Siebenreich - Die letzten Scherben

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Из серии: Siebenreich #1
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Kapitel 4. Königstein

1.

Über die Herberge waren beide nicht gerade glücklich. Obwohl der Gasthof den Schläfern Strohsäcke geboten hatte anstatt nur einer Strohschütte wie auf dem Land, hatten sie die Nacht mit Grübeleien, unbequem und unruhig verbracht. Zu viele Zecher waren die knarrende Stiege in die Nischen mit je vier bis sechs Schlafplätzen hinauf getrampelt, einige lallend oder schräg singend. Alle paar Augenblicke, so kam es ihnen vor, war einer über sie hinweg gestiegen, um erfolglos zwischen ihnen und der Wand einen Platz zu ergattern.

Auch das Frühstück war keineswegs geeignet, ihre Laune zu heben. Brot wurde reichlich gereicht, das war aber auch alles. Butter gab es keine, der Käse war knapp bemessen, und der kalte Braten war schon alle, als sie den Speisesaal betraten. Sie hatten die Zeit für ihre Körperpflege genutzt, während die anderen Gäste schon in der Wirtsstube saßen. In einer nicht einsehbaren Ecke des Hofes hatten sie den mit klarem Wasser gefüllten Trog für sich allein gehabt.

Wenigstens war es Mike gelungen, in die Küche zu schleichen und unbemerkt aus einem Fass Ecke zwei Krüge Apfelwein zu zapfen. Die anderen Gäste hatten Wasser oder einen Kräutersud vorgesetzt bekommen.

»Sag mal, was hast du eigentlich gearbeitet, bevor du hierher kamst?« lenkte er das Gespräch auf ein ganz bestimmtes Thema.

Julia zuckte zusammen. Ihren Becher hatte sie in der Hand gehalten, nun zierte übergeschwappter Apfelwein die Tischplatte vor ihr. Dieses Gespräch war es, wovor sie sich die ganze Zeit gefürchtet hatte. Er wollte sie abservieren.

Du musst mich nach Freiburg bringen! Einen anderen Gedanken brachte sie kaum zustande. Sie musste sich konzentrieren, um sich nicht an die Wand spielen zu lassen.

»Bürotätigkeit. In einem Handwerksbetrieb, vierzehn Mann, Fensterbau. Was halt für eine Frau so anfällt. Schreiben, Arbeitszettel auswerten, Rechnungen schreiben, Zahlungseingänge überwachen, Urlaubskartei führen. Die Lohnbuchhaltung war ausgelagert, und die wirklich interessanten Arbeiten haben die Männer gemacht. Akquise, Auftragsannahme, Disposition, Materialeinkauf. Oft der Chef persönlich, wenn er nicht gerade bei den Monteuren draußen war. An der Front hat er es immer genannt.«

Er spielte an seinem Kinnbart.

»Naja, Bürokräfte suchen sie hier weniger. Vielleicht geht was über deine Hobbies. Außer Bogenschießen.«

»Bogenschießen ist kein Hobby!« Trotzig reckte sie ihm ihr Kinn entgegen. »Es ist eine Lebenseinstellung. Freiheit, Naturliebe, innere Ruhe, Perfektion. Du willst den perfekten Bewegungsablauf, die perfekte Atmung. Du horchst in dich hinein, du ...«

»Sonst noch was?« unterbrach er sie.

»Mmh. Ich hab Schneidern gelernt. Hab´ mir selbst viel genäht.«

»Zuschneiden?«

»Ja.«

»Maße auf Schnittmusterbögen übertragen?«

»Ja.«

»Maß nehmen?«

»Sicher.«

»Herrenkleidung?«

»Auch.«

»Da musst du den Männern beim Maßnehmen aber in den Schritt greifen«, feixte er.

»Blödmann!«

»Dann habe ich was für dich. Hier in Königstein, Oberstadt. Gute Gegend, feiner Kerl, guter Schneider. Der würde dir sogar ein Zimmer geben. Mit Familienanschluss. seine Frau ist auch eine sehr nette. Er sucht jemanden.«

Jetzt heißt es aufpassen! Sie riss sich zusammen. Wenn er sich als Orkjäger anheuern lässt, musst du dir genau merken, wohin. Nachreisen kannst du ihm immer noch. Und dann muss er dich zum magischen Tor bringen. Er will ja sowieso in die Gegend.

