Siebenreich - Die letzten Scherben

Text
Aus der Reihe: Siebenreich #1
0
Kritiken
Leseprobe
Als gelesen kennzeichnen
Wie Sie das Buch nach dem Kauf lesen
Schriftart:Kleiner AaGrößer Aa

»Ich bin noch nie auf einen Baum geklettert. Und du sprichst sicher nicht von Astgabeln in Schulterhöhe, sondern wohl ganz oben!«

Gut gelaunt nickte er ein paar Mal.

»Vertrau mir! Es wird einfacher, als du denkst.«

Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich darauf zu verlassen, dass er nichts von ihr verlangte, das sie nicht schaffte. Oder er würde ihr helfen.

Der Nachmittag verlief ohne nennenswerte Ereignisse. Er hatte seinen Schritt ihrer Geschwindigkeit angepasst. Sie war weder so ausdauernd wie er noch konnte sie seine entspannte Körperhaltung nachahmen. Mehrmals mussten sie anhalten, weil ihr Seitenstechen unerträglich war. Ihr Gespräch war einsilbig. Sie war darauf konzentriert, Schritt zu halten, er gab sich in sich gekehrt. Ab und zu hatte sie ihm eine Beobachtung mitgeteilt, und er hatte sie kommentiert. Das Beobachtete war auch ihm nicht entgangen, er lebte schließlich hier. Regelmäßig handelte es sich um irgendwelche Pflanzen, die sie nicht kannte, und um Tiere, die sie weiter entfernt ausgemacht oder deren Spuren sie entdeckt hatte.

Einmal hatte er angehalten, sich zu ihr umgedreht und sie in die Hocke gedrückt. Er bewegte sich gebückt schräg nach links von ihrer Marschrichtung, von Busch zu Busch huschend. Die Zeit, die er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, nutzte sie für eine Verschnaufpause.

»Ein Rudel Hochwild war zwischen zwei Baumgruppen gewechselt«, erklärte er zur Entwarnung. Eine Staubwolke hatte ihn zur Erkundung veranlasst.

Das Gelände eignete sich hervorragend für den Marsch. Eine weitläufige Hügellandschaft mit wenigen Waldstücken weit von ihnen entfernt. Am östlichen Horizont konnten sie die bei klarem Wetter allgegenwärtigen Morgenberge ausmachen. Dunst verwischte die Zinnen der Berge mit dem Himmel. Im Westen sahen sie gegen die tief stehende Herbstsonne hingegen nur die Konturen der nächstgelegenen Hügel. Der Bewuchs war spärlich, Gras und Büsche waren dürr. Der Jahreszeit angemessen hatten sich in Hellbraun gekleidet. Es roch nach Herbst.

6.

Als sich Julia während ihrer nächsten Rast erholte und nach einigen Schlucken Kräutertee wieder aufnahmefähig war, nutzte Mike die Pause, um ihr Siebenreich zu beschreiben.

»Nachher im Wald sind wir zu beschäftigt mit der Suche nach einer Schlafgelegenheit. Außerdem habe ich dort keine Tafel zum Malen.«

Er lachte und räumte loses Gras und kleine Steine beiseite, bis er eine freie Fläche von etwa einem Schritt Durchmesser geschaffen hatte. Er hatte einen geraden Zweig gefunden und brach ein ellenlanges Stück davon ab. Nun begann er, auf der trockenen Erde zu zeichnen. Den gesamten Teil des Kontinents stellte er ihr vor, den die Menschen kannten. Ab und zu unterstrich er seine Beschreibung mit erklärenden Gesten in die jeweilige Richtung.

»In der Mitte liegt Siebenreich. Es erstreckt sich zweihundert Meilen weit von Norden nach Süden. In der Mitte beträgt die Breite siebzig bis achtzig.«

Die bauchigen Konturen des Landes hatte sie besonders gut behalten.

»Wie die runden Klammern auf der Schreibmaschine«, hatte er verglichen.

»Im Osten erheben sich über die gesamte Länge die Morgenberge mit dem Langewald davor. Der hat eine Tiefe von zwanzig Meilen, man kann sich also schon darin verlaufen. Zu den Gefahren, die er birgt, gehören nicht nur die Wölfe, Braunbären und Wildschweine. Neuerdings sickern auch die Orks ein. Und seit langem sind die Elben dort gefährlich. Die leben in einer Enklave, in die keinem Menschen einzudringen erlaubt ist. Selten genug verirrt sich auch einer dorthin. Und erst recht hat noch keiner von dort berichtet.«

Er holte Luft, schaute zu ihr, ob sie Fragen hätte. Sie schüttelte den Kopf, er setzte seine Ausführungen fort.

»Elben leben eigentlich westlich der Abendberge hinter Siebenreichs Westgrenze, dem Lafer. Abendberge heißen sie, weil die Abendsonne sich darauf zur Ruhe begibt. Der alte Aberglaube ist, sie habe auf den zerklüfteten Gipfeln einen Horst, genau wie die Adler, die dort kreisen. Im Gegensatz dazu sind die Morgenberge angesichts ihrer Nähe zum Orkland dahinter wohl ohne jedes Leben.

Der Lafer entspringt irgendwo im Norden und zieht fließt gemächlich bis nach Seeland, dem südlichen Nachbarland, und dort ins Meer. Dabei schmiegt er sich im Norden streckenweise unmittelbar an die steilen Hänge der Abendberge, von deren Gebirgsbächen er sich nährt. Manche stürzen als Wasserfälle senkrecht in sein Bett. Oft genug stößt er sich jedoch wieder von den Abendbergen ab und erlaubt auf einem grünen Streifen ein paar Fichten und Latschenkiefern ungestörtes Wachstum. Auf halber Höhe Siebenreichs treten die Berge zurück und der Lafer weitet seine Kurven. In einer davon liegt Königstein, die Hauptstadt. Ab hier ist der Lafer schiffbar. Die Lastkähne haben einen bauchigen Rumpf, ihr Kiel besteht nur aus dem behauenen Stamm, der aus den Planken hervortritt und ihnen die wiegenartige Form gibt. Flussaufwärts werden sie getreidelt. Der Lafer hat seinen Namen wohl von Läufer abgeleitet, entweder in Bezug auf das Treideln oder, weil er am Gebirge entlang läuft. Aber genau weiß das heute niemand mehr.«

Er schaute von seiner Zeichnung auf und schmunzelte. So vertieft fand er Julia in die Linien, die der Stock in die Erde geritzt hatte.

»Nördlich von Siebenreich leben die Zwerge. Ein robustes Volk, tapfere Krieger, zufrieden in den kalten, uns unwirtlich scheinenden Ebenen, die geprägt sind von kargen Weideflächen und Geröll. Seit Lebensspannen hat kein Mensch mehr die Berge dahinter betreten. Im Allgemeinen vertragen sich Menschen und Zwerge. Vor langer Zeit aber haben sie sich so weit auseinandergelebt, dass nicht einmal mehr Handelsbeziehungen gepflegt werden. Quer zwischen dem Zwergenland und Siebenreich liegt eine steinige Hochebene in der Form eines langen Dreiecks. Die Menschen sichern davor ihre Nordgrenze mit dem Nordwall ab, der die gesamte Breite zwischen den Morgen- und den Abendbergen einnimmt. Der Wall besteht aus zahlreichen Befestigungsanlagen wie steinernen Wehrtürmen, Lagern oder Beobachtungspunkten mit Holzpalisaden und Mauern dazwischen. Lücken gibt es überall, sie wurden durch Patrouillen teilweise wettgemacht. Hier tobt seit Jahren der Krieg, und immer mehr Orks und Goblins fallen durch die nördlichen Ausläufer der Morgenberge ein. Früher waren die wenigen dort stationierten Schwadronen des Königs immer überlegen gewesen, aber heute bindet die Nordgrenze nahezu jeden wehrfähigen Mann aus Siebenreich.«

Julia hörte gebannt zu. Dass sie von Mikes Wissen über das Land und seine Nachbarn beeindruckt war, stand ihr ins Gesicht geschrieben. Durch Nicken forderte sie ihn auf weiter zu beschreiben.

»Im Süden liegt Seeland. Die Grenze ist markant: Die fruchtbare Ebene fällt auf der ganzen Breite um ein paarhundert Höhenmeter steil ab und setzt sich danach in Seeland fort. Der Abhang ist bergab wie bergan zu Fuß oder mit Reit- und Packtieren unbequem, ist aber zu bewältigen. Für die Fuhrwerke der fahrenden Händler gibt es nutzbare Passagen, hier windet sich der Weg in Serpentinen auf sanfteren Ausläufern der Hochebene.

