Siebenreich - Die letzten Scherben

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Aus der Reihe: Siebenreich #1
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Sie schmollte, hatte sie doch seinen Sarkasmus nicht verdient.

Nachdem der Lagerplatz außer Sichtweite war, besserte sich seine Laune. Sie ergriff die Gelegenheit, ihn endlich in Ruhe auf sein Verhalten gegenüber den Räubern anzusprechen.

»Vom ersten Moment an waren auch mir die drei nicht geheuer«, erzählte er zufrieden. »Bauern und Handwerker sind nicht so sauber. Und jeder mit regelrechten Schätzen an der Tracht? Ein bestickter Ledergürtel, die Kappe mit einem silbernen Knopf, lederne Armbänder mit bunten Stickereien, ohnehin unpraktisch für die Feldarbeit. Und jeder hat ein Messer, für das ein Landsknecht morden würde. All das passte nicht zu ihrer einfachen Kleidung. Andersrum wird ein Schuh draus! Erst die Klamotte, dann die Accessoires.«

Er hatte sich in Schwung geredet.

»Es war deutlich, dass sie uns ausfragten, während sie wirklich nichts von sich preisgaben. Ihre Beschreibungen waren falsch. Wir sind eine Stunde vom nächsten Dorf weg. Liegt etwa Lohfelden ostwärts von Königstein? Warum erzählen sie uns von Begebenheiten wie von dem Feuer vor ein paar Jahren? Und nach Norden gehen, um den Schatz zu verkaufen? In Königstein wäre der Erlös dreimal so hoch. Und hier gäbe es Heilkräuter, die im Norden nicht wachsen? Kein einziges! Dann der Seiler, der so wenig über seinen Beruf wusste, dass er höchstens mal mit einem Galgenstrick Bekanntschaft machen dürfte! Daher meine Redseligkeit. Ich wollte, dass wir als leichte Beute erscheinen, und sie damit aus der Reserve locken.«

»Das hast du ja geschafft«, stimmte sie zu, »aber was war das für eine Geschichte mit dem Spiegel? Du bist ja voll drauf abgefahren!«

»Eigentlich besser, du weißt nichts davon«, zog er sich wieder in sich zurück.

Sie sah, dass es ihm ernst war, ihre Neugier auch diesmal nicht zu befriedigen. Sie beschloss, auf eine spätere Gelegenheit zu warten. Er war jetzt schon nicht mehr so abweisend wie vorhin, als er den Spiegel an sich genommen hatte.

»Warum hast du diese Halsabschneider so glimpflich davonkommen lassen? Die gehören vor ein Gericht«, unterbrach Julia die aufkommende Stille. »Sie gehören eingesperrt, damit sie nicht nochmal jemanden überfallen. Und als Strafe für ihre früheren Missetaten.«

»Prinzipiell hast du Recht«, pflichtete er ihr bei, »aber Gerichte gibt es nicht in jedem Dorf. Außerdem, denke ich, sind sie gestraft genug. Die Älteren sind verletzt und werden keine Überfälle mehr durchführen. Jeder halbwüchsige Bäckerbursche würde sie so vertrimmen, dass sie nicht mehr wüssten, ob sie Männlein oder Weiblein wären. Auch der Junge hat noch lang genug daran zu knabbern. Die Alten sind Vater und Onkel, er wird sich also um sie kümmern müssen. Das Wichtigste ist aber, dass ich glaube, sie sind Räuber, keine Mörder. Sie wollten uns binden und ausrauben. Sie hätten uns lebend liegengelassen. Gefesselt, während sie sich aus dem Staub gemacht hätten. Hätten sie uns wirklich umbringen wollen, hätten sie mehrmals die Gelegenheit dazu gehabt. Meinen Kampfzauber mal außer Acht gelassen, aber von dem wussten sie ja nichts.«

Das mit dem Kampfzauber war für Julia immer noch ein Märchen, aber dem Rest seiner Bewertung pflichtete sie bei.

Fast schweigend legten sie bis zum frühen Nachmittag noch ein paar Meilen zurück. Seit dem versuchten Überfall wanderten sie Feldwege entlang, nicht mehr nur Furchen durch Steppengras. Sie marschierten zwischen Getreidefeldern, die von häufig genutzten Fahrspuren durchschnitten waren. Sie waren in Richtung auf verschiedene Ziele mit Absicht angelegt worden. Am besten ausgebaut und erhalten war der letzte, der breiteste Weg. Er führte nach Südwesten und schien in der Ferne am Fuße eines bebauten Hügels zu enden: Königstein.

