Siebenreich - Die letzten Scherben

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Aus der Reihe: Siebenreich #1
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Kapitel 3. Nach Königstein

1.

Die Temperatur war herbstlich lau. Schwacher Wind trug von irgendwoher den Duft nach Heu. Sie folgten dem Weg nach Nordosten. Es war ein besserer Trampelpfad, ausgetreten von Bauern und Händlern zog sich eine Spur verdichteter Erde durch bräunlich-grünes Steppengras. Wenige Schritte vor dem Tor hatte er sich dreigeteilt, die beiden anderen Wege führten links und rechts die Mauer entlang und verloren sich grob in Richtung Nordwesten und Südosten. Julia wunderte sich über die eingeschlagene Richtung, hatte Mike doch behauptet, er wolle nach Süden. Sie sagte aber nichts. Den letzten Menschen waren sie auf halber Sichtweite zum Dorf begegnet.

»Was zwinkerst du mir eigentlich dauernd zu?« versuchte sie, ein Gespräch zu beginnen. Das Schweigen war ihr unangenehm, und endlich hatte sie einen Ansatzpunkt gefunden.

»Ich zwinkere nicht. Aber wenn ich die Augen zukneife, kann ich schärfer sehen. Bei einer meiner ersten Rangeleien mit einem Goblin habe ich meine Brille eingebüßt.«

Als sie ihn mit offenem Mund ansah, lachte er.

»Den Verlust habe ich verschmerzt. Es gibt hier wenig zu lesen. Außerdem ist meine Sehfähigkeit hier besser geworden. Das muss an der Magie liegen.«

»Magie? Willst du mich auf den Arm nehmen?«

»Gewiss nicht! Die Natur ist voll davon. Man muss sie nur erkennen und zu nutzen verstehen. Aber nun lass mal, wir sind da.«

Seit einiger Zeit hielt er den Blick gesenkt, hatte fast nur noch in das Gelände unmittelbar rechts des Pfades geschaut. Sie lief in ihn hinein, so abrupt blieb er nun stehen.

»Am Wasser? Ich seh´s nicht.«

Er schüttelte den Kopf und deutete auf eine kleine Pyramide aus vier oder fünf flachen, runden Steinen. Ohne ihn hätte sie sie übersehen. Er trat wenige Schritte neben den Weg, dann zog er den Tornister vom Rücken, kniete sich hin und begann mit den Händen in der losen Erde zu scharren.

»Werkzeug lohnt nicht«, erklärte er, als er ihren fragenden Blick bemerkte, sagte aber nicht, was er ausgraben wollte.

Das war ohnehin nur von einer dünnen Schicht bedeckt, und nicht einmal vollständig, wie sie nun bemerkte. Es sah aus wie eine hölzerne Trage, nur dass sie dreieckig war, gefertigt aus Birkenstämmen und Leder. Über die Last spannte sich grauer Stoff.

»Mein Schlitten. Für dich ist er leider nicht stabil genug. Ich hoffe, du bist gut zu Fuß.«

Er richtete sich auf, ging bis zum Weg zurück und verwischte mit einem herumliegenden toten Zweig die Spuren bis zu ihrem Standort. Die Steine hatte er in verschiedene Richtungen zwischen die Büsche geschleudert. Er legte den Tornister auf die Trage, wickelte sich den Riemen ums Handgelenk und richtete sich auf.

»Da lang.«,

Er zeigte mit der freien Hand querfeldein in grob südliche Richtung, in der sie Wald ausmachte.

»Ich hatte dir ja einen Platz zum Waschen versprochen. Den musst du dir jetzt erarbeiten.«

Damit zerstreute er endgültig ihre Befürchtung, diesen und vielleicht auch die nächsten Tage verschwitzt und mit juckender Haut zubringen zu müssen. Von einem Bach hatte er gesprochen, sie freute sich darauf, und die eine Meile würde sie noch aushalten.