Das Königreich Seeland selbst ist breit und zieht sich im Westen am Lafer hoch, etwas weiter als bis gegenüber von Königstein, wo die Abendberge zurücktreten. Die Morgenberge auf der anderen Seite reichen über Siebenreich hinaus bis zum Meer selbst. Das Meer setzt sich von ganz Seeland mit hohen, nahezu senkrechten Klippen ab, nur unterbrochen durch wenige Naturhäfen und die Anlagen der zwei Hafenstädte Konigshaven und Wasserstad. Gelegentlich sind die Städte den Angriffen von Piraten ausgesetzt, die sie bisher aber immer abwehren konnten. Am Südzipfel, wo die Morgenberge ins Meer fallen, soll es einen Durchgang nach Osten geben. An dieser Passage haben Piraten ihre Städte und ihre Verstecke.«

Unwillkürlich versteifte er sich. Die folgenden Worte sprach er nachdenklich und mit gedämpfter Stimme.

»Hier muss ich durch und hinein ins Orkland.«

Sie spürte, dass er das gar nicht hatte sagen wollen. Aber es war eine Andeutung über seine Absicht, vielleicht sogar über sein Schicksal. Jetzt musste er ihr alles offenbaren! Während sie bisher mit angewinkelten Beinen dagesessen und die Arme um ihre Knie geschlungen hatte, zog sie nun die Beine unter ihren Körper. Sie setzte sich auf ihre Fersen und beugte sich nach vorn. Ihre Neugier machte ihr weis, ihn so noch besser verstehen zu können. Endlich fühlte sie sich seinem Geheimnis auf der Spur!

»Was willst du dort? Du erzählst doch immer, wie gefährlich das ist!«

»Es ist besser, wenn du nichts darüber weißt. Für uns beide«, wiegelte er ab.

»Noch ein Thema, über das er nicht reden will«, murmelte sie unhörbar, »was für Heimlichkeiten hat er denn noch?«

Doch bevor sie weiterfragen konnte, hatte er seine Beschreibung fortgesetzt. Sie schwieg, um nichts zu verpassen.

»Wie viele Menschen in Siebenreich leben, vermag niemand auch nur annähernd zu sagen. Neben Königstein gibt es einige weitere Städte, kleiner, aber ebenso mit Leben erfüllt und mit einem begrenzten Luxus. Wenn nicht dort, leben die Menschen in Wehrdörfern oder einzelnen Bauernhöfen.«

Nach einem kurzen Atemholen beendete er seinen Bericht.

»Das war´s. Nun kennst du Siebenreich.«

Als er geendet hatte, nickte er, lud sie damit ein, ihm Fragen zu stellen. Dennoch blockte er auch ihr neuerliches Nachhaken nach seinem Weg ins Orkland ab.

Sie schwieg, wollte das Ganze in einem Stück verinnerlichen und brauchte Zeit. Für den Moment hatte er ihr genug erzählt.

Er ließ sie in ihrem Grübeln und erlaubte ihr einen letzten langen Blick auf die skizzierte Landkarte, in die er noch an ihrem ungefähren Aufenthaltsort einen Kiesel gelegt hatte. Als sie den Blick hob und nickte, verwischte er die Karte, raffte ihre Siebensachen zusammen und setzte sich in Bewegung. Sie folgte ihm, den Blick wenige Schritt vor sich an den Boden geheftet. Langsam fand sie sich zurecht.

 

7.

Die Sonne bewegte sich auf die Gipfel der Abendberge zu, um sich zur Ruhe zu begeben, als Mike und Julia den Wald erreichten.

Julia rief sich die Astgabel für den Schlafplatz ins Gedächtnis. In Erwartung des Abenteuers rieb sie sich zuversichtlich die Hände. Nun überflügelte doch die Neugier ihre Angst. Zu ihrer gelösten Stimmung trug im Wesentlichen die Harmonie des Waldes bei. Irgendwo hämmerte ein Specht sein Abendessen aus der Rinde, das Farbenspiel des Herbstlaubes widersetzte sich der Dämmerung und hielt die anstürmenden Grautöne auf Distanz, der Waldboden war samtig weich und federte ihre Schritte ab. Wenn sie die Lider schloss, stellte sie sich einen Augenblick lang vor, sie ginge daheim über den hochflorigen Teppich in ihrem Wohnzimmer. Unerbittlich jedoch holte jeder Augenaufschlag sie nach Siebenreich zurück.

»Nie direkt am Waldrand! Viele Waldläufer machen den Fehler, sich einen Schlafbaum direkt am Waldrand zu suchen. Von da aus haben sie natürlich den besten Blick«, gab er zu. »Der Fehler besteht darin, dass auch Feinde die Bäume dort als erstes untersuchen und die Waldläufer mit großer Wahrscheinlichkeit aufstöbern. Besser sind Bäume in der zweiten oder dritten Reihe. Meistens sind die nicht so markant, und man wird nicht so schnell darauf aufmerksam. Aber auch von da aus ist das Gelände gut zu überschauen.«

Er deutete auf einen Baum ein paar Schritte entfernt.