Sie schüttelte nur den Kopf, sagte aber nichts, wozu auch? Für ihn war das Thema erledigt, er hatte eine Lösung für sie gefunden und ihr gerade zum zweiten Mal erklärt, dass sie in Königstein bleiben sollte.

Mike strahlte.

»Dann wäre das ja geklärt.«

2.

Nach dem sie die ungastliche Unterkunft verlassen hatten, fragten sie sich zu verschiedenen Händlern durch. Julia musste sich ablenken, musste auf andere Gedanken kommen. Ein Ausweg fiele ihr dann schon ein! So interessierte sie sich übertrieben stark für das Geschehen auf dem Markt. Unvermittelt waren sie auf einen der Plätze getreten. Ein paar einzelne Händlerstände hatten ihnen bislang die Sicht versperrt. Bunte Stoffe hingen von Leinen herab, die von Fenster zu Fenster quer über die Gasse gespannt waren. Weitere Gassen gingen vom Marktplatz aus in verschiedene Richtungen ab wie die Fäden eines Spinnennetzes. Julia hatte wunderschöne Stoffe entdeckt, hätte aber keine Gelegenheit gefunden, sich etwas Tragbares zu nähen. Und zu seinem Schneider wollte sie nicht. Außerdem wusste sie, dass ihre lederne Kleidung besser geeignet war für ihr Leben auf der Straße oder in der Natur. Hoffentlich hörte dieses Leben bald auf!

Mike brachte die nötige Geduld auf, drängte sie aber nach einiger Zeit doch weiter.

Königstein schien bei Tageslicht gar nicht so übel. Hier war Leben, die Leute schienen gut gelaunt. Die Architektur gemahnte an die mittelalterlich anmutenden Städte, die Julia vor allem in Bayern gern besucht hatte. Zum Beispiel Landshut, Freising oder Augsburg.

Sie betrachtete die Stadt mit anderen Augen als am Vortag, als sie sich müde von ihrer Wanderung und in sich gekehrt von Mike hatte mitziehen lassen. Die unteren Stadtviertel von Königstein waren geprägt durch Gassen mit groben Steinplatten, die zur Gassenmitte hin geneigt waren. Hier sammelten sich Fäkalien und Unrat. Der Geruch war so streng, dass sich Mike und Julia beeilten, die Örtlichkeit schnellstmöglich zu verlassen. Er hatte sie getröstet, dass sie andernorts von dieser Belästigung verschont blieben, doch musste er sich erst orientieren. Die Häuser standen eng aneinander, nur dann und wann gab es einen Durchgang, gerade breit genug, dass ein Mensch sich durchquetschen konnte. Es waren Fachwerkhäuser, ihre Türen regelmäßig über einer Steinstufe eingelassen, um zu verhindern, dass bei starkem Regen der Unrat ins Haus gespült würde. Die Fenster waren klein, die meisten Scheiben trübe. Nicht alle waren verglast, manche nur mit pergamentartig gegerbten Tierhäuten bespannt. Hier wohnten die armen Leute. Dennoch machte alles einen besseren Eindruck als die Häuser vor dem Stadttor, die Julia bei ihrer Ankunft durch einen Schleier aus Müdigkeit gesehen hatte und an die sie sich nun doch erinnerte. Sie hatten dort ihren Weg durch ein oder zwei Gassen nehmen müssen, deren Grund aus festgetretener Erde bestand. Sie waren dankbar gewesen für das trockene Wetter, andernfalls wären ihnen Schlamm und Unrat in ihre knöchelhohen Schuhe gelaufen. Die Häuser da draußen hatten ausgesehen, als hätte man jedes Material verbaut, dessen man habhaft werden konnte. Im Gegensatz zu den geraden, vom Zimmermann behauenen Fachwerkbalken hier schienen vor der Stadtmauer oft genug Knüppel und krumme Äste den Grundstock zu bilden. Auch der Luxus der Stufe unterhalb der Türe hatte dort gefehlt. Die Fenster waren deutlich kleiner gewesen, oftmals nur Löcher in der Wand, notdürftig verschlossen mit einem papierdünnen Leder oder einer aufgeschnittenen Schweinsblase.