»Gibt es denn hier keinen Weg zum nächsten Dorf? Bei unserem Aufbruch habe ich mindestens zwei gesehen. Einer ging nach Süden, wo du hinwillst.«

»Klar gibt es Wege, aber die meisten Dörfer in Richtung Königstein sind von Räuberbanden besetzt, und ich habe keine Lust, mich in jedem Weiler mit fünfzehn bis zwanzig dieser Galgenvögel anzulegen. Das ist manchmal gefährlicher als ein Kampf mit Orks. Vor allem bringt ein Angriff fast immer die Dorfbewohner in Gefahr. Die werden sozusagen in Geiselhaft gehalten, aber bis auf Diebstahl und Vergewaltigung passiert ihnen recht wenig.«

»Raub und Vergewaltigung sind für dich wenig?« Julia wurde heftig. »Denkst du gar nicht an die Opfer, an ihre Schmach und die Peinlichkeit?«

»Erstens habe ich es so nicht gesagt, und zweitens würde ich es nicht peinlich nennen«, verteidigte er seine Rede, »wenn eine Frau vergewaltigt wird. Es ist aber immer noch besser, als erschlagen zu werden, nur, weil einen einzelner tapferer Retter erpressbar ist. Wir bringen jede Stunde einen Dorfbewohner um, wenn du dich nicht stellst. oder Für jeden von uns sterben drei von denen. So läuft das.«

»Und die Soldaten des Königs? Reguläre Truppen, Stadtwachen?«

Sie redete immer hastiger, lauter. Schließlich blieb sie stehen.

Er zog an ihr vorbei und zwang sie so weiterzugehen.

»Die Soldaten sind am Nordwall gebunden, und Stadtwachen – aber es gibt bis Königstein ohnehin keine Städte – trauen sich nicht aus ihren Mauern heraus. Zumindest nicht, solange sie nicht selbst angegriffen werden.« Mike zupfte nachdenklich an seinem Kinnbart. »Und sollte irgendwann einmal der Krieg vorüber sein, dann werden die Dörfer durch die heimkehrenden Truppen von diesem Gesindel gesäubert. Bis dahin müssen wir uns in dieser Gegend querfeldein durchschlagen.« Er zuckte die Schultern, und als Julia nichts erwiderte, fasste er die Leine seines Schlittens ein Stück kürzer,

»Erzähl mal«, knüpfte sie ein paar hundert Meter weiter an das Gespräch vom Vorabend an, »wie bist du hierhergekommen?«

»Eine längere Geschichte«, entgegnete er, »es war ein Betriebsausflug. Von Sonthofen aus.«

Auffordernd nickte sie ihm zu. Die wellige Landschaft bot wenig Sehenswertes, und so hatten sie Unterhaltung für die nächste Viertelstunde.

»Zum Ausflug war ich mit Kollegen und Ehemaligen aufgebrochen. Eine Wanderung im Allgäu, kein Klettern, kein Kraxeln. Nach einem Frühstück auf einer Alm, die Verpflegung hatten wir in unseren Rucksäcken dabei, hatte sich die Gruppe auseinandergezogen. Ich hatte mich mit ein paar Kollegen und ihren Ehefrauen an die Spitze gesetzt. Obwohl vorher schon die nächste Wiese durchgeschimmert hatte, erwies sich ein Wäldchen plötzlich als unendlich. Da erst entdeckten wir den natürlich gewachsenen Torbogen, durch den wir gerade marschiert waren: Zwei mächtige Bäume mit ineinander verschränkten Kronen. Eben noch hatten wir uns mit der Gruppe hinter uns unterhalten, und nun waren wir schlagartig allein! Alles Suchen und Rufen fruchtete nichts, unsere Mobiltelefone brachten keine Verbindung zustande. Übernachten mussten wir auf dem Waldboden. Am zweiten Morgen wurden wir immer noch im Wald wach. Besser gesagt: Wir wurden geweckt. Von einer Überzahl grobschlächtiger Gestalten.«