»Der ist gut.«

»Wieso gerade der? Der steht doch ganz schräg.«

»Alle Bäume dieser Art wachsen so. Und so kommen wir auch leichter hinauf.«

»Solche Bäume habe ich noch nie gesehen«, staunte Julia und schickte ihren Blick von den mannstarken Wurzeln den gut sechs bis sieben Meter dicken Stamm hinauf in die Krone. Wie weit sie aufragte, konnte Julia nicht einmal erahnen, das Gewirr der Äste schien unendlich weit zu reichen.

»So hoch wird er mich hoffentlich nicht jagen«, schoss es ihr durch den Kopf. Kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Sie begann ja schon zu zittern, wenn sie sich über ein Treppengeländer beugte und zwei Stockwerke nach unten schaute.

Die meterdicken Äste standen versetzt zueinander beinah waagrecht vom Stamm ab. Der Wuchs erinnerte eher an eine Blattpflanze als an einen Baum, denn die verdickten Astansätze am Stamm ähnelten Blattstielen, auf ihrer Unterseite gebogen und oben glatt oder gar nach innen gewölbt, wie Julia an weiter talwärts stehenden Bäumen erkennen konnte. Sie würden, so hatte Mike ihr erklärt, ihnen Lager und Deckung bieten. Die Früchte auf dem Boden ringsum glichen übergroßen Kastanien, nur standen die Stacheln dichter, etwa wie bei Maronen oder Esskastanien. Neugierig hob sie mit festem Griff eine auf. Als die harten Härchen ihre Haut durchdrangen, zuckte sie zusammen. Sie zitterte. Was, wenn sie ein Nesselgift injizierten wie Seeigel? Der Schmerz blieb aus, es war nur der Schreck gewesen. Unwillkürlich wischte sie sich mit dem Unterarm über die Stirn, obwohl da nichts war. Schüchtern blickte sie zu ihrem Gefährten und stellte erleichtert fest, dass er von ihrer Unachtsamkeit nichts mitbekommen hatte.

»Da willst du aber nicht wirklich rauf?«

»Nicht ich, wir!«

»Ohne mich!«

Julia trat einen Schritt zurück, um ihren Entschluss glaubhafter zu machen.

»Oh, bist du tapfer! Keine Angst vor Wölfen?«

»Die gibt´s doch hier gar nicht!«

»Willst du´s ausprobieren?«

Die Antwort wartete er gar nicht mehr ab. Er beschäftigte sich schon mit den Vorbereitungen.

Er nahm den Tornister vom Schlitten ab und schob mit dem Fuß den Schlitten so weit unter ein Gebüsch, dass er nicht mehr zu sehen war. Aus dem Rucksack zog er eine fingerdicke Leine, die fast über ihre gesamte Länge in regelmäßigen Abständen Knoten aufwies. Beide Seilenden warf er nacheinander über den untersten Ast, der aus der Oberseite des schrägen Stammes herauswuchs, sie lagen noch ein gutes Stück auf dem Laubboden auf. Er zog sie durch die herunterhängende Schlaufe und sicherte so das Seil gegen Durchrutschen. Ein Ende knotete er um die Trageriemen des Tornisters. Als er fertig war, erklomm er mit kleinen Schritten die Oberseite des schrägen Stammes. Beide Seilhälften fasste er mit den Händen zusammen und hangelte sich von Knoten zu Knoten. Die schartige Rinde verhinderte ein Abrutschen, und der Zug seiner Arme brachte ihn zügig nach oben. Er schwang sich auf den Ast, zog den Tornister hoch und verkeilte ihn in einer Astgabel. Dann kletterte er wieder dem Waldboden entgegen.

»Wir gehen gleich hoch «, erklärte er der verdutzten Julia. »So hinterlassen wir hier unten weniger Spuren. Und unsere Witterung verbreiten wir von dort auch schwächer. Essen können wir dann oben.« Er lachte sie an. »Ich verspreche dir ein Galadinner mit unübertroffener Aussicht.«

Julia nickte nur. Sie war wenig überzeugt.

Weniger Spuren? Nun sah sie ihn genau das Gegenteil von dem tun, was er ihr noch vor einem Atemzug gepredigt hatte. Entgegen seiner eigenen Aufforderung, Spuren zu vermeiden, war er an einen Baum in vorderster Reihe am Waldrand getreten und leerte seine Blase.

»Hattest du nicht eben gesagt, dass, äh, Witterung …«

»Solltest du auch. Es ist nicht nur wegen der Bequemlichkeit. Vom Baum runter pinkeln ist nicht gut. Erstens hast du keinen sicheren Stand, und zweitens verrät der Geruch deinen Schlafbaum. Zumindest den Bären und Wölfen. Oder den Orks, wenn sie Hunde dabei haben. Urin an einem anderen Baum lenkt von deinem ab, und dein Versteck bleibt unerkannt. Vielleicht ziehen die Orks auch weiter, weil sie ja nicht wissen, wann du an den Baum gemacht hast.«

Das schien ihr sehr weit hergeholt, doch verzichtete sie auf eine Erwiderung. In Anbetracht der bevorstehenden Nacht in schwindelnder Höhe machte sie es ihm nach. Sie suchte sich einen Baum weiter im Wald, hinter dem er sie nicht sehen konnte.

Wieder zurück, sah sie ihn fragend an. Allein käme sie nie nach oben. Und falls sie mit seiner Hilfe hinaufkäme, so würde sie unvermeidlich abstürzen. Das wusste sie. Nach ihrer anfänglichen Neugier hoffte sie nun inbrünstig auf eine andere Lösung. Er schüttelte den Kopf. Kein Problem. In einer weiten Schlaufe zog er die Leine unter ihren Achseln hindurch und verknotete sie vor ihrer Brust. Nun gab es kein Zurück. Ihr Herzschlag wurde schneller, ihr war schwindlig. Sie würgte, gleich musste sie sich übergeben. Gerade hatte sie sich zur Seite gedreht und wollte sich am Baum abstützen, als sie seine Hände auf ihren Schultern fühlte. Einen Moment später ließ er auf einer Seite los, drückte ihr Kinn hoch und zwang sie, ihm in die Augen zu sehen.

»Du kriegst das hin. Du läufst auf dem Stamm. Denk einfach dran, dass ich dich von oben ziehe. Du kannst nicht fallen. Du bist angebunden.«

»Und wenn ich oben bin?«

»Bist du immer noch angebunden. Die ganze Zeit. Fertig?«

Trotz ihrer Überzeugung eines bevorstehenden Unglücks war sie zu keiner Abwehr fähig. Ihre Panik wollte sie ihm keinesfalls eingestehen. So nickte sie zaghaft. Es sah nicht aus, als sei sie überzeugt. Es war ja auch eine Lüge.

Sie fühlte sich unbequem, obwohl die Leine nicht einschnitt. Er erklomm den Baum in gewohnter Weise und zog sie Hand über Hand in die Höhe. Ihre Schultern verkrampften sich. Wirklicher Schmerz oder Einbildung? Sie hätte es nicht sagen können. Mit angewinkelten Unterarmen und mit steifen Fingern hielt sie das Seil vor ihrer Brust auf Abstand und versuchte, die Schlaufe, in der sie hing, möglichst weit offenzuhalten.

Sie bebte, als sie kurz darauf in der Mulde der Astgabel kniete. Sie schaute über den Rand nach unten, kam nicht dagegen an, genau das zu tun, wovor alle warnten. Die Strafe folgte auf dem Fuße, die Tiefe zog sie magisch an. Er legte ihr gerade noch von hinten den Arm um Brust und Schulter, als sie schon das Gleichgewicht verloren hatte. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, ihr Puls raste. Er drückte sie auf die Knie zurück und hielt sie unten, bis sie sich beruhigt hatte und wieder ruhig atmen konnte.

Er hatte das Seil gelöst und heraufgezogen. Nun machte er sich daran, die Prozedur zu wiederholen. Nach der dritten Wiederholung standen sie, jeder in einer Astgabel, so hoch, dass Julia allein der Gedanke daran schwindeln ließ. Sie versuchte vergeblich, sich an den viel zu dicken Stamm zu klammern. Mike hatte ihr aus kürzeren Leinen ein Geschirr geknotet, ähnlich dem Sicherungsgeschirr der Bauarbeiter, die in großer Höhe arbeiten mussten. Das lose Ende hatte er über ihr an einem Seitenast festgebunden, der ihr Gewicht mit Leichtigkeit auffangen könnte, sollte sie stürzen.

Nach ein paar Versuchen, bei denen sie auf allen Vieren vom Stamm fort und wieder zurück gekrabbelt war, fühlte sie sich sicherer. Sie zog sich am Stamm hoch, begann, einen Fuß vor den anderen zu setzen und balancierte mit ausgestreckten Armen. Nach einer Weile traute sie sich, auf der Stelle zu hüpfen, vor und zurück zu laufen, die lange Astmulde in drei oder gar nur zwei Sprüngen zu überwinden. Sie strahlte. Ihre Selbstsicherheit wuchs, Euphorie stieg in ihr auf. Sie rief ihm zu, er solle sehen, was sie alles könne.

Auch ohne ihre Aufforderung hatte er sie schon die ganze Zeit beobachtet. Ihre geschmeidigen Bewegungen fügten ihren körperlichen Reizen eine gehörige Portion Anmut hinzu. Trotz des ungeeigneten Ortes fühlte er, wie er sie begehrte und rief sich ihr Liebesspiel am Teich in Erinnerung.

Beide sollten sich getäuscht haben! Julia traute sich zu viel zu, und Mike verließ sich zu sehr auf ihre Geschicklichkeit. Gerade hüpfte sie zum Stamm zurück und setzte dabei den linken Fuß zu nah am Rand auf. Mit der Behändigkeit, die sie inzwischen erlangt hatte, sollte dieser Fehltritt allein kein Problem gewesen sein. Den nächsten Schritt einfach weiter rechts getan, und sie hätte ihr Gleichgewicht wiedergefunden. Hier aber wurden ihr die glatte Rinde und das Moos zum Verhängnis. Geistesgegenwärtig warf sie sich zur Astmitte und verhinderte, dass sie abkippte.

Obwohl ihr langsames Abrutschen und der Aufprall auf dem Hosenboden nicht einer gewissen Komik entbehrten, blieb Mike das Lachen im Halse stecken. Er wusste, von seinem Platz auf dem nächsten Ast konnte er nicht schnell genug bei ihr sein, um sie aufzufangen. Aber ihr hochhelfen und sie festhalten konnte er. Wenigstens stand er! Hätte er gesessen, wäre alles zu spät, wäre wirklich jeder Versuch zwecklos gewesen. So aber sprang er bereits in ihre Astmulde, als sie noch nicht ganz saß. Hastig griff er zu. Zu schnell jedoch rutschte sie zur Seite, weder ihre Hand noch ihre Kleidung konnte er greifen.

Auf der Suche nach Halt hatte sie sich zum Ast gedreht, tastete im Rutschen nach Kerben oder Auswüchsen in der Rinde. Unweigerlich zog sie ihr Körpergewicht über den Rand in die Tiefe. Endlich fand sie eine Furche in der Rinde, sie krallte ihre Fingerspitzen hinein, und ihr Rutschen wurde langsamer. Ihre Fingerkuppen brannten. Es gab aber keinen Ast oder Zweig, der ihr zum sicheren Festhalten gedient hätte. Sie schaute am Baum nach unten, verzweifelt hoffend, etwas zu entdecken, das ihren Sturz aufhielte oder an dem sie sich festhalten könnte. Aber die Abstände waren einfach zu groß. Dann sah sie den Aststummel! Direkt neben ihrer Fallrichtung, aber sie müsste sich herumdrehen, die Rettung lag in ihrem Rücken. Fieberhaft überlegte sie, wie sie sich zu bewegen hatte. Sie musste präzise sein, um nicht mit dem Gesicht auf die gesplitterte Bruchstelle zu fallen oder sich ganz aufzuspießen. Panisch spürte sie, wie ihre Finger zu früh den Halt verloren. Die Kerbe war einfach nicht tief genug! Sie ruderte mit den Armen, als ob sie dadurch Auftrieb erhalten könnte. Schon vermeinte sie zu fühlen, wie sie auf dem Waldboden aufschlug und mit verdrehten Gliedmaßen ihr Leben aushauchte. Die dicken, harten Wurzelstränge würden ihr die Wirbelsäule brechen. Einen letzten Blick warf sie ihrem Gefährten zu. Der Glanz, den ihr die Freude über ihr Zutrauen in die Augen getrieben hatte, war längst dem Entsetzen gewichen, sich geirrt zu haben. Mit vor Angst und Verzweiflung aufgerissenen Augen stürzte Julia der Erde entgegen.

 

Mike hatte sich quer auf den Ast geworfen und die Fußspitzen in die Mulde gestemmt. Tatsächlich ertastete er eine Kante, die ihm Halt gab. Er streckte ihr seinen Arm nach ihr aus und griff zu. Den Bruchteil einer Sekunde zu spät!

Julia glaubte, ihr Rückgrat brechen zu spüren. Der Ruck war schmerzhaft und drohte, sie zu zerreißen. So plötzlich schnitt ihr Haltegurt ein. An die Sicherungsleine hatte sie nicht mehr gedacht! Nun hing sie fest. Fest und sicher. In ihrem Innersten jubelte sie. Sie war gerettet! Sie zwang sich, ruhig durchzuatmen, aber ihre Lungen füllten sich nicht. Ihre Brust hob und senkte sich vor Aufregung viel zu schnell. Luft bekam sie trotzdem nicht. Panik erfasste sie, weil sie den Widerspruch in ihrer Situation nicht verstand. Das Begreifen danach machte ihr die Hoffnungslosigkeit umso deutlicher und raubte ihr fast die Sinne. Im Sturz hatte sie die Kletterleine gestreift, ihr rutschender Körper hatte ihren Hals in die Leine hineingedreht. Hätte das Ende an ihrer Seite lose heruntergehangen, wäre nichts passiert. Noch aber war der Tornister ans andere Ende gebunden. Eine Schlaufe legte sich um Julias Hals, das Seil zog ihr den Rucksack so weit nach, bis er sich irgendwo über ihr verklemmte. Hatte sie Glück gehabt, von ihrer Sicherungsleine zuerst aufgefangen worden zu sein? Andernfalls hätte die Schlinge ihr wohl das Genick gebrochen, doch nun drohte sie qualvoll zu ersticken.

Nachdem Mike ins Leere gegriffen hatte, hatte ihn der Rucksack gestreift. Die Gefahr erkannte er dadurch einen Lidschlag eher. Er warf sich seitlich herum, wollte den eingeklemmten Tornister lösen, um Julias Hals freizuwickeln. Eine ausreichende Hebelkraft konnte er aber in seiner Körperlage nicht bewirken. Auch ihr Zappeln erschwerte seine Bemühung. Endlich hatte er eine stabile Lage eingenommen. Sich selbst sicherte er mit einer Leine, die er an irgendeinem Stummel festknotete, der aus dem Stamm herauswuchs. Sein Fuß ertastete eine Furche, die es ihm erlaubte, sich fast senkrecht nach unten zu recken.

Julia hatte mit sich selbst genug zu tun, hatte ihn aus ihren Gedanken und aus ihrem Blick verloren. Seine rettende Hand hätte sie mit Leichtigkeit ergreifen können, hätte sie sie nur bemerkt!

»Julia!«

Er rief sie, schrie sie an, bis sie endlich reagierte. Anstatt weiterhin zu versuchen, ihre Finger zwischen Hals und Schlaufe zu zwängen und sich Luft zu verschaffen, reckte sie in einer letzten Anstrengung ihre Hand nach oben. Dann schwanden ihre Sinne.

Er hatte ihr schlaffes Handgelenk fest im Griff. Er zog sie so weit zu sich, dass er die Schlinge um ihren Hals lockern konnte. Instinktiv nahm ihr regloser Körper die Atmung wieder auf.

Unwillkürlich versteifte sich Mike. Er fühlte die Rinde abblättern und seinen Fuß aus der Kerbe rutschen. Ein letztes Ziehen, eine letzte Drehung, und er hatte Julias Hals endgültig befreit. Er senkte sie so weit hinab, wie er greifen konnte, dann ließ er los. Mit einem kurzen Ruck endete ihr Fall, sie kippte in eine Schräglage und pendelte anderthalb Armlängen außerhalb seiner Reichweite. Er warf sich auf die Knie, war jetzt selbst außer Gefahr. Sein Atem ging schwer. Die Anstrengung hatte ihren Tribut gefordert, und sie war noch nicht vorbei. Er atmete tief durch, dann rappelte er sich halb auf und kroch so weit vor, bis er genau vor Julias straff gespanntem Sicherungsseil hockte. Er griff das Seil, prüfte das Gewicht und stand auf. Vornüber gebeugt, den rechten Fuß nach vorn gestemmt, zog er Hand über Hand die Sicherungsleine ein. Als er endlich den Widerstand von Julias schlaffem Körper an der Unterseite des Astes spürte, kniete er sich wieder hin. Er bemühte sich, sie so um die Rundung zu ziehen, dass ihr Gesicht nicht am Holz schabte.

Nach Ewigkeiten lag sie in der Astkuhle. Er vergewisserte sich, dass ihr Puls und ihre Atmung wieder kräftiger wurden, dann ging er zu seinem Tornister und band den Schlauch mit dem Apfelwein ab. Er stellte die Füße schulterbreit auseinander, lehnte sich mit dem Rücken an den Stamm und setzte den Schlauch an den Mund. Er gönnte sich einen tiefen Zug. Sein Zittern erstarb. Beruhigt sah er zu Julia hinunter.

Entsetzt schlug sie die Augen auf. Ihren Schrei unterdrückte sie gerade noch. Tröstlich wurde ihr bewusst, dass Sturz und Erstickungstod der Geschichte angehörten. Vorsichtig stemmte sie ihren Oberkörper hoch, bis er auf ihren aufgestützten Ellbogen ruhte. Mit Tränen in den Augen sah sie Mike lange an.

Er hatte sich in die Astkuhle gesetzt, den Rücken an den Stamm gelehnt. Julia saß ausgestreckt zwischen seinen Beinen, Kopf und Rücken fest an seine Brust gedrückt. Sein Streicheln fing an, sie zu entspannen. Sie hatten die Blicke auf die Ebene vor dem Wald gerichtet, nahmen ihre Umgebung aber gar nicht wahr. Beide mussten das Erlebnis verarbeiten. Eine Ewigkeit lang sprachen sie kein Wort.

Was passiert mir noch alles mit ihm? Schon wieder hat er mich gerettet. Ohne ihn wäre ich zu Tode gestürzt oder hätte mich erhängt. Aber ohne ihn wäre ich nie auf den Baum geklettert.

Julia schüttelte sich, das Unglück zog noch einmal vor ihrem geistigen Auge vorüber. Dann sprangen ihre Gedanken weiter zurück.

Was habe ich von ihm? Bringt er mich wirklich zum magischen Tor, meinem einzigen Weg nach Hause? Und was will er von mir? Er ist fürsorglich, aber er fordert viel. Der Mittag am Teich war prickelnd, viel zu lange hatte ich keinen Mann mehr gehabt. Er sieht gut aus, er war feinfühlig, behutsam und schließlich impulsiv. Trotzdem will er mich loswerden. Ich verstehe, dass Sex kein Grund für eine Bindung auf Gedeih und Verderb ist. Und sein Geheimnis! Warum hat er so wenig Vertrauen zu mir? Wie kann ich mich dann auf ihn verlassen? So schön es auch mit ihm sein mag, heimzukommen ist mir noch wichtiger.

Trotz ihrer Zweifel zog sie seinen Arm fester um ihre Brust.

Seine Schulter schmerzte. Mike drehte sich ein wenig, um den Druck auf die andere Seite zu verlagern. Julia schaute schräg zu ihm auf. In ihrem Blick lagen Fragen, die er nicht deuten konnte. Er schüttelte den Kopf.

Ist wirklich alles gutgegangen? Wie würdest du dich fühlen, wenn sie umgekommen wäre? Wäre es bloß ein verpfuschter Auftrag wie vor vier Wochen, als du nicht ahnen konntest, dass der Mörder deines Auftraggebers in seinem eigenen Gefolge lauerte, oder ginge es dir nahe? Schließlich hat sie ein hübsches Gesicht und einen perfekten Körper. Das Vorspiel hätte länger dauern können, aber uns beiden hat das Abenteuer Spaß gemacht. Mir viel mehr als die Spielereien mit den Mägden und auch den Bürgersfrauen aus der Stadt! Julia ist feiner, sauber, sie achtet auf sich. Sie hat einfach Stil.

Ein seltsames Gefühl durchzuckte ihn. Da war er wieder, der innere Konflikt! Dieses Hin- und Hergerissensein zwischen der Sehnsucht nach einem Heim, nach Ruhe und Geborgenheit auf der einen und der selbstgewählten Aufgabe auf der anderen Seite. Einer Mission, von der er nicht wusste, ob er sie erfüllen konnte und ob er sie überleben würde. Beim Gedanken an Julia schmunzelte er unwillkürlich.

Seltsam, wie der Umgang mit ihr meine Art zu sprechen und zu denken ändert. Tatsächlich bin ich in meine alte Sprache zurückgefallen. Keine der hier üblichen Formulierungen mehr! Julia verbindet mich sehr mit unserer alten Welt. Auch vom Alter her passen wir zusammen.

Er seufzte, als er sich ein harmonisches Zusammensein vorstellte, das nicht sein durfte.

Werde ich sie wiedersehen, wenn ich sie in Königstein absetze und irgendwann zurückkommen sollte? Wird sie auf mich warten oder ist sie auf und davon?