11.

Das Dorf überraschte sie. Hinter einer nicht einsehbaren Waldecke versteckte sich eine Wegekreuzung, der Wegweiser zeigte sich als Bretter, die an einen Baum genagelt waren. Kaum hatten sie die Ortsnamen auf den verwitterten Brettern entziffert und waren um die Ecke gebogen, standen sie schon vor den Palisaden. Das Tor stand offen. Die zwei Kerle, die Wache standen, musterten sie argwöhnisch. Fragen stellten sie aber keine. In ihren Augen wurde Mikes wildes Aussehen anscheinend durch die Begleitung einer Frau ausgeglichen.

Mike wiederum fand an ihnen keine Anzeichen dafür, dass sich die Siedlung in den Händen von Räubern befände. Offenbar hatte der vorgebliche Seiler bei seinem Verhör die Wahrheit gesagt.

Das Dorf beherbergte eine Wirtschaft. Zum Truthahn. Die Mittagszeit war längst vorüber, und die wenigen verbliebenen Gäste sprachen nur noch dem Apfelwein zu oder genossen den nahe der Hauptstadt und weiter im Süden angebauten Wein. Trotzdem bekamen Mike und Julia noch eine reichhaltige Mahlzeit. Die freundliche Wirtin meinte es gut mit ihnen. Sie wies ihnen einen Platz draußen in der Herbstsonne zu an einem kleinen Tisch mit zwei leeren Bänken. Ein roter Ahorn stand seitlich davon, sein Laub nahm ihnen aber nicht die Sonne.

Die Wirtin hatte zwei Mägde beauftragt zu bedienen. Die eine brachte zwei tönerne Schalen, etwas flacher als Halbkugeln, eine gute Handspanne im Durchmesser, dazu zwei Löffel und zwei Becher aus Zinn. Sie verschwand und kehrte kurz darauf mit einem Krug Rotwein und einem Teller voll fingerdicker Scheiben eines hellen Brotes zurück. Während sie alles vor Mike und Julia aufbaute, erschien die zweite Magd mit einem dampfenden Topf, aus dem der Stiel einer Kelle ragte. Sie stellte den Topf zwischen sie und füllte die Schalen bis knapp unter den Rand.

Die Wirtin blieb neben dem Tisch stehen und beaufsichtigte alles.

Erschrocken zuckten Mike und Julia zusammen. Auch die Magd wusste nicht, wie ihr geschah.

»Schamloses Gör!« Die Schelte der Wirtin kam aus heiterem Himmel. »Wie bedienst du meine Gäste? Du bist eine Schande für den Truthahn. Lauf sofort ins Haus und nimm dir ein frisches Fürtuch!«

»Aber Herrin, das Huhn hat noch so geblutet, als ich es ausgenommen …«

Ihre Verteidigung konnte die Magd nur im Ansatz vorbringen. Schon hatte die Wirtin sie am Ohr gepackt und zog sie in gebückter Haltung ins Gasthaus.

»Sofort, hatte ich gesagt!«

Mike kicherte verhalten.

Julia hingegen hatte die Szene sprachlos verfolgt.

»Ein frisches Fürtuch?« Sie war baff.

Er lachte.

»Du solltest Althochdeutsch lernen, zumindest Mittelhochdeutsch. Das Fürtuch, auch Vortuch genannt, ist eine Schürze.«

Nun stimmte sie in das Lachen ein. Ein Vortuch. Logisch!

Es war ein schmackhafter Gemüseeintopf. Karotten, in fingerdicke Stifte geschnittene Rüben, Zwiebeln und reichlich Lauch in breiten Ringen, etwas Grünzeug. Der großzügige Einsatz von Kräutern aus dem ans Haus angrenzenden Garten gab eine kräftige Würze. Die daumengroßen Fleischstücke waren erfreulich zahlreich. So viele Fettaugen teilten sich die Oberfläche, dass sie aneinanderstießen.

»Ich hätte Kartoffeln mitgekocht. Und die Gewürze sind auch seltsam«, kommentierte Julia.

»Tja, da hast du Pech«, war die schelmische Antwort, »Kartoffeln gibt´s nicht. Amerika wurde noch nicht entdeckt.« Er wurde wieder ernst. »Und Gewürze - naja, nicht die, die wir von zu Hause her kennen. Salz vielleicht, aber man würzt mit Kräutern. Das macht das Essen herzhaft und gesund.«

Er sah ihr direkt in die Augen. Sie hob den Blick, als sie es bemerkte.

»Siebenreich ist eben anders als Freiburg. Du hast schon gemerkt, dass hier niemand raucht. Tabak ist ebenso unbekannt wie Kaffee, Kartoffeln, Tomaten und vieles andere. Ich könnte dir stundenlang aufzählen, was es hier nicht gibt. Aber, wer will, weiß sich zu helfen. Es gibt für fast alles eine Alternative. Und was der Bauer nicht hat, isst er nicht. Oder so ähnlich.« Seine Erklärung begleitete er mit einem verhaltenen Lachen. »Je näher man an die Städte kommt, desto besser wird das Essen. Es wird eben mit Küchenkräutern, Beeren und Wurzeln verfeinert.«

Die Suppe war heiß, dennoch mussten sie sich mit dem Essen beeilen. Anderenfalls hätte sich der Talg als dicke Schicht am Rand ihrer Schalen, an den Löffeln und am Gaumen abgesetzt.

Nachdem sie aus der Küche zurückgekehrt war, setzte sich die Wirtin zu den beiden auf die Bank und wollte wissen, wen sie vor sich hatte. Sie war nicht aufdringlich und gab ihrerseits bereitwillig Auskunft auf alle ihr gestellten Fragen. Nach Königstein, dem Weg dorthin, Herbergen dort, und nach dem Dorf, in dem sie sich gerade befanden.

»Ihr seid hier in Kornthal. Im Tal hier wird ein besonderes Getreide angebaut, aus dem ein helleres Mehl gemahlen wird als irgendwo sonst im Lande. Und, da ihr gefragt habt, ja, eine Schmiede gibt es natürlich. Sie ist leicht zu finden. Ihr riecht das Feuer bis hierher, sie ist im übernächsten Haus. Und der Schuster hat seine Werkstatt am Ende des Dorfes, keine achtzig Schritt von hier.«

Nach dem Essen stand Mike auf. Julia ließ er mit einem bezahlten Krug Apfelwein zurück und machte sich mit dem Schlitten auf den kurzen Weg zur Schmiede.

12.

Der Schmied war ein wahrer Hüne, ein fröhlicher und freundlicher Kerl. Singend bediente er abwechselnd Blasebalg und Schmiedehammer. Was er zu seinem Amboss trug, bearbeitete er dort mit schnellen, kräftigen Schlägen.

»Ich wünsche euch einen guten Tag, Meister Schmied. Wenn ihr wollt, habe ich etwas anzubieten, das euch von Nutzen sein dürfte.«

Der Riese unterbrach seine Arbeit.

»Es kommt selten jemand mit vernünftiger Ware hier vorbei. Und jetzt in Kriegszeiten noch weniger. Was wollt ihr denn bei mir loswerden? Und Geld wollt ihr womöglich auch noch dafür, oder?«

 

Mike schlug das Tuch auf dem Schlitten zurück.

»Mmh, Waffen und Rüstungen. Wohl von Orks, oder? Das ist gutes Eisen, wirklich. Habt ihr das selbst gesammelt? Naja, geht mich eigentlich auch gar nichts an. Aber schleppt ihr das vom Nordwall bis hierher?«

»Von so weit kommt es nicht. Ich habe es vor dem Langewald erbeutet. Was bietet ihr mir dafür?« Mike machte eine Pause, wollte den Preis ein wenig nach oben treiben. »Bevor mir jemand anderes ein besseres Angebot macht.«

»Erbeutet? Mmh, wenn ich euch so betrachte in eurem Waldläuferanzug und mit den seltsamen Schwertern, traue ich euch das zu. Ein Angebot? Mmh …«

Mit drei Fingern massierte er sein bärtiges Kinn. Dann bot er Mike einen annehmbaren Preis.

Nachdem der Handel mit Handschlag besiegelt war, sah Mike dem Schmied direkt in die Augen.

»Nun benötige ich noch etwas von euch. Für eure Arbeit will ich euch gut bezahlen. Ich brauche ein ganz dünnes Blech von möglichst wenig Gewicht. Ungefähr so groß.« Er führte die Hände des Schmiedes flach nebeneinander und fuhr mit dem Zeigefinger um dessen riesige Handflächen.

Der Schmied grinste über die seltsame Beschreibung, hatte aber verstanden.

»Mmh!« Brummend wandte er sich in eine finstere Ecke seiner Schmiede. Es schepperte einige Male, bevor er zurückkehrte. Seinem Kunden hielt er ein Blech hin, das in Form und Maßen dessen Wunsch entsprach.

Mike schüttelte den Kopf.

»Höchstens halb so dick! Es muss dünner sein als der Zierharnisch der Paradeuniform eines königlichen Gardisten.«

»Mmh. Ihr habt ziemlich hohe Ansprüche.«

»Heißt das, es wäre nicht zu machen?«

Der Riese quittierte den Kommentar mit einem Stirnrunzeln. Anstatt anderes Material zu holen, hielt er das Blech mit seiner Zange in die Glut und bearbeitete das heiße Stück auf seinem Amboss. Nach ungezählten Wiederholungen tauchte er es zuletzt längere Zeit in den Bottich voll Wasser und hielt es dann, immer noch in die Zange gepresst, Mike zur Begutachtung hin.

»Ihr versteht euer Handwerk, Meister Schmied. Eine sehr gute Arbeit, ein glattes, dünnes Stück Blech von der Größe zweier Männerhände. Aus der Mitte heraus getrieben zum schmalen Rand. Der ist dicker, das stört aber nicht, ich werde ihn sowieso abtrennen. Die dünne Fläche ist mir ausreichend.«

Offenbar bekam der Schmied selten ein Kompliment zu hören. Wenn auch sein dichter Bart das Lächeln verbarg, hatten sich seine Mundwinkel darunter doch breit auseinander gezogen.

Mike befeuchtete seinen linken Daumen im Mund und drückte ihn einen Augenblick lang an den Rand des Blechs, um die Temperatur zu prüfen. Dann nahm er dem Schmied das Werkstück ab und trug es mit einem »Ich darf doch wohl, oder?« zu einer Werkbank, die er im Halbdunkel an der Rückseite der Schmiede ausgemacht hatte. Aus seinem Tornister zog er das Bündel, das von den Räubern stammte, und legte es neben das Blech.

Neugierig stellte sich der Schmied an seine Seite. Natürlich wollte er wissen, was ein Kunde in seiner Werkstatt so trieb. Die riesige Gestalt versperrte die Sicht zum Eingang. So nahm Mike Julia erst wahr, als er das eingewickelte Spiegelstück zum Vermessen auf das Blech gelegt und den Umriss grob mit einem Hufnagel nachgezeichnet hatte. Den hatte er nach einem kurzen Umschauen in einer Bodenritze gefunden.

Der Schmied wollte sich nicht aufdrängen, Julia hingegen platzte vor Neugier. Beide waren begierig zuzuschauen, und es wäre Mike schwer gefallen, sie davon abzuhalten. Also fügte er sich und ließ sie zusehen, gab aber keinerlei Erklärung. Er zog eine Axt von ihrem Nagel an einem Holzbalken und prüfte ihre Schärfe. Anschließend trug er das Blech zu einem Hackklotz, hielt die Schneide der Axt auf seine Markierungen und trieb sie daran entlang durch Hammerschläge auf den Axtkopf durch das dünne Eisen. Ein Blech von etwas mehr als der doppelten Fläche des Spiegels blieb übrig. Zur Probe legte er ihn nochmals auf, kippte ihn auf die andere Seite und nickte zufrieden. Das Blech hielt er nun mit einer Hälfte über die harte Kante des Tisches und bog es mit Hammerschlägen so weit um, dass die beiden Hälften fast deckungsgleich aufeinanderlagen, bei der oberen stand ein schmaler Rand über.

Er schob Julia und den Schmied so eng zusammen, dass das Tageslicht nahezu ausgesperrt war. Im Halbdunkel rollte er die Spiegelscherbe aus der Stoffhülle und schob sie bis zum Anschlag zwischen die beiden Hälften des gefalteten Bleches. Die spiegelnde Seite zeigte nach unten zum Tisch hin. Ein rötlicher Schimmer glomm auf und wollte sich entfalten. Mike gab ihm keine Gelegenheit. Sofort begann er, mit dem Hammer an der Tischkante den Rand des oberen Bleches rundum so weit umzubiegen, dass kein Licht mehr auf den Spiegel fallen konnte, egal, wie man ihn hielt. Letztendlich hämmerte er auf dem Amboss die umgelegten Blechränder fast bündig in die Fläche. Das Werkstück war handtellergroß, fast rund und flach.

Mike atmete tief durch. Er war mit seiner Arbeit fertig und begutachtete sein Werk. Ein flaches Stück Eisen, so schien es bei oberflächlicher Betrachtung. Der Rand war beinahe umlaufend umgebördelt, die letzte Seite war einfach umgeklappt. Was sich darin verbarg, war nicht zu erkennen. Er nickte zufrieden und wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Dann wickelte er sein Meisterwerk in den Lappen und versenkte das Päckchen in seinem Tornister.

Sogar der Schmied machte ihm ein Kompliment.

»Mmh, das habt ihr gut hinbekommen, so, als hättet ihr das nicht zum ersten Mal gemacht.«

»Ach, Meister Schmied, wenn ihr wüsstet! Auch Waffen habe ich …« Unvermittelt brach Mike ab, als habe er schon zu viel gesagt. »Sagt mir nun, was ihr für das Blech und eure Arbeit verlangt!«

Nachdem er vom Schmied sein Eisen bezahlt bekommen und ihm seinerseits den Preis entrichtet hatte, verließen Mike und Julia den freundlichen Riesen mit einem herzlichen Gruß und kehrten auf einem Umweg zum Schuster in den Truthahn zurück.

13.

»So, ich habe alles mit angesehen. Was ist das mit dem Spiegel? Erzähl schon«, forderte Julia und strahlte Mike über den Rand ihres Bechers an.

Langsam gewöhnte sie sich an die seltsamen Abenteuer in dieser Welt, besonders, wenn der Apfelwein gute Laune machte. Auf einmal waren ihr Herkunft und Schicksal des Spiegels wichtiger als die Galgenvögel, von denen sie ihn erbeutet hatten.

»Eine alte Überlieferung, eine Sage. Aber nochmal …« Vom ersten Wort an wusste er, dass er nicht aufhören durfte zu erzählen, bevor sie die Geschichte zu Ende gehört hatte. »Du solltest besser nichts darüber wissen. Dann kannst du nichts verraten, gerätst deswegen nicht in Gefahr und kannst mich nicht behindern. Der Spiegel ist der Grund, warum ich nach Süden will. Und noch weiter.«

»Doch, erzähl! Ich will´s wissen.«

»Na gut.«

Julia stemmte die Ellbogen auf den Tisch und stützte das Kinn auf die gefalteten Finger.

»Na endlich! Ich hatte schon Angst, du erzählst mir nie etwas darüber.«

»Du weißt, dass Krieg herrscht, angezettelt durch den so genannten Dunklen Herrscher. Eigentlich heißt er Drogan´t´Har, Sohn des Drachen. Er soll von einer menschlichen Mutter geboren sein, aber von einem Drachen gezeugt. Falls das mit dem Drachen stimmt, dächte ich eher an eine menschliche Amme oder Ziehmutter. Jedenfalls hat er einen menschenähnlichen Körper mit Echsenkopf, er ist hünenhaft und richtig böse. Sagt man. Der Sage nach hat er sich vor Hunderten von Jahren an die Spitze der Reiche hinter den Morgenbergen gesetzt und die Ork- und Goblinstämme untereinander geeint. Ihre alten Zwistigkeiten hat er beendet, indem er ihnen die Reichtümer der Zwerge und die aus Siebenreich versprochen hat. Außerdem dürfen sich die Orks an den Elben im Westen austoben, wenn sie hier mit den Menschen fertig wären. Elben konnten sie noch nie leiden.«

Er nahm einen Schluck.

»Vor mehreren hundert Jahren hat er das Land schon einmal mit Krieg überzogen. In der Überlieferung wird das der Große Krieg oder der Krieg der sechs Geschlechter genannt. Menschen, Zwerge und Elben auf der einen, Drachen, Orks und Goblins auf der anderen Seite. Als Drogan´t´Har besiegt und geflohen war, wollte man wissen, wo er sich aufhielt. So glaubte man, gewappnet zu sein, falls er sich wieder erheben würde. Also wurde eine Art magisches Fernglas geschaffen, mit dem man seinen Aufenthalt bestimmen konnte. Auch in unseren Märchen und Sagen gibt es Kristallkugeln und Spiegel, in denen man in die Vergangenheit, in die Zukunft oder einfach an andere Orte sehen kann. Der Spiegel hier ist aber real. Gegossen haben ihn die Zwerge in den Hochöfen ihrer Erzminen zusammen mit den Menschen und den Elben. Die Menschen haben eine Schuppe von Drogan´t´Har beigetragen, die sie ihm abgeschlagen hatten. Sie liegt im Mittelstück und stellt die magische Verbindung zu ihm her. Die Elben haben die Außenteile mit Magie belegt, jedes Stück mit einer anderen, sie ergänzen sich und steigern ihre Macht gegenseitig.«

Er sah sie an, vermochte aber nicht zu deuten, ob sie die Stirn vor Skepsis oder vor Verwirrung gerunzelt hatte. Also bot er ihr einen Vergleich.

»Du bist gut im Bogenschießen und bist damit für deine Gegner gefährlich. Noch gefährlicher wirst du, wenn du reiten lernst. Du bist schneller und kannst aus der Bewegung schießen. Und es wäre für sie das Ende, wenn du in die Zukunft sehen könntest und wüsstest, wo du ihnen aufzulauern hättest. Genauso unterstützt eine Scherbe die andere mit ihrer jeweiligen Fähigkeit.«

Julia schüttelte den Kopf.

»Kein Märchen?«

»Glaub´ ich mittlerweile nicht mehr. Aber der Reihe nach! Auf jeden Fall wurde der Spiegel regelmäßig alle paar Jahrzehnte zwischen Zwergen, Menschen und Elben reihum weitergegeben. So war jede Art eine Zeitlang Bewahrer des Friedens. Es war ein fruchtbares Zeitalter. Irgendwann zerbrach ein Naturereignis den Spiegel entlang der Ränder in seine ursprünglichen Einzelteile. Drogan´t´Har hat ein paar Scherben erbeutet und versucht, sie zu nutzen, weshalb man sich heute bemüht, die restlichen seinem Zugriff zu entziehen. Sie sind unzerstörbar, es sei denn, man wirft sie in den Silbersee. Dort sollen sie sich auflösen. Übrigens: Drachen hat man seit dem Großen Krieg nie wieder gesehen.«

Er machte eine Pause. Unvermittelt offenbarte er ihr dann sein Schicksal und seine Mission.

»Das Mittelstück hat uns heute der Zufall in die Hände gespielt, die Drachenschuppe hab ich aber nicht erkennen können. Das Glas ist angelaufen und trübe geworden. Die Scherben wurden vom Schicksal über den ganzen Kontinent verstreut. Zwei hatte ich schon. Eine hat mir jemand heimlich zugesteckt, der einen Tag darauf erdolcht wurde. Die andere habe ich einem Schamanen abgenommen.«

»Einem Schamanen?«

»Einem Priester, einem Zauberer, einem Medizinmann der Orks.«

Julia nickte, so gut es mit dem aufgestützten Kinn eben ging.

»Beide Male wurde mir das Leben ziemlich schwer gemacht. Drogan´t´Har lässt die Scherben suchen und ihre Besitzer umbringen. Die von heute muss schon auf dem Weg zu ihm gewesen sein, denn der Räuber trug sein Zeichen.«

Er wischte sich den Schweiß von der Stirn. Die Sage zu erzählen bedrückte ihn. Er war zu tief darin verwickelt.

»Bei der Verzauberung ist etwas schiefgelaufen, denn die Scherben zeigen nicht nur Drogan´t´Hars Aufenthaltsort, sondern verstärken neben ihren eigenen auch seine magischen Fähigkeiten. Besonders, wenn sie in ihrer ursprünglichen Lage aneinandergefügt werden. Wenn er den Spiegel komplett zusammenbauen könnte, wäre das das Ende nicht nur von Siebenreich. Wo immer ein Bruchstück das Tageslicht erblickt, kann er dorthin sehen und es orten. Also leben in Siebenreich, bei den Elben und bei den Zwergen eine Handvoll unerkannter Helden. Sie versuchen, ihre Stücke heimlich zum Silbersee zu bringen, in dessen Fluten zu werfen und dem Zugriff des Drachensohnes ein für alle Mal zu entziehen. Mich hat das Schicksal zu einem der Ihren gemacht. Meine Scherben sind so ziemlich die letzten, die nicht zerstört oder von Drogan´t´Har erbeutet worden sind. Nicht ganz ungefährlich, wie du an dem Überfall im Gasthof gesehen hast. Die Häscher hatten die Brandmale am Unterarm.«

»Ja, die Drachenköpfe«, Julia nickte. »Und wo liegt dieser Silbersee?« Sie saß über den Tisch ganz nah zu Mike herübergebeugt und hing mit schief gelegtem Kopf förmlich an seinen Lippen.

 

»Mitten im Orkland hinter den Morgenbergen. Kaum hinzukommen. Und mit Sicherheit bewacht. Ach so …« Er stockte, musste sich scheinbar überwinden, um weiterzusprechen. Sich daran zu erinnern, war ihm wohl unangenehm. »Übrigens nur einige Tagesreisen südlich des Ortes, an dem der Sage nach das magische Tor vermutet wird.«

14.

Versunken in Gedanken an all das, was sie heute erlebt, gesehen und gehört hatte, trottete Julia hinter Mike her. Der hatte seinen Schlitten zerlegt, Fell und Riemen auf seinen Tornister gebunden und sich den auf den Rücken geworfen. Das Birkenholz hatte er beim Schmied an dessen Brennholzstapel gelehnt.

Julias neue Schuhe waren bequem. Etwas zu groß, aber weich, mit einer anschmiegsamen Sohle, durch die sie Unebenheiten oder Steine und Stöcke gerade eben erahnen konnte, ohne, dass sie schmerzten. Es waren lederne Schnürschuhe ohne Absatz und mit einem knöchelhohen Schaft.

Der Schuster war von ihren Sandalen begeistert gewesen. Eine so feine Arbeit hätte er noch nie gesehen. Julia hatte sie ihm gern überlassen, waren sie doch nutzlos geworden. Der Schuster wollte die Sandalen untersuchen und nachmachen. In der nahen Hauptstadt würde man sie ihm aus den Händen reißen, endlich wäre seine Arbeit nicht mehr eintönig und trüge auch noch Früchte. Die Landbevölkerung wolle nur derbes Schuhwerk und zahle wenig.

Die Erinnerung an diese kurze Begebenheit begleitete Julia länger, als das ganze Geschäft gedauert hatte. Über ihre neuen Schuhe freute sie sich.

Sie nahm kaum wahr, dass sie in der Dämmerung Königstein erreichten. Die Stadtwache hatte sie eingehend befragt nach ihrer Herkunft, dem Zweck ihres Kommens und der Dauer ihres Aufenthaltes. Mike hatte geantwortet, auch in ihrem Namen. Sie hatte sich stumm gegeben, ab und zu die Schultern gezuckt oder als Antwort genickt oder den Kopf geschüttelt. Ihre Gedanken versuchten zu intensiv, das in Siebenreich Erlebte und Mikes Erzählungen mit ihrem bisherigen Weltbild in Übereinklang zu bringen. So konnte sie sich neuen Eindrücken oder dem Woher und Wohin in den Fragen des Torwächters nicht hinreichend widmen.

Ein Gedanke hatte sie dennoch zum Schmunzeln gebracht. Als sie die Silhouette von Königstein aus der Entfernung studieren konnte, schien sich das ihr bekannte Freising mit dem Domhügel vor ihr aufzubauen. Bis ihr einfiel, dass sie seit ihrer Ankunft in diesem seltsamen Land nicht eine einzige Kirche entdeckt hatte.

Unterwegs hatte Mike es ihr erklärt.