»Holzfäller? Räuber? Die musst du mir genauer beschreiben!«

»Klar«, gern ging er auf ihren Wunsch ein. »Alle waren mehr als mannsgroß. Schultern und Hüften breit, Brustkorb voluminös, die Beine stämmig, die Arme kräftig, und Hände wie Schraubstöcke. Alle trugen derbe Kleidung aus grobem Stoff mit Leder- oder Fellbesatz, dazu die meisten eiserne Harnische und flache Helme. Die Füße steckten in gebundenen Stiefeln aus Fell oder grobem Leder. Ihre Gesichter waren rundlich mit einem Teint zwischen hellbraun und gelblich-oliv. Unter der fliehenden Stirn schauten kleine Augen neben einer breiten Nase über runde Wangen. Der Mund war breit, und alle hatten sie einen ausgeprägten Unterbiss. Nicht nur deshalb verstand ich ihre gutturale Sprache nicht, ich hatte sie noch nie gehört gehabt. Starke Körper- und Gesichtsbehaarung hatten alle. Dem Körpergeruch nach Schweiß und Urin war nicht auszuweichen. Jeder trug ein Schwert mit gezahnter Klinge, die unterhalb der hakenförmigen Spitze um drei Fingerbreit nach hinten versprang.«

Er schluckte.

»Ich hatte schon genug über sie gelesen, sodass ich sie ganz gut kannte. Nie jedoch hatte ich geglaubt, dass es sie wirklich gibt.«

Er holte tief Luft.

Erwartungsvoll blickte sie ihn von der Seite an.

»Orks.«

»Mein Gott! Und was ist dann passiert?«

„Keiner von uns hat sich gewehrt. Sie haben uns die Hände gefesselt und uns vor sich hergetrieben. Es war ein beschwerlicher Marsch. Sie hatten weitere Gefangene dabei. Zwar durften wir nicht miteinander sprechen, aber die erzählten uns, wir würden auf einem Sklavenmarkt im Süden verkauft. Deshalb haben die Orks auch keinem von uns etwas angetan. Schließlich waren wir gutes Geld wert.«

»Sklaverei? Heute noch? Wie bist du daraus freigekommen?«

»Sie hatten mich gar nicht bis zum Sklavenmarkt gebracht. Ich hab’ die erste Gelegenheit zur Flucht genutzt, hab’ Glück gehabt.«

»Und deine Kollegen? Was ist mit denen geschehen?«

Mit einem schnellen Schritt stellte sie sich direkt vor ihn und vertrat ihm den Weg. Sie platzte vor Neugierde.

Er musste abrupt stehen bleiben, prallte dennoch fast gegen sie. Sein Schlitten stieß ihm in die Kniekehle. Er bückte sich, rieb die schmerzende Stelle. Als er sich aufrichtete, zuckte er mit den Schultern.

»Ich habe keine Ahnung, habe nichts mehr von ihnen gehört. Ich hatte mich verkrochen, bin ihnen nicht gefolgt. Vor den Orks hatte ich Angst, wollte mich nicht nochmal erwischen lassen. Ein schlechtes Gewissen hab’ ich immer noch, weil ich nicht versucht habe zu helfen. Aber darüber möchte ich nicht reden. Außerdem sind wir fast am Ziel, und ich will mich vorher noch umsehen. Lass uns weitergehen!«

Er ging so knapp um sie herum, dass sein Schlitten ihre Beine streifte, als er ihn mit einem Ruck anzog. Eine kleine Rache für ihr Abblocken eben.

2.

Während des Marsches war ihr aufgefallen, dass die Büsche weniger dicht wuchsen, je näher sie dem Wald kamen. Einzelne Birken durchsetzten eine sandige Heidelandschaft. Den Waldrand hatten sie beinahe erreicht, als er ihr ein Zeichen gab anzuhalten. Dankbar setzte sie sich auf eine etwas höhere Grasinsel und massierte ihre Waden. Die fast zwei Meilen strammen Schrittes hatten sie nicht überfordert, aber sie hatte sich anstrengen müssen, mit ihm Schritt zu halten. Er wickelte den Riemen des Schlittens ab, ließ ihn fallen und rieb sich das Handgelenk. Tief eingeschnitten hatte der Riemen nicht, aber doch rötliche Streifen auf seiner leicht gebräunten Haut hinterlassen.

 

Helle Spuren, die vom Tragen einer Armbanduhr in sonnigen Zeiten hätten zeugen können, entdeckte sie nicht. Also musste es stimmen, dass er schon länger hier lebte. Dafür bemerkte sie erst jetzt seinen Ehering. Sie schüttelte den Kopf über die späte Entdeckung. Bei attraktiven Männern hatte sie immer als erstes auf so etwas geachtet, das war normal gewesen. Heute aber war der fünfte Tag, an dem eben nichts mehr normal war. Die Zeitspanne kam ihr vor wie eine Ewigkeit. Sie riss sich von ihren Gedanken los und sah zu ihm auf.

»... alleine zum Waldrand«, hörte sie noch. Den ersten halben Satz hatte sie verträumt. »Das ist immer eine kritische Situation«, verstand sie, da sie sich nun auf ihn konzentrierte, »du wartest hier. Ich bin in einer Viertelstunde zurück, es sei denn, dort ist etwas. Dann komm bloß nicht nach, sondern renn’ zum Dorf zurück. Und lass dich unterwegs nicht erwischen!«

Hastig nickte sie zur Bestätigung. Eine unbestimmte Furcht mischte sich in ihre Enttäuschung darüber, dass er sie nicht gleich zu dem klaren, frischen Waldbach mitnahm, nach dem sie sich so sehnte. Unwillkürlich duckte sie sich.

Er reckte sich und schritt langsam auf eine markante, einsam vor dem Wald stehende Eiche zu. Zwei magere, nicht einmal schulterhoch gewachsene Sträucher drückte er auseinander und zwängte sich hindurch. Und war plötzlich verschwunden!

Ungläubig rieb sie sich die Augen, sie hatte ihm doch nachgeschaut. Sie arbeitete sich hoch und rannte ihm bis zu den Sträuchern nach. Von der Stelle seines Verschwindens an war die Ebene so gut wie unbewachsen und leicht zu überschauen. Deutlich erkannte sie am Waldrand die licht stehenden Laubbäume. Vereinzeltes Gesträuch dazwischen, kein Unterholz. Der Weg zum Bach war offenbar gut begehbar. Und ihr Orkjäger? Weg! Sie schüttelte den Kopf und war sich sicher, einer optischen Täuschung zu unterliegen: In Richtung der Eiche vermeinte sie, kleine Staubfontänen zu erkennen, jeweils eine gute Schrittweite von der vorigen entfernt. Zum Wald hin entstanden neue, während die älteren verflogen.

Verwirrt kehrte sie zu ihrem Platz zurück und setzte sich wieder.

Irgendwann versuchte sie, von da aus die Last auf dem Schlitten zu erkennen. Die graue Decke darüber gab die Konturen nur schemenhaft preis, also stand sie auf und ging hinüber. Die Decke war mit locker gespannten Lederriemen gegen Herunterrutschen gesichert. Sie schob eine Hand darunter und tastete. Harte, runde Formen und … Ein plötzlicher Schmerz fuhr ihr in die Fingerspitze. … und scharfe Gegenstände! Sie schrie kurz auf, hastig zog sie ihre Hand zurück. Instinktiv steckte sie den Finger in den Mund, sog an dem Schnitt und betrachtete dann ihre Fingerkuppe. Sie blutete nicht, der Schnitt war nur oberflächlich. Nun war ihre Neugierde so groß, dass sie sich gar nicht mehr zu beherrschen versuchte. Sie machte sich keine Gedanken darüber, ob es richtig wäre, seine Habe bloßzulegen. Auf einer Seite band sie die Decke los und schlug sie zurück. Was sie sah, machte ihr wieder deutlich, in welch verrückte Welt sie eingetaucht war: eiserne Waffen und Rüstungen. Die Helme waren flach, und vereinzelt gewahrte sie an ihnen dicke, störrische Haarsträhnen innen und an den Riemen. Dass sich Haare auch in den Brustpanzern fanden, konnte sie sich zuerst nicht erklären. Ja, doch, sie schienen ausgerissen, als habe sich jemand nicht die Mühe gemacht, die Schnallen ganz zu öffnen. Dass einige Riemen abgerissen waren, gab ihr wohl recht. Alle Rüstungsteile wie auch die schweren, am Ende gebogenen Schwerter mit gezahnter Schneide wiesen Rost auf. Einige dazu dunkle Verkrustungen, an den Waffen flächig, an den Rüstungen Spritzer. Blut, schoss es ihr durch den Kopf. Wer die früheren Träger dieses Eisenwarenlagers waren, hatte er ihr ja angedeutet. Die großen Größen waren von Orks gewesen, die kleineren hatten Goblins gehört. Nun wollte sie unbedingt mehr über ihn erfahren. Und darüber, wie er lebte.

»Verdammt«, murmelte sie halblaut, »wenn ich ihm doch nicht jedes Wort über sich aus dem Nase ziehen müsste!«

Am Abend hatte sie angefangen, ihn auszufragen über sein altes Leben zu Hause, wie sie sich ausgedrückt hatte. Aber kaum hatte sie den Mund aufgemacht, hatte er ihr mit einem knappen »Darüber möchte ich nicht sprechen.« eine Abfuhr erteilt.

»Naja, das kommt wohl vom einsamen Leben in der Wildnis. Aber wie bist du Orkjäger geworden? Und wie gefährlich ist das?« fragte sie sich nun. Menschen als Orkjäger, noch dazu Einzelgänger, das war etwas, was nicht zusammenpasste. Hatte er ihr doch vorhin die Orks als über mannsgroß, grobschlächtig, bärenstark und grausam beschrieben. Und immer traten sie in Gruppen auf.

Und noch etwas fragte sie sich:

»Willst du wirklich nur wissen, was einem das Leben in diesem Siebenreich beschert, oder fängst du an, dich für den Kerl zu interessieren?«

Sie spürte einen Hauch, sah aus den Augenwinkeln eine Bewegung. Sie fuhr zusammen. Die Gefahr fiel ihr ein, von der er gesprochen hatte. Zitternd drehte sie sich um. Erleichtert atmete sie auf, als sie ihn erkannte. So vertieft war sie in ihren Fund gewesen, dass sie ihn nicht hatte kommen sehen. Der sandige Grund hatte zudem die Geräusche seiner Schritte verschluckt.

Nun erwartete sie eine Gardinenpredigt.

»Zu Recht«, meldete sich ihr Gewissen. Aber ihre Neugier obsiegte, und sie kam ihm zuvor.

»Erzähl«, sprudelte es aus ihr heraus, »was sind das für Sachen? Ja, Rüstungen und Waffen, das sehe ich. Aber wie bist du darangekommen? Orks sind doch stärker als du. Wie viele wart ihr, als ihr mit ihnen gekämpft habt?«

Die Waffen und Rüstungsteile mussten Teil der Beute sein, die er nach einem Kampf an sich genommen und mit seinen Kampfgefährten geteilt hatte. Aber wo waren die anderen Orkjäger? Und wo die übrigen Sachen? Kleidung, Gürtel, Schuhe? Schmuck, Geld?

Er schloss den Mund wieder. Seinem Zorn hatte er Luft machen wollen, sie zur Rede stellen, weil sie in seinen Sachen herumgeschnüffelt hatte. Als sie nun mit schief gelegtem Kopf vor ihm stand, schluckte er seinen Ärger hinunter. Im Gegenteil, ihre Neugier trieb im ein breites Grinsen ins Gesicht.

»Das erzähl ich dir alles nachher beim Essen. Die Luft ist rein. Wir machen uns jetzt erst mal frisch. Danach haben wir genug Zeit für deine Fragen.«

Verwundert schüttelte er den Kopf darüber, dass ihr Entsetzen über diese raue Welt sich schon nach so kurzer Zeit mit Wissbegierde mischte und fast schon verdrängt wurde. Sie würde sich bald hier zurecht finden.

3.

Der Waldrand war nicht weit. Während Mike sich vorhin zwischen dem Buschwerk vorsichtig bewegt und vermieden hatte, aus dem Sichtschutz herauszutreten, gab er sich nun ungezwungen. Er ging aufrecht, und auch die Schleifspuren seines Schlittens kümmerten ihn nicht.

Innerhalb des Laubwäldchens, von dem sie beim Betreten fast das gegenüberliegende Ende sehen konnte, schwenkte er gleich nach links.

Während der ersten Schritte fröstelte Julia, im Wald war es kühler. Ihr Zittern verging, nachdem sie die Arme fest vor ihrer Brust verschränkt und zweimal die Schultern angespannt und wieder gelockert hatte. Die Steigung war gering. Ein Gurgeln und Sprudeln klang von dort herab. Sie beschleunigte ihren Schritt, überholte Mike sogar. Wenn sie ihm nicht gerade zuhörte, hatte sie sich immer hinter ihm gehalten, nur wenige Male zu ihm aufgeschlossen, um eine Frage zu stellen oder ihm eine Entdeckung mitzuteilen.

Kaum hatte sie sich vor ihn gesetzt, hörte die Steigung auf. Sie betrat eine kleine Lichtung, dahinter ging es wieder bergauf. Es roch nach frischem Wasser. Von oben kam ihr ein Rinnsal entgegen, seicht und so schmal, dass sie hätte darüber steigen können. Das Plätschern rührte von Wirbeln her, verursacht von Wurzeln, die in die leichte Strömung hineinwuchsen. Neugierig lief sie schneller. Nach wenigen Schritten stand sie am Rand eines Teichs, der mit einem Durchmesser von vierzig, fünfzig Metern und mit seinem kristallklaren Wasser regelrecht zum Baden einlud. Vorerst ließ sie sich aber nur auf die Knie fallen und schöpfte mit beiden Händen Wasser.

Nachdem sie ihren Durst gestillt hatte und zusah, wie Mike den Tornister vom Schlitten schnallte und ihre Mahlzeit daraus hervorzog, kam ihr wieder zum Bewusstsein, dass sie vor dem Mittagessen noch etwas zu erledigen hatte: Körperpflege, soweit das in der Natur möglich war. Auch ihre Verdauung meldete sich wieder. Das Drängen hatte sie bis jetzt unterdrückt, nun aber wurde es unbequem. Sie druckste herum. Schweißperlen warteten unter ihrer Haut darauf hervorzubrechen.

Er deutete ihren Zustand richtig.

»Geh halt hinter die Büsche. Ich guck auch nicht. Papier gibt es keins, aber die Blätter hier sind zäh und faserig. Sie wachsen fast überall.«

Er hielt ihr ein Bündel rötlich-grüner handgroßer Blätter hin. Nachdem sie sie ihm zögernd abgenommen hatte, pflückte er den Busch fast kahl. Die Blätter steckte er in eine Seitentasche seines Tornisters, dahin, wo er eben Brot, Fleisch und Käse entnommen hatte, nur tiefer.

»Benutz´ die Oberseite, die mit den kleinen Borsten«, hörte sie noch. Sie vertraute darauf, dass er hielt, was er versprochen hatte, und ihr nicht folgte.

Das nächste Hindernis stand bevor. Wie sollte sie ihm klar machen, dass sie allein sein wollte, wenn sie sich wusch? Die Erinnerung an die beiden Waschtröge in der Herberge war für sie der blanke Horror.

Ihre Gefühle kümmerten ihn wohl überhaupt nicht! Er hatte sich entkleidet und stand bis über die Knie im Wasser, als sie aus den Ginsterbüschen hervor wieder an den Teich trat. Er drehte ihr den Rücken zu. Sie fand, er sei ganz gut gebaut für sein Alter. Offensichtlich führte sein Leben in der Wildnis dazu, dass er mehr Muskeln als Fett ansetzte. Da fiel ihr ein, dass sie ja überhaupt nicht wusste, wie alt er war, nur von seiner Haarfarbe hatte sie darauf geschlossen. Auf einmal interessierte es sie, sie würde ihn trotz seiner Abfuhr letzte Nacht fragen. Unwillkürlich griff sie sich ins Haar, kämmte es mit den Fingern und strich sich eine Strähne aus der Stirn.

Am Morgen hatte sie beobachtet, dass Schamhaftigkeit bei der hiesigen Bevölkerung nicht gerade großgeschrieben wurde. Als er dann auch noch über die Schulter zurückschaute, als wolle er fragen, worauf sie denn noch warte, überwand sie ihre Scham und entkleidete sich bis auf ihre Leibwäsche. Aber die musste sie auch noch waschen. Als sie seine Unterhose entdeckte, die über einem Strauch hing, aus Leinen mit groben Stichen genäht und schon im Wasser durchgewalkt, zog sie sich ganz aus. Ihm den Rücken zugewandt, wusch sie ihre Wäsche und breitete sie über einem anderen Strauch in den reichlich durchs Blätterdach dringenden Sonnenstrahlen aus.

Mittlerweile war er in brusttiefes Wasser vorgedrungen, hatte sich umgedreht und beobachtete sie.

»Du siehst gut aus. Kannst so bleiben«, lachte er und winkte ihr zu, sie solle ins Wasser kommen.

Als sie sich umdrehte und sich mit kleinen Schritten ins tiefere Wasser tastete, hielt sie trotz seines Kompliments die Arme über ihre Brüste und ihre Scham gepresst.

Das Wasser war kalt. Ihm schien das nichts auszumachen, er hatte in kreisförmigen Bahnen zu schwimmen begonnen. Nun war es zu spät, sie hatte ihn nackt gesehen, er sie auch, also ging sie so weit zur Mitte des Teiches, bis ihr das Wasser bis über die Brust reichte. Die kurzen Zeitspannen, die er nicht zu ihr herüber sah, nutzte sie, um sich unter Wasser mit beiden Händen von Kopf bis Fuß abzuschrubben.

Als sie sich sauber fühlte, suchte sie ihn. Wild schüttelte sie den Kopf, zog mit beiden Händen ihr triefend nasses Haar aus dem Gesicht, bis es über ihren Schultern lag.

Kaum hatte sie ihre Frisur gerichtet, da kam es zu einer Begegnung halb über, halb unter Wasser. Er war tauchend zu ihr geschwommen und unmittelbar vor ihr aus dem Wasser geschnellt. Ihr Schrecken dauerte nur einen Lidschlag lang. Mit der flachen Hand hieb sie auf die kleinen Wellen und spritzte ihm das Wasser in die Augen. Sofort war eine neckische Wasserschlacht im Gang, und irgendwann berührten sich ihre Körper. Spontan umarmten sie sich und gingen Hand in Hand ans Ufer.

 

Abrupt ließ sie ihn los und schlang die Arme um ihren Körper.

Als er ihre Gänsehaut bemerkte, öffnete er den Tornister und kam mit den Decken wieder, die in der Nacht ihr Lager gebildet hatten. Eine schlang er um ihren zitternden Leib, die andere reichte er ihr. Mit einer Mischung aus Neugier und Skepsis ließ sie zu, dass er sofort anfing, sie trockenzureiben. Sie wickelte sich das zweite Tuch um den Kopf und wrang sich damit das Wasser aus dem Haar. Dann genoss sie die wohlige Wärme, die sein Frottieren verursachte. Sie blickte an sich herab auf ihre gerötete Haut, nahm ihm die Decke aus der Hand und begann ihrerseits, ihn damit zu massieren. Dass seine Haut schon trocken war, wollte sie nicht bemerken.

Als sie von ihm abließ, breitete er die große Decke auf dem Moos aus. Sie legten sich hin, und er nahm sie in den Arm.

»Gelegenheit macht Liebe«, heißt es in Abwandlung eines alten Sprichwortes.

4.

Später saßen sie nebeneinander am Ufer und genossen ihre Mahlzeit. Ihnen kam die ewig gleiche Zusammenstellung aus Brot, Braten und Käse keineswegs eintönig vor. Abwechslung war hier ein Luxus, der nicht jedem zugänglich war. Ihre Leibwäsche trocknete noch, ihre ledernen Anzüge hatten sie zum Lüften unweit davon an festere Äste gehängt. Alles brauchte noch Zeit, bis es wieder angezogen werden konnte. Nachdem sie mit essen fertig waren, hatte sie nachgeschaut.

Sie stutze, als ihr bewusst wurde, dass sie ihn unwillkürlich näher betrachtete. Trotz seines angenommenen Alters, das sie immer noch viel zu niedrig schätzte, machte er eine gute Figur. Aufrecht, straffe Schultern. Kein Sixpack, aber auch im Sitzen blieb sein Bauch flach, ohne dass er ihn eingezogen hätte. Feste Oberschenkel, stramme Waden. Alles geprägt durch ständige Bewegung in freier Natur. Dass er ausdauernd war, hatte sie nicht nur beim Laufen mitbekommen.

Sie verspürte wieder Lust auf ihn.

»Du wolltest wissen, …«

»Äh, wie bitte?«

Seine Worte beendeten ihre beginnende Erregung. Da sie merkte, dass er auf ihre unterwegs gestellten Fragen einging, ließ sich ablenken und hörte ihm zu.

Vielleicht danach?

Sie errötete leicht, was ihm aber nicht aufzufallen schien. Zumindest machte er keine diesbezügliche Bemerkung, sodass ihre Verlegenheit sich gleich wieder legte.

»Also«, fing er an, »du wolltest wissen, was das für Sachen sind, und wo sie herkommen. Einfach erklärt, bin ich vor drei, vier Tagen am Nachmittag fast über einen Trupp Orks gestolpert. Zwei Goblins waren auch dabei. Sieben Mann insgesamt. Sie hatten einen unpraktischen Ort zum Lagern ausgesucht, von allen Seiten einsehbar. Gerade waren sie dabei, ihr Abendessen aus ihren Bündeln zu packen. Sie steckten rohes Fleisch in ellenlangen Fetzen auf angespitzte Stöcke und legten es griffbereit neben die Feuerstelle. Naja, einen kegelförmig aufgeschichteten Haufen trockener Äste, die sie auf Unterarmlänge gebrochen hatten. Ordentlich, die dünnen Zweige innen, nach außen wurde das Brennholz dicker, und ganz innen Stroh. So, wie man´s eben macht. Auf das Ausheben einer Feuergrube, die den Feuerschein verborgen hätte, hatten sie verzichtet. Sie fühlten sich halt sicher.«

Nun hing sie begierig an seinen Lippen, wollte an seinem Wissen über das Leben hier draußen teilzuhaben.

»Die zwei, die sich mit den Feuersteinen herumplagten, waren nicht besonders erfolgreich. Der ganze Trupp wohl Rotärsche.«

»Rot…was?« Sie zog die Stirn in Falten.

»Neulinge. Anfänger.«

»Ach so, verstanden!« Sie nