges Thema auf charismatischen Kongressen. Diese Veranstaltungen sollen den Besucher zur geistlichen Seelsorge befähigen. Gleichzeitig über Laien hier gegenseitige Seelsorge. Verschiedene charismatische Seelsorgezentren bieten Ausbildung und Betreuung. Digitalisierte Vorträge und Seminare verbreiten die Gedanken charismatischer Seelsorge (u.a. von Christoph Hässelbarth, Maria Prean, Christa Weber). Im größeren Maßstab prägt die Deutsche Gesellschaft für Christliche Psychologie (IGNIS, lat. Feuer) seit 1986 mit ihren Seminaren und Schulungen die Konzepte charismatischer Seelsorge in Deutschland (Friedemann Alsdorf, Wolf-Dieter Hartmann, Werner May, Dr. Axel Schwall).21 Dazu gehören Zungengebet, Prophetie, Wort der Erkenntnis, Vision, Traum, Ruhen im Geist, Lachen im Geist, Segnungen und Salbungen. Die 1989 entstandene De’Ignis- Fachklinik für Psychiatrie und Psychosomatik (Egenhausen und Altensteig, Schwarzwald) bietet unter der Leitung von Rainer Oberbillig und Dr. Rolf Senst auch eine stationäre Behandlung an.22 Von der Geistlichen Gemeinde- Erneuerung in der Evangelischen Kirche (GGE) wurde unter der Leitung von Christoph von Abendroth im Stift Obernkirchen eine Tagungsstätte für Seelsorge- Seminare eingerichtet (1994-2008).

Hinter der typisch charismatischen Seelsorge steht zumeist ein stark dualistisches Weltbild: Der Mensch befindet sich auf dem weltweiten Kampfplatz zwischen Gott und seinen Engeln auf der einen und dem Teufel mit seinem Gefolge auf der anderen Seite. Verantwortlich für den Zustand eines Menschen ist der Einfluss, den göttliche bzw. dämonische Mächte auf ihn ausüben. Sünde und Krankheit gehen auf die geistlichen Abhängigkeiten eines Menschen zurück. Da der Heilige Geist auf übernatürliche Weise hilft, braucht der charismatische Seelsorger keine ausführlichen Gespräche, in denen Problemursachen aufgedeckt und beseitigt werden sollen.

1.3.1. Innere Heilung

Zur spezifisch charismatischen Seelsorge gehört das Angebot der inneren Heilung. Das Konzept geht auf Agnes Sanfords Heilung der Erinnerung zurück. Darin verbindet sie psychoanalytische Elemente C.G.Jungs mit dem Gebet um Heilung. Seele und Gefühle sollen von Bindungen befreit werden, die durch Erfahrungen in der Vergangenheit hervorgerufen wurden. Im Einklang mit der Psychoanalyse wird davon ausgegangen, dass diese Erfahrungen im Unterbewusstsein für Gefühls- und Verhaltensstörungen, für schmerzliche Erinnerungen und schädliche Denkmuster verantwortlich sind. Die innere Heilung umfasst drei Phasen: 1. Bewusstmachung der Erinnerung einschließlich aller dazugehörigen Gefühle, 2. Heilungsgebet, 3. Ablegen alter Verhaltens- und Denkmuster, sowie Einüben neuer Gewohnheiten. In der ersten Phase sollen Literatur und Vorträge zur Selbsterkenntnis innerer Verletzungen beitragen. John Wimber unterscheidet drei Formen innerer Verletzungen: 1. Verletzungen durch den unheilen Zustand der Welt, 2. Verletzungen durch Mitmenschen, 3. selbstverschuldete Wunden. Mit dem sich anschließenden Heilungsgebet soll die Gegenwart Jesu Christi im Heiligen Geist bewirkt werden. Der Hilfesuchende soll sich in die Situation versetzen, in der das traumatische Erlebnis stattfand. Unterstützt von seinem Seelsorger soll sich der Betroffene nun bildlich vorstellen, dass Jesus anstelle der damals beteiligten Menschen positiv reagiert und damit den Ausgangspunkt der psychischen Probleme verändert. Z.B. stellt sich der Betroffene Jesus vor, der Kinder auf seinen Schoß nimmt, damit er die Erfahrung der Ablehnung während der Kindheit überwindet. Es soll sozusagen die negative Erfahrung der Vergangenheit durch eine positive ersetzt werden. Van Dam: „Wir bitten den Herrn, der uns vom Lebensanfang gekannt und geliebt hat, in die Vergangenheit des Verwundeten zurückzugehen, um dort Gottes heilende Liebe einströmen zu lassen.”23 Der Mensch soll sich selber loslassen und auch gefühlsmäßig in Gott ruhen. Nur dann sei er in der Lage Hass, Groll, Bitterkeit usw. zuzugeben und denen zu vergeben, die diese Verletzungen mitverursacht haben. Währenddessen signalisiert der Seelsorger durch Handauflegung oder Umarmung menschliche und körperliche Nähe. In der dritten Phase soll der Hilfesuchende in der Begleitung des Seelsorgers alte Denk- und Verhaltensweisen überwinden und neue einüben.

Im Hintergrund dieser inneren Heilung sehen charismatische Seelsorger das Wirken des Heiligen Geistes. Mit Bibelversen wie Joh 16,13: „Wenn aber jener, der Geist der Wahrheit, kommen wird, wird er euch in alle Wahrheit leiten” (vgl. Röm 8,27) wird begründet, dass der Heilige Geist die Wahrheit über verborgene, verdrängte oder verzerrte Probleme im Inneren des Menschen offenbart. Der im Heiligen Geist anwesende Jesus Christus soll nun die Verletzungen der Vergangenheit heilen. „Wir bitten ihn, das kleine Kind bzw. den Jugendlichen zu heilen, der diese Erfahrung durchlebte - jene Dinge … durch die er in diesem Wachstumsstadium steckenblieb.”24 Die so geheilte Erinnerung soll dazu beitragen, auch die daraus resultierenden Emotionen und Verhaltensweisen zu verändern. Anstelle der destruktiven Gefühle bewirkt der Heilige Geist in ihm Liebe, Frieden und Freude.

Zu Recht betont das Konzept der inneren Heilung die Bedeutung der Vergangenheit für den Zustand jedes Menschen. Schlechte Erfahrungen, falsche Erwartungen oder mangelnde Vergebungsbereitschaft verhärten und belasten den Hilfesuchenden. Durch den Seelsorger kann der Heilige Geist hier ein sinnvolles Umdenken bewirken. Nicht ganz unproblematisch ist die einseitige Konzentration auf Gott als liebendes, vergebendes Gegenüber. Gottes strafende Seite oder die Schuld des Patienten gerät dabei leicht in Vergessenheit. Auch die Gleichsetzung von innerer Heilung und Vergebung entspricht nicht der Realität. Wird dem Verursacher psychischer Probleme vergeben, ist noch keinesfalls gesichert, dass dann auch die gefühlten Verletzungen und die daraus resultierenden Verhaltensweisen verändert werden. Bedacht werden sollte auch die recht unkritische Übernahme psychoanalytischer Konzepte des Unterbewusstseins und der Heilung durch Rückerinnerung. Vor einer übermäßigen Suche nach Ursachen für die gegenwärtige Lebenslage in der Vergangenheit wird in der Bibel gelegentlich gewarnt (Lk 9,62; Phil 3,13). Allzuleicht kann hier eigenes Versagen Personen aus der Vergangenheit zugeschoben werden, um von eigenen Schwächen abzusehen. Auch gerät die biblische Orientierung an der geistlich zu erstrebenden Zukunft in den Hintergrund. Die biblischen Autoren hingegen heben dieses aktive Streben des Christen nach Veränderung deutlich hervor (Mk 9,47; Röm 12,1f; 1Kor 6,9-11). Die hier geforderte Veränderung aber ist unabhängig von innerer Heilung und beruht in der grundsätzlichen Erneuerung des Menschen in seiner Begegnung mit Gott (Röm 6,4; 2Kor 5,17). Die Methodisierung und Instrumentalisierung der unverfügbaren Wirkung des Heiligen Geistes ist ebenfalls problematisch. Dem Geist Gottes wird kaum Möglichkeit eingeräumt, vergangene Verletzungen nicht aufzudecken oder nicht positiv zu neutralisieren. Andere mögliche Ursprünge falschen Verhaltens und schmerzhafter Erfahrungen bleiben weitgehend unberücksichtigt. Unzulässig methodengläubig wird gelegentlich empfohlen, das Wirken des Geistes durch Lobpreis und Zungenrede zu beschleunigen. Die starke Betonung des Heiligen Geistes in der Arbeit des Seelsorgers kann diesen dazu verführen, die verstandesmäßige Analyse der Problemlage zu vernachlässigen. Bei dem Patienten kann die Hervorhebung der Wirkung des Heiligen Geistes durch den Seelsorger dazu führen, diesen als quasi göttliche, unhinterfragbare Instanz zu betrachten und zu übersehen, dass jede Seelsorge auch menschliche Aspekte beinhaltet.25

1.3.2. Dienst der Befreiung

Charismatische Theologen rechnen nicht nur mit der Realität des Bösen, für sie sind dämonische Einflüsse im Alltag ein weitverbreitetes Phänomen. Die Vertreibung unsauberer Geister gehört für sie zum Routineprogramm. Sünde, psychische Erkrankungen oder unheilbare körperliche Leiden könnten in charismatischer Sicht auf dämonischen Einfluss hinweisen. Der Befreiungsdienst besteht darin, den bösen Geist direkt anzusprechen, um ihn identifizieren zu können und ihm dann im Namen Jesu zu befehlen zu verschwinden. Dazu sei prinzipiell jeder Christ in der Lage. Zum Befreiungsdienst kann auch die Beichte des Betroffenen gehören und sein aktives Mitwirken durch die Anrufung Jesu, das Einatmen des Heiligen Geistes oder das Aushusten des bösen Geistes.26 Um sich vor geistlichen und physischen Angriffen der Geister besser schützen zu können wird empfohlen, Befreiungsdienste im Team vorzunehmen. In schweren Fällen muss die Dämonenaustreibung wiederholt und der Betroffene dauerhaft von seiner Gemeinde betreut werden. Zweifellos kennt das Neue Testament Dämonen, Besessenheit (Mt 4,24; 8,16), dämonisch verursachte Krankheit (Mt 9,33; 17,18) und Aktivitäten des Teufels (Mt 4,1; Jak 4,7; 1Petr 5,8). Beim Befreiungsdienst aber wird die Bedeutung dämonischer Kräfte ungerechtfertigt hervorgehoben. Im Mittelpunkt steht nicht so sehr die grundsätzliche Überwindung des Bösen durch Jesus Christus, sondern die noch andauernde Auseinandersetzung des Christen mit Dämonen. Esoterisch- dualistisch wird die Erde zum Schauplatz alltäglicher Kämpfe zwischen Gott und Teufel, in die der Gläubige eingreifen kann. Der Christ wird zum Spielball des Teufels. Alle Krankheiten, Verfehlungen oder Auseinandersetzungen können auf den Einfluss von Dämonen zurückgehen. Für die seelsorgerliche Praxis folgt daraus, dass alle Menschen dämonisch belastet sind und ständig Befreiungsdienst benötigen. Im Gegensatz dazu sollen die Dämonenaustreibungen Jesu vor allem seine Messianität unterstreichen (Joh 2,23; 3,2; 7,31). Einen Routineauftrag zur Dämonenaustreibung bekommen die Jünger nicht, auch wenn vereinzelt durch die Apostel Menschen von dämonischen Bindungen befreit wurden (Mk 16,17; Apg 5,16; 16,16f). Im Dienst der frühchristlichen Gemeinde spielten Dämonenaustreibungen nur eine untergeordnete Rolle. Im Umfeld der Apostel ist die dämonische Belastung eines Menschen zumeist offensichtlich. Nie werden diese aufgefordert, sich mit den Geistern zu unterhalten. Es findet sich kein klarer Hinweis, dass auch Christen besessen sein können (Mt 12,43ff; Röm 8,38f; 1Kor 3,16). Sünde, Krankheit und äußeres Leiden werden im Allgemeinen nicht auf dämonischen Einfluss zurückgeführt. In solchen Fällen werden Reue, Sündenbekenntnis und Lebensveränderung gefordert (1Kor 6,11; Röm 12,2; 1Joh 1,9), nicht aber die Suche nach dämonischen Belastungen.

 

In der seelsorgerlichen Praxis fehlen in den beschriebenen Fällen häufig die eindeutigen Zeichen dämonischer Besessenheit. Liegt diese nicht vor, kann sie natürlich auch nicht beseitigt werden, sodass der weiter unter seiner Krankheit, Armut usw. Leidende nun in der Gewissheit lebt, von einem bösen Geist besessen zu sein, da dessen mutmaßliche Wirkung immer noch nicht verschwunden ist. Falsche Dämonenaustreibungen führen nicht selten zu gefährlichen menschlichen Bindungen. Der vermeintlich Befreite vertraut dem Dämonenaustreiber vollständig, meint er doch dieser verfüge über außerordentliche geistliche Fähigkeiten. Die Fixierung auf mögliche dämonische Hintergründe kann auch dazu führen ganz reale medizinische, psychische oder logische Ursachen unberücksichtigt zu lassen und dadurch eine mögliche Besserung zu verhindern. Manchmal kann die eingehende Beschäftigung mit dem Teufel auch eine Faszination auslösen, die zu einer echten geistlichen Abhängigkeit führt oder zumindest den Blick für die Größe Gottes mindert. Gelegentlich wird auch die ungesunde Angst gesteigert, im Alltag lauere hinter jeder Ecke ein Dämon, der den Gläubigen anfallen wolle.27

1.3.3. Mittel charismatischer Seelsorge

Die charismatische Seelsorgespezialistin Leanne Payne hebt insbesondere die Bedeutung des Gebets hervor. Durch den von Zungenrede begleiteten Lobpreis soll eine innige Gemeinschaft zwischen Seelsorger und Gott hergestellt werden. In der darauf folgenden Gebetsstille hören alle Beteiligten auf das Reden Gottes durch Bilder und Eindrücke. Weiteres Gebet könne dann auch spontan verwandelnde Kräfte freisetzten. Diese Instrumentalisierung vergißt die Zusage Jesu, ständig in der Nähe seiner Jünger zu sein (Mt 18,20; 28,20) und rückt das Gebet in die Nähe einer mechanischen Methode. Das Gebet als ganzheitliche Aussprache Gott gegenüber tritt hier zurück, ebenso die freie Entscheidung Gottes zu antworten oder zu schweigen.

Charismatische Seelsorger tendieren dazu, ihre Ratschläge in Form göttlicher Zusagen zu geben. Ihre Aussagen verstehen sie als Wort der Erkenntnis (1Kor 12,8; 14,1-4). Die während des Hörens auf innere Stimmen (hörendes Gebet) empfangenen Eindrücke über die Situation des Hilfesuchenden werden diesem als göttliche Mitteilung weitergegeben, gelegentlich sogar in der Propheten- Form: „So spricht der Herr …” Förderlich für derartige Eindrücke soll das Zungenreden sein. Natürlich besteht hier die Gefahr, Ratsuchende unter Druck zu setzten, weil sie den Eindruck haben, mit Gott selbst konfrontiert zu sein. Hören sie nicht auf den Rat des Seelsorgers, wiederstreben sie Gott.

Charismatische Seelsorge bedient sich ferner der Träume und Visionen. Diese können zufällig empfangen oder auch bewusst konstruiert werden, um die negativen Bilder aus der Kindheit durch positive zu ersetzen.28 Solche positiven Bilder sind die Vaterliebe Gottes, Vergebung, totale Annahme, Gesundheit usw. Das hörende Gebet soll helfen, das passende Bild von Gott zu erhalten. Nach einer Phase des Lobpreises hören die Beteiligten innerlich auf eine mögliche Antwort Gottes. Heilende Bilder könnten außerdem durch Meditation über Bibeltexte oder in Träumen auftauchen. Diese Suche nach inneren Bildern hat eine große Ähnlichkeit mit der buddhistisch- esoterischen Praxis der Traumreisen in der bewusst erzeugte geistige Bilder zur inneren Entspannung eingesetzt werden. Berichte von Träumen und Visionen finden sich sowohl im Alten als auch im Neuen Testament. Besonders gehäuft spricht Gott während der Geburtsgeschichte Jesu zu den Menschen. Ein Engel mahnt Joseph im Traum seine schwangere Verlobte Maria nicht zu verstoßen (Mt 1,20ff). Die Weisen werden im Traum gewarnt nicht zu Herodes zurückzukehren (Mt 2,12). Joseph wird durch einen Traum aufgefordert nach Ägypten zu fliehen (Mt 2,13; 2,19f). Petrus wird durch eine Vision auf die Begegnung mit Kornelius vorbereitet (Apg 10). Paulus wird in einer Vision motiviert, seine Missionsarbeit in Mazedonien fortzuführen (Apg 16,9f). Der größte Teil der Offenbarung beruht auf einer Vision des Johannes, dem Gott Einzelheiten seines zukünftigen Handelns mitteilt. Im Gegensatz zu charismatischen Visionen zeichnen sich die biblischen allerdings durch relativ große Eindeutigkeit aus. Auch treten sie nur auf Initiative Gottes, nicht aber im Rahmen menschlicher Methoden auf. Die Empfänger können recht schnell zwischen ihren eigenen Träumen und Gedanken auf der einen und dem Reden Gottes auf der anderen Seite unterscheiden. Besonders im Alten Testament wird immer wieder vor falschen Propheten gewarnt, die mit ihren als göttlich ausgegebenen Träumen das Volk verführen (Jer 23,25ff; 29,8ff). Dabei setzen auch sie geistige Bilder und Allegorien ein, um Israel zu manipulieren. In der charismatischen Seelsorge wird gewöhnlich nur unzureichend zwischen menschlichen und göttlichen Visionen und Träumen unterschieden. Darüberhinaus wird zu wenig die Deutungsbedürftigkeit solcher Bilder und damit ihre Subjektivität beachtet.

Durch Kathryn Kuhlmann, Kim Collins und John Wimber fand das Ruhen im Geist Eingang in die charismatische Seelsorge. Zumeist werden die vorbereiteten Teilnehmer einer charismatischen Veranstaltung angeblasen oder am Kopf berührt. Daraufhin fallen sie hinten über und werden von bereitstehenden Helfern auf den Boden gelegt. In diesem Zustand körperlichen Entspannung erleben sie, eigenen Aussagen zufolge, ein neues Offensein für Gott, eine neue Intensität des Glaubens als Vertrauen zu Jesus, eine wachsende Freude zum Gebet oder zum Bibellesen, die Heilung seelischer Wunden, Berufungen und Wegweisungen für die Lebensplanung oder Sündenerkenntnis, die zur Buße führt. Charismatiker interpretieren diese Erfahrung als Frucht des Heiligen Geistes (Gal 5,22) und als Vorwegnahme des himmlischen Friedens. Allerdings wird das Ruhen im Geist nicht selten missverstanden als höhere Glaubensstufe oder als Flucht aus dem anstrengenden Alltag. Dieses auch in außerchristlichen Großveranstaltungen zu beobachtende Phänomen ist besonders anfällig für Manipulation und Massensuggestion.29 Der biblische Bezug fehlt beim Ruhen im Geist vollkommen, obwohl es natürlich situationsunabhängige Aussagen über das Ruhen in Christus gibt (Mt 11,29; 2Kor 2,13; 1Petr 4,14), die mit diesem Phänomen aber nicht vergleichbar sind. Am ehesten könnte man ein solches Ruhen im Geist als autogenes Training mit christlichem Anstrich bezeichnen.

Durch charismatische Kongresse wurde auch das Lachen im Geist als Mittel der Seelsorge bekannt. Menschen brechen beglückt von der Erfahrung der Vergebung, Befreiung oder Heilung in unkontrolliertes Lachen aus.30 Das Lachen im Geist gibt Charismatikern die Möglichkeit, sich im vertrauten Rahmen Gleichgesinnter einfach emotional fallenzulassen, alle Hemmungen zu vernachlässigen. Ähnlich wie in anderen esoterischen Praktiken (Urschrei- Therapie, freie Sexualität) soll die Möglichkeit gegeben werden, jenseits persönlicher und gesellschaftlicher Schranken Gefühle exzessiv ausdrücken zu können. Psychologisch mag das sinnvoll sein, biblisch begründen lässt sich diese Praxis nicht. Auch lässt sich kein positiver Nachweis führen, dass dies heilige Lachen tatsächlich auf Gottes Initiative zurückgeht. Manche Charismatiker wollen darin eine Frucht des Geistes (Gal 5,22) sehen oder eine Vorwegnahme der endzeitlichen Freude.

Charismatische Seelsorge bedient sich ferner des Segnens, körperlich vermittelt durch Handauflegung oder Salbung. Nach dem Alten Testament ist das Segnen nicht nur in Israel, sondern auch in den angerenzenden Ländern ein weit verbreitetes Phänomen. Gott erweist sich Israel als der einzige und wahre Ursprung allen Segens. Dieser kann sich in hohem Lebensalter, zahlreicher Nachkommenschaft, Landbesitz, Reichtum und bleibendem Andenken niederschlagen. Auch im Neuen Testament gibt es neben dem geistlichen einen handfesten, materiellen Segen den Gott seinen Kindern zusagt (Lk 18,28ff). Alle Sorgen um die Dinge des Alltags sollen nicht einfach vergessen, sondern Gott abgegeben werden, der dem Gläubigen gibt, was er benötigt (Mt 6,25-32; 7,7-11; Jak 1,17). Allerdings erschöpft sich Gottes Segen nicht in dieser materiellen Versorgung (Mk 13,11; Eph 1,3ff). Vor allem aber gibt es keinen Automatismus. Über Wohlergehen, Gesundheit, Reichtum usw. verfügen nicht alle Gläubigen, gleichzeitig fragen sich diese: Warum geht es den Gottlosen so gut?” (Ps 73,2f; 16f). Charismatische Segenshandlungen erwecken gelegentlich den Eindruck das menschlich Gewünschte herbeizwingen zu wollen, ohne zu berücksichtigen, dass Gott seinen Kindern auch Leid, Krankheit und Armut zumutet (Mt 5,1-12; 6,19ff; Joh 15,20; 2Kor 11,16-28). Darüberhinaus ist der charismatische Segen häufig zu individualistisch und übersieht das globale und heilsgeschichtliche Segnen Gottes über Völker und Zeiten hinweg (1Mo 1,28; 8,21ff; 12,1-3; 2Sam 7,11-13; Jes 55,3; Apg 3,26). Gottes Segen umfasst ganze Generationen (5Mo 7,9), die Frommen und die weniger Frommen (Mt 5,45; Lk 6,35). Segnen war in biblischem Zusammenhang mehr als eine Bitte um Alltägliches. Häufig fand eine Segnung an wichtigen politische, persönlichen oder geistlichen Wegscheiden statt (1Mo 12,1f; 27; 49; 4Mo 6,22ff; 5Mo 30; Jos 8,33f; Lk 1,42).31

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass charismatische Seelsorge insbesondere das übernatürliche Wirken Gottes im Blick hat. Das ist Stärke und Schwäche zugleich. Einerseits berücksichtigt es das übernatürliche Eingreifen Gottes in den Problemen des Ratsuchenden. Andererseits werden hier häufig die menschlichen Möglichkeiten (Gesprächsführung, psychologische Analyse, praktische Hilfe usw.) und die direkte Anwendung des Wortes Gottes vernachlässigt. Bei der besonderen Betonung der Emotionen (Eindrücke, hörendes Gebet, Bilder, Segnung usw.) wird häufig deren notwendige Kontrolle und Korrektur zu wenig berücksichtigt. Bleibt die versprochene übernatürliche Hilfe in der erhofften Form aus, erzeugt diese Art charismatischer Seelsorge neue praktische und geistliche Probleme (Enttäuschung, Vorwürfe an Gott, Suchen nach nicht vorhandenen Dämonen usw.). Geistliche Befreiungskämpfe vernachlässigen immer wieder die menschliche Verantwortung des Ratsuchenden (Sünde, falsche Denk- und Verhaltensweisen) und die Vergebung der Schuld durch Jesus Christus, die immer im Zentrum der Seelsorge stehen sollte. Der Einfluss übernatürlicher Mächte wird in der charismatischen Seelsorge deutlich überbewertet.

1.4. Power Evangelism: Geistliche Kampfführung und Jesusmärsche Relativ unbestritten ist unter Christen die Überzeugung, dass Gott auch heute noch Wunder wirkt. Unterschiedlich bewertet wird zumeist der Stellenwert dieser Zeichen und der Weg auf dem sie erreicht werden. Die Einen halten das Eingreifen Gottes für möglich, sind aber auch bereit, den normalen Verlauf von Krankheiten oder anderen Leiden zu akzeptieren. Darüber hinaus ist ihr Vertrauen auf Gott nicht unmittelbar von erlebten Wundern abhängig. Die Anderen meinen, Wunder und Zeichen gehörten zum Alltag christlichen Lebens. Sie sehen im spektakulären Eingreifen Gottes einen notwendigen Beleg für die Wahrheit des christlichen Glaubens. Durch erlernbare geistliche Strategien könnte der Christ Dämonen vertreiben, Orte freibeten und Krankheiten beseitigen, sofern er nur genügend Glauben aufbringe.

Wundersuchende Christen stehen allerdings in der Gefahr, ganz gewöhnliche Ereignisse zu vergeistigen und damit zum Wunder zu erklären. Es sind durchaus auch Fälle bekannt geworden, wo versucht wurde, das erwartete Wunder durch den Einsatz unlauterer Mittel selbst zu erzeugen oder zumindest zu beschleunigen. Außerdem sollte immer damit gerechnet werden, dass übernatürliche Phänomene auch durch dämonische Einflüsse verursacht werden können (Mt 24,24; Apg 8,9; Offb 13,14). Wunder müssen gedeutet werden, weil an dem Zeichen selbst normalerweise nicht ersichtlich ist aus welcher Kraft es geschehen ist und was es vermitteln soll. Sogar die Wunder Jesu wurden in seiner Zeit von Zuschauern auf die Wirksamkeit von Dämonen zurückgeführt (Mt 12,24f). Generell sollten Zeichen hinter eindeutigen geistlichen Inhalten zurücktreten (vgl. Mt 20ff; 21,23ff; Lk 10,19f; Joh 5,16; 6,26), da sie zumeist nur zeitlich beschränkt sind und sich lediglich auf das äußerlich Sichtbare beziehen. Über den Wahrheitsgehalt einer geistlichen Aussage sagt das, diese begleitende Wunder nichts.