»Die Leute sind zu sehr in ihrem Aberglauben verhaftet, als dass sie eine Religion mit einem Gott oder mit Göttern begründen könnten. Es gibt wohl übers Land verstreut einige Schreine, Säulen oder Altäre, an denen wenige Leute den alten, meist vergessenen lokalen Gottheiten ihrer Altvorderen huldigen. Zwerge und auch Orks, letztere mit ihren Schamanen, sind wesentlich beflissener, eine Religion auszuüben. Meist ist es eine Naturreligion. Die ist häufig auf Häuptlinge zurückzuführen, die sich als Religionsgründer hervorgetan haben, um ihr Volk leichter in Zaum zu halten.«

Später machte sie den vermeintlichen Domhügel mit dem Bischofssitz als die königliche Burg aus.

Königstein war mit seinen mehreren tausend Einwohnern eine großartige Stadt, die größte im Land. Doch Julia nahm nichts von der relativen Großzügigkeit und Schönheit auf. Sie hielt den Blick auf den Boden gesenkt und folgte Mike in ein Gasthaus nahe dem Stadttor. Nur zwei Gassen dahinter, etwas den Hügel hinauf Richtung Burg. Ihr Abendessen genoss sie nicht. Es verkam zur mechanisch ausgeführten Nahrungsaufnahme, obwohl es herzhaft war und nicht schlecht schmeckte. Wie in Trance ging sie später vor Mike her, als er sie die Treppe hoch in den Schlafsaal über der Gaststube schob. In einer Ecke des Raumes fanden sie einen Schlafplatz groß genug für sie beide. Er breitete seine Decken aus, sie kroch unter die eine kleine, ohne sich entkleidet zu haben. Was er machte, beachtete sie gar nicht.

Noch lange grübelte sie.

Was hat er mir heute wieder alles erzählt? Magische Spiegel. Zwerge und Elben. Drogan´t´Har, Sohn des Drachen. Helden unterschiedlicher Rassen, getrennt in ihrer Geschichte, aber gemeinsam in ihren Zielen. Mike einer von ihnen. Einbildung! Märchen!

Mal war sie sich sicher. Dann wieder nicht.

15.

Auch Mike fand lange keinen Schlaf. Er lag auf dem Rücken, hatte die Hände unter seinem Kopf gefaltet und starrte die Decke an.

Nun habe ich Julia mein Geheimnis offenbart, ihr von meiner Mission erzählt. Das erste Mal überhaupt habe ich es jemandem gegenüber erwähnt, und das ausgerechnet einer Frau, die ich kaum kenne! Geht es mir schon so wie dem Waldläufer, der mir die erste Scherbe zusteckte? Der wohl so unter seelischen Druck stand, dass er sich unbedingt mitteilen musste. Habe ich wenigstens meine Anspannung vermindert, fühle ich mich erleichtert? Wenn ich ehrlich bin, nein.

Da waren sie wieder, die alten Zweifel!

Was passiert, wenn ich einfach alles hinschmeiße, die Scherben irgendwo vergrabe und versuche heimzukommen? Es ist doch nicht mein Krieg! Ich will nach Süden, ja. Aber was genau will ich da? Will ich wirklich durch Seeland um die Morgenberge herum zum Silbersee? Oder ist mir der egal, und ich suche im Grunde doch das magische Tor?

In beiden Fällen will ich mich im Süden längere Zeit an einem Ort aufhalten, um die nötigen Informationen zu sammeln. Im Norden ist die Bevölkerung so auf den Krieg fixiert, dass ich nichts, aber auch gar nichts erfahren kann. Anders als in Friedenszeiten, in denen man solche Geschichten liebt, haben die Leute heutzutage für Sagen über ein magisches Tor oder einen silbernen See einfach nichts übrig.

Er hörte ein Rascheln neben sich und drehte den Kopf. Julia hatte sich mit einer Bewegung wieder in sein Gedächtnis gebracht.

Und sie? Was mache ich mit ihr, was ist für sie das Beste?

Magische Tore machten ihm Angst, denn er war sich nicht sicher, wo sie hinführten. Besonders, wenn sie im Land der Monster standen. Anders als sein Tor, das ihn hierher zwar in ein mittelalterliches Ambiente entführt hatte, aber eben doch in eine Kultur, die es in der Geschichte seines Landes auch gegeben hatte. Wenn man von der Magie und von den Nachbarvölkern einmal absah.

Dann bleibt sie eben hier. Das ist das Sicherste. Und du weißt ja selbst nicht einmal, ob du dich durch das Tor traust. Wenn du es überhaupt findest.

Sein Entschluss war gefasst, er würde Julia in Königstein lassen und allein weiterziehen.