Schon um diese frühe Stunde waren zahlreiche Menschen unterwegs. Sie schienen aus allen Schichten zu stammen. Viele Männer waren offensichtlich Handwerker, ihr Werkzeug trugen sie in hölzernen Kästen an der Hand oder in Körben, die sie mit einem Riemen über die Schulter gehängt hatten. Auch einige Bauern waren zu erkennen, vielleicht waren es aber auch nur die Knechte. Mägde sah man indes häufiger oder auch Dienstmädchen, die von ihren Herrschaften in die Unterstadt auf die Märkte geschickt worden waren, um hier Obst und Gemüse zu kaufen. Manches schaffte seinen Weg den Hügel hinauf in die besseren Viertel nicht, weil die Bauern die Mühe scheuten, ihre Ware bis dorthin zu schleppen. Die meisten Menschen trugen einfache Kleidung, braune oder graue Farbtöne herrschten vor. Es fehlte ein farbenfrohes Wams hier und da, das das lebhafte Treiben fröhlicher gemacht hätte. Ein jeder ginge mit irgendeiner seelischen Last oder Trübsal einer ihm gegen seinen Willen verordneten Arbeit nach, so war Julias Eindruck.

Was sie auch nicht entdeckte, waren gut gekleidete, reichere Kaufleute. Diese hielten sich eher in der Oberstadt auf, wo sie ihre Geschäfte und Kontore hatten. Hierher begaben sie sich selten, etwa, wenn sie zu ihren Handelsreisen sich zum Stadttor aufmachten. Im Gegensatz dazu sah man ihre Frauen auch in der Unterstadt öfter. Nicht selten stammten sie von hier, waren wegen ihrer natürlichen Schönheit von hier weggeheiratet worden und kamen nun häufig zurück, um ihre Familien zu besuchen. Auch ihre sicherlich teure Kleidung war in gedeckten Farben gehalten, der gerade herrschenden Mode entsprechend vorzugsweise in mattem Grün und in Brauntönen.

Mike hatte sich erinnert und einen Weg aus dem Gewirr der übel riechenden Gässchen gefunden. Er und Julia stemmten sich nun auf der ordentlich gepflasterten Hauptgasse der Oberstadt entgegen. Sie reihten sich in die Schar der Markthändler ein, die ihre Waren auf zweirädrigen Karren bergauf schoben, um sie dort an ihren Ständen feilzubieten, oder die ihr Gut in Säcken auf dem Rücken schleppten. Sie entdeckten Töpferwaren, Stoffe, Obst und Gemüse. Selten waren metallene Gegenstände dabei, und wenn, dann waren es zumeist Messer, Scheren und Pfannen. Kunstschmiede stellten ihr Geschmeide, kleinere Waffen und Zierstücke in ihren Werkstätten in der Oberstadt her. Ihr Rohmaterial ließen sie sich von Knechten bringen, wenn die Gassen weniger bevölkert waren. Dann kamen sie schneller vorwärts.

 

Julia konnte sich an dem Trubel nicht sattsehen.

3.

Ihr Weg führte sie an Läden vorbei und über weitere kleine Marktplätze. Mike ging voran, er hielt sich immer hügelaufwärts. Richtung Burg, wie Julia einmal bemerken konnte, als sie einen kleinen Platz erreichten. Vor ihnen stand der einzige Baum, den sie bis jetzt innerhalb der Stadtmauern gesehen hatten. Der Platz wurde an einer Seite nicht von Häusern, sondern von einer hüfthohen Mauer begrenzt. Sie setzten sich auf die Kante und sahen im Dunst des Vormittags eine weite Ebene unter sich ausgebreitet. Sie saßen wohl gut fünfzig Meter darüber. Die Burganlage lag linker Hand über ihnen, bis dorthin hätten sie noch einmal die gleiche Höhe zu überwinden gehabt. Ihre Turmspitzen lugten zwischen Giebeln hervor.

»Sag mal, Bogenschießen …« Seine gedehnte Sprechweise zeugte davon, dass er noch nicht wusste, wie er seine Gedanken in Worte kleiden sollte.

Sie erinnerte sich, dass sie vor einer Weile an der Werkstatt eines Bogners vorbeigekommen waren und einen Blick ins Innere werfen konnten. Nun erst fiel ihr auf, dass er seitdem kein Wort mehr gesagt hatte.

»Ja?«

»Wie lange brauchst du, mir das beizubringen?«

Julia setzte sich gerade hin, straffte ihre Schultern. Sie witterte ihre Chance. Wenn er sie und ihre Fertigkeit überhaupt brauchte, dann umso dringender, je länger das Beibringen dauerte. Vielleicht sogar den ganzen Weg bis zum magischen Tor!

»Ein paar Wochen.« Sie hoffte, dass er ihr Rotwerden nicht bemerkte. Sie hatte mit Absicht gelogen. »Du musst die Körperhaltung lernen, die Atemtechnik und den Bewegungsablauf. Wenn dir alles in Fleisch und Blut übergegangen bist, darfst du zielen üben. Außerdem brauchst du eine ordentliche Ausrüstung. Die können wir zusammen …« Sie brach ab. Der Zweifel in seinem Blick war ihr aufgefallen. »Warum?“ fuhr sie übertrieben langsam fort. Sie wollte unbefangen klingen und brauchte ein Alibi. Vielleicht war sie gerade dabei, ihn mit ihrer wahren Absicht zu verschrecken.

»Einfach gesagt, Bogenschießen kann für mich eine Lebensversicherung darstellen. Die Orkjagd mag mir eine solche Fähigkeit abverlangen. Aber ich habe keine Zeit, wochenlang hier ´rumzuhängen.«

»Dann nimm mich mit!«

Er versank wieder in Grübeleien. Nach einer geraumen Weile sah er zu ihr auf. »Du willst nicht hierbleiben?«

Sie schüttelte energisch den Kopf.

»Vor allem nicht allein!«

»Und wenn ich …« Mitten im Satz brach er ab. »Einverstanden. Du kommst mit, unterrichtest mich im Umgang mit Pfeil und Bogen. Ich bringe dir bei, was ich über Land und Leute weiß, und was du brauchst, um über die Runden zu kommen. Dann sehen wir weiter.«

Innerlich jauchzte Julia, sie fühlte einen Zwang aufzuspringen. Am liebsten hätte sie ihn umarmt. Sie zuckte aber zurück und zwang sich, gelassen zu scheinen, sie durfte sich nicht gehen lassen. Sie ließ sich zurückfallen auf die Mauer. Immer noch bestand die Gefahr, dass er seine Meinung änderte oder ihr den Weg zum magischen Tor doch nicht zeigte. Sie war froh, dass er gleich darauf aufstand und ihr die Hand reichte, damit sie leichter von der Mauer rutschen konnte, und sie ihren Weg fortsetzten. Unterwegs war er beschäftigt und würde seine Zusage zumindest nicht sofort zurückziehen.

4.

Irgendwann hatten sie das Haus gefunden, zu dem Mike sich durchgefragt hatte. Sie betraten es durch eine quer geteilte grasgrüne Tür. Die obere Hälfte war innen an die Wand gelehnt, die untere durch einen Riegel gesichert, der in einer Öse im Rahmen eingehakt war. Mike löste den Riegel, drückte die Tür auf, und sie traten in einen halbdunklen Raum, leer bis auf einen Tresen, der sich quer vor ihnen von Wand zu Wand streckte und den Raum halbierte. Unschlüssig standen beide vor der Barriere.

Mike fragte sich, was er nun in diesem Laden kaufen könnte. Nach Geschäft sah das Ganze gar nicht aus. Zum Grübeln blieb jedoch keine Zeit. Der Inhaber hatte die beiden bemerkt, trat scheinbar aus der Wand heraus und richtete sich hinter dem Tresen auf.

Erst jetzt stellten Mike und Julia fest, dass die ganze Wand ihnen gegenüber aus einer Art Vorhang bestand, dessen schweres Gewebe glatt und unbeweglich herabgehangen hatte.

Ihr Gegenüber war hager, im fortgeschrittenen Alter und mit einer langärmeligen Kutte aus einem locker fallenden Stoff bekleidet. In senkrechten Streifen liefen fast alle Regenbogenfarben nebeneinander her, an den Rändern flossen sie ineinander, das Glitzern ließ vermuten, dass auch Metallfäden eingewebt waren. In einem hageren Gesicht mit feinen Zügen lugten tiefliegende, kleine Augen hinter einer zu großen Nase hervor und strahlten in einem kräftigen Grün. Die Stirn lag in Falten, die sich dauerhaft eingegraben hatten. Graues, schulterlanges Haar und ein nur wenig kürzerer Ziegenbart vollendeten das gewöhnungsbedürftige Aussehen.

Mit einer auf Kurzatmigkeit hindeutenden und für einen Mann zu hohen Stimme sprach er sie an. Auf einen Gruß verzichtete er.

»Nun sagt schon, was ihr wollt. Ich hab´ meine Zeit nicht gestohlen.«

Auf Julia machte er den Eindruck eines Zauberers aus einem Märchenfilm, nur der spitze Hut und der schwarze Stab mit dem Stern am Ende fehlten. Nachdem sie sich endlich von ihrer Überraschung erholt hatte, brachte sie zur Begrüßung ein schüchternes Kopfnicken in Richtung ihres Zauberers zustande.

Mike hingegen hatte sich sofort gefangen. Seine Antwort war der pittoresken Erscheinung angemessen.

»Etwas Magisches«, hatte er knapp entgegnet.

Ungerührt ließ sich der Alte zu dem Spruch herab, den Julia eher von einem Handwerker erwartet hätte.

»Oh, das wird teuer.«

»Dann zeigt es uns trotzdem, Meister!«

Immer noch wunderte sich Julia über die seltsamen Anreden in diesem Land. Das Du und Dir gab es auch zu Hause, aber an das Ihr und Euch für Einzelpersonen hatte sie sich noch nicht gewöhnt, sie hätte noch gesiezt. Und dass Meister eine respektvolle Anrede war, mit der man selten etwas verkehrt machte, verleitete sie zu einem Schmunzeln.

Mike hatte die dargebotene Hand des Zauberers gedrückt und sie beide mit Namen vorgestellt und kurz den Zweck ihrer Nachfrage erläutert. So erfuhren sie, dass der Alte auf den Namen Manfried hörte.

Manfried öffnete eine unsichtbare Klappe in der Tresenplatte. Scharniere und die Schlitze waren verdeckt ins Holz eingelassen. Er hob ein Stück des Wandbehangs zur Seite und winkte die beiden durch die Lücke.

Im Raum, den sie nun betraten, standen vier hohe Hocker aufgereiht vor einem weiteren Tresen. Der ließ eher den Gedanken an eine Bar als an einen Verkaufsraum aufkommen. Ein Regal aus schwarzem Holz füllte die hintere Wand zur Gänze. Auf den Regalböden fand sich ein wildes Durcheinander von Säckchen, Körben, Schachteln und Kistchen in unterschiedlichen Größen, einige mit bunten Stoffen bespannt. Dazwischen lagen kleinere Waffen und Gegenstände, auf die Julia sich keinen Reim machen konnte. Sie schielte zu Mike, der nicht verwundert schien. Aus seinem Blick sprach eher technisches Interesse.

»Was genau?« fragte der Alte und schien über die Antwort »Einen Ring, der unsichtbar macht.« nicht im Geringsten überrascht. Er wies den beiden mit einer knappen Handbewegung Platz auf zwei der Hocker zu und ließ den Vorhang fallen, bevor er an ihnen vorbei hinter den Tresen schlurfte.

Julia war über die Forderung ihres Begleiters sprachlos. Mit aufgerissenen Augen sah sie ihn ungläubig an.

»Hier drin kann Magie nichts ausrichten außer auf dem Mosaik hinter euch. Also versucht euch gar nicht erst in Raub oder so etwas! Raus kommt ihr ohnehin nur, wenn ich euch lasse.«

Julia schaute schräg hinter ihren Hocker. Erst jetzt bemerkte sie einen Stern innerhalb eines Kreises, grob geschnitzte Intarsien, eingearbeitet in die knarrenden Bohlen des unebenen Fußbodens. Der Durchmesser betrug einen größeren Schritt. Als sie darübergeschritten war, hatte sie ihn nicht gesehen, zu sehr hatte sie ihren Blick auf das Regal mit seinem farbenprächtigen Inhalt gerichtet.

Der Alte drehte sich um und zog ein kleines Säckchen aus dunkelbraunem Samt aus dem Regal. Den Inhalt schüttelte er auf ein Holztablett mit hohem Rand, das er unter dem Tresen hervorgezogen hatte. Julia zählte fünf Ringe in kupferner, silberner und goldener Tönung. Entschlossen zeigte Mike auf einen schlichten Goldring mit einer Verdickung, in die irgendein unscheinbar winziger Halbedelstein ohne jeden Glanz eingelassen war. Sie war verwundert, denn der Ring war ihm viel zu klein!

Manfried hatte jedoch verstanden, griff den Ring mit zwei Fingern vom Tablett und stakste auf Julia zu. Er sah ihr fest in die Augen, und sie konnte nicht anders, als ihm ihre rechte Hand hinzuhalten. Wie unter Hypnose steckte sie ihren Ringfinger in die Öffnung des Schmuckstücks, wobei er streng darauf achtete, dass der blinde Stein auf der Außenseite ihres Fingers lag. Wie schlafwandelnd erhob sie sich und begab sich in die Mitte des Bodenmosaiks. Sie fühlte keinen eigenen Willen mehr.

Mike war ebenfalls aufgestanden und stellte sich ihr gegenüber, blieb aber außerhalb des Kreises. Mit einem Fingerschnippen weckte er sie aus ihrer Trance. Sie schüttelte sich kurz, wie um einen Fluch loszuwerden, und blickte ihn fragend an.

»Du erinnerst dich, als ich vorgestern Mittag kurz vor dem Waldrand verschwand?« fragte er sie. Als sie nickte, fuhr er fort. »Du machst jetzt genau das Gleiche. Dreh den Ring so, dass der Stein auf die Handinnenseite zeigt. Versuchs am besten mit dem Daumen derselben Hand. Dann kannst du die Magie nutzen, ohne dass es vorher jemand bemerkt.«

Ohne recht überzeugt zu sein, drehte sie den Ring wie geheißen. Sie kam sich veralbert vor und fand ihre Einschätzung bestätigt. Nichts passierte. Daran änderte auch die Zufriedenheit nichts, die den beiden Männern ins Gesicht geschrieben stand. Sie strahlten einander an und reichten sich die Hände.

Ein »Ja, und nun?« ertönte aus dem Kreis. Mike, der Julias Verwirrung sofort erkannte, trat dicht an sie heran, bis sie beide im Mosaik standen. Er hielt sie fest, damit sie nicht aus dem Kreis heraustrat. Sie traute ihren Augen nicht. Plötzlich sah sie ihn leicht verschwommen wie eines dieser wabernden Spiegelbilder von nicht vorhandenem Wasser oder Landschaften über dem heißen Asphalt der Landstraßen. Aber die berühmte Fata Morgana von Oasen in der Wüste hast du doch noch nie gesehen, ging es ihr durch den Kopf.

Verstanden hatte sie den Vorgang immer noch nicht. Mike hatte sie mittlerweile aus dem Kreis gezogen.

Indem er ihr nun die geöffnete Hand hinstreckte, forderte Manfried sie wortlos dazu auf, ihm seinen Ring zurückzugeben. Da der ihm eigentlich zu klein war, steckte er ihn an den kleinen Finger und trat auf den Holzstern. Der blinde Stein zeigte nach außen. Er hielt die Hand in ihre Richtung, den Handrücken ihr zugewandt. Er hatte nun ihre Aufmerksamkeit, lächelte, und sie sah, dass er mit dem Daumen den Ring um seinen Finger drehte. Er drehte langsam, aber irgendwann verschwand der Stein eben doch aus ihrem Blick. Und Manfried ebenfalls!

Mike legte ihr den linken Arm um die Schulter und hielt seinerseits die rechte Hand hoch, auf halbe Armlänge vor ihren Augen. Er trug einen ähnlich aussehenden Ring wie den, mit dem ihr Zauberer gerade sein Verschwinden vorgeführt hatte, wobei sie felsenfest überzeugt war, dass es sich dabei um einen Trick handelte. Manfried war mittlerweile wieder sichtbar geworden und überließ Mike seinen Platz auf dem Stern. Dort wiederholte er das Schauspiel, das sie eben miterlebt hatte, mit den gleichen Bewegungen, mit demselben Effekt. Julia war schockiert.

»Magie ist hier Teil der Naturgesetze«, erklärte Mike ihr zum zweiten Mal, »gewöhn’ dich dran und mach’s nochmal!« Damit schob er sie wieder in den Kreis, nahm ihre rechte Hand in seine, schob ihr Manfrieds Ring auf den Finger und drehte ihn. Was ihr beim ersten Mal entgangen war, nahm sie nun wahr: Ihre Umgebung verschwamm leicht, längst aber nicht so stark wie Mike, als sie zusammen auf dem Mosaik gestanden hatten. Mehr überredet als überzeugt drehte sie nun mehrmals selbst den Ring. Stein nach außen, der Raum war klar, Stein nach innen, der Raum verschwamm. Immer wieder. Nach dem fünften oder sechsten Mal strahlte sie, trat aus dem Kreis und setzte sich wieder auf ihren Hocker. Sie atmete tief durch. Sie begann an Magie zu glauben!

 

Den Ring wollte sie behalten! Keiner würde sie mehr begaffen oder anfassen, wenn sie durch eine Menschenmenge hindurch musste oder irgendwohin, wo sie nicht gesehen werden wollte. Und er bewahrte sie auch vor Schlimmerem.

»Aber«, begann sie, zu Mike gewandt, »du hast mich gesehen, als auch du deinen Ring gedreht hattest.«

«Klar. Zwei unsichtbare Ringträger sehen einander, wenn auch etwas undeutlich. So können Gruppen beieinander bleiben, auch wenn sie für andere Wesen nicht sichtbar sind.«

Nicht sichtbar. Für andere Wesen. Jetzt verstand Julia, wie Mike seine Orks anging! Sie wusste nicht, ob sie ihn dafür bewundern oder verachten sollte. Diese Art hinterhältiger Kriegführung erschreckte sie.

»Kommen wir ins Geschäft?« riss der Ladeninhaber sie aus ihren Gedanken, obwohl doch der Kauf schon so gut wie beschlossen war.

»Sagt, wie viel ihr wollt, Meister!«

»Ich hatte ja schon gesagt: Billig gibt es bei mir nicht. Zweihundert Goldstücke.«

Mike zog die Luft durch die Zähne.

»Da war meiner aber billiger. Fünf Minuten Angst.« Er grinste spitzbübisch.

Julia war starr. Einerseits wünschte sie sich den Ring. Er war mehr als Schmuck, er war ein Schutz, der Leben retten konnte. Ihres. Andererseits verstand sie sich selbst nicht, wie sie Mike so etwas zumuten könnte. Offenbar konnte er sich den Kauf nicht leisten. Womit hatte sie es verdient, dass er ihr überhaupt ein solches Geschenk machte? Sie kannten sich erst gut drei Tage! Und was entsprach in ihrer alten Welt einem Preis von zweihundert Goldstücken?

»Ich mache euch einen Vorschlag, Meister Manfried.«

Mike öffnete seinen Tornister und vergrub seinen rechten Arm fast bis zur Schulter darin. Nach kurzem Kramen hielt er ein samtenes Säckchen in der Hand, nicht unähnlich dem, aus dem der Alte Julias Ring geschüttelt hatte.

»Hier ist keiner dabei, der unsichtbar macht, aber vielleicht welche, die ihr brauchen könnt.«

Er leerte das Säckchen auf dem Tresen aus, sorgsam darauf achtend, dass nichts über die Kante zu Boden fiel. Julia zählte elf Ringe von verschiedener Machart und aus unterschiedlichen Materialien. Mike verteilte die Ringe auf eine größere Fläche, so dass jeder einzelne gut betrachtet werden konnte.

Manfried griff aus dem Regal einen etwa fingerlangen dünnen Holzstab, fuhr damit nacheinander in jeden der Ringe und drehte sie mehrfach um ihre eigene Achse. Einige spießte er auf und hielt sich dicht vor seine Augen. Über jeden einzelnen hatte er beide Hände gehalten, die Finger übereinander gelegt und die gewölbten Handflächen nach unten. Dabei hielt er die Augen geschlossen, seine Lippen bewegten sich wie im stummen Selbstgespräch. Schließlich schob er mit dem Stäbchen fünf der Ringe zur Seite, die übrigen sechs ließ er an ihren Plätzen liegen.

»Wollt ihr Gold oder andere Sachen?«

»Das kommt drauf an, was ihr noch zu bieten habt.«

»Rüstung, Waffen, Schmuck, Bücher, Tränke, Reagenzien und tausend Sachen mehr.«

Noch während seiner Aufzählung hatte sich der Alte schulterzuckend umgedreht und einige Dinge vom Regal auf den Tresen befördert.

Hastig steckte Mike die sechs Ringe wieder ein, bevor sie herabgestoßen worden wären.

Julia glitt von ihrem Hocker und bezog schräg hinter Mike Aufstellung, sodass sie alles gut sehen konnte. Amulette, Ringe und Armreifen, Kugeln, Röhrchen und Tiegel. Magische Gegenstände! Manfried öffnete nacheinander Schachteln und Kästchen, Körbe und Säckchen. Mike schüttelte jedes Mal den Kopf und machte keine Anstalten, auch nur einen der Gegenstände aus seinem Behältnis zu nehmen. Julia konnte nicht alles erkennen, ihre Neugier kannte aber keine Grenzen. Nie hatte sie sich träumen lassen, dass es solcherlei Dinge überhaupt gab.

Nun verlegte der Alte sich auf größere Gegenstände. Er breitete Waffen auf dem Tresen aus, die er auf Bretterböden darunter aufbewahrte. Er wickelte Schwerter und Säbel aus schützenden Tüchern, legte Schilde und Helme aus. Mike hatte schon erklärt, dass er nichts Konkretes im Sinn hatte. Ihr Gegenüber ließ sich nicht davon abhalten, ihnen sein gesamtes Sortiment feilzubieten. Julia hatte angefangen, die Gegenstände zu berühren, die Konturen der Waffen mit ihren Fingern und ihrem Handrücken nachzufahren. Als ein aufwändig geschnitzter Bogen aus einem ihr unbekannten weißen Holz auf dem Tresen lag, wurde sie unruhig. Und mutig.

Sie ergriff den Bogen und trat einen Schritt vom Tresen zurück. Der Bogen hatte ein kaum spürbares Gewicht, der Griff war wie für ihre schmalen Hände gemacht. Sie wunderte sich zwar über die scharfen metallenen Enden, hakte aber wortlos die Sehne ein, stellte beide Füße in Schulterbreite parallel, hielt den Bogen senkrecht in der geschlossenen linken Hand, streckte den Arm ganz nach links. Sie legte die vordersten Glieder von Zeige- und Mittelfinger der Rechten etwas unterhalb der Mitte um die Sehne und hob den rechten Ellbogen knapp unter Schulterhöhe. Sie blickte an ihrem linken Arm entlang und zog mit der rechten Hand die Sehne so weit zurück, dass ihre Finger zwischen Wangenknochen und Unterkiefer auflagen, ließ dann die Sehne los. Sie spannte den Bogen mehrmals, entspannte ihn aber sanft.

»Magisch? Was kann der?« fragte sie mit träumerischem Blick.

»Trifft immer. Und der dazu gehörende Köcher wird niemals leer.«

Mike feixte zum gespielten Ärger des Händlers. Der sah ihn übertrieben säuerlich an, konnte aber das Zucken seiner Mundwinkel und des Ziegenbärtchens nicht in Zaum halten.

»Er ist vorgespannt«, wandte er sich an Julia, »das bedeutet, dass ihr ihn mit weniger Kraft als einen normalen Bogen spannen müsst, um genauso weit zu schießen. Etwa halb so viel. Und er erlaubt eine größere Schussweite.«

»So einen habe ich noch nie gesehen. Aus einem Stück wie ein Langbogen, aber die Enden zurückgebogen wie bei einem Recurved. Nur besteht der sonst aus einem Mittelstück und den beiden angeschraubten Wurfarmen.«

Ein Lächeln spielte um Julias Mund. Einer plötzlichen Eingebung folgend trat sie in die Intarsien und spannte den Bogen nochmals. Obwohl sie eine bestimmte Erwartung gehegt hatte, war sie von der Wirkung verblüfft. Mit viel geringerer Anstrengung spannte sie die Sehne auf einmal weiter als vorher.

»Das ist wie bei meinem Compoundbogen«, verglich sie, »aber ich versteh´s nicht.«

»Compound?« Mike wunderte sich.

»Das Highendgerät. Mit Umlenkrollen, damit du weniger Kraft brauchst bei gleichem Zuggewicht. Mit Stabilisatoren vorn und hinten. Mit zwei Füßen, der steht von alleine. Und mit Visier, ein Zielfernrohr ist auch möglich. Das Wichtigste aber: Du zitterst nicht und kannst länger gespannt halten und genauer zielen.«

Sie geriet ins Schwärmen. Sie war in ihrem Element.

Der Effekt überwältigte sie, aber seinen Ursprung konnte sich sie nicht erklären. Die Wirkungsweise der Magie begriff sie immer noch nicht.

»Magie ist so etwas wie das Beherrschen von Energie durch Gedanken und Konzentration. Ich denke, in diesem Bogen ist Energie gespeichert. Hab’ ich Recht?« vergewisserte sich Mike bei Manfried. »Lässt die Kraft nach?« Bevor der Alte antworten konnte, drehte er sich wieder zu Julia. »Sah eben so aus, als könntest du mit dem Ding umgehen.«

Manfried nahm den Faden auf.

»Das mit der Energie stimmt im Großen und Ganzen. Nur ist nicht jedermann in der Lage, Magie anzunehmen und auszuüben. Man muss an sie glauben, sonst erlernt man sie nicht. Offen muss man für sie sein und sich von ihr durchdringen lassen. Zu eurer zweiten Frage: Nein, die Magie hält ewig.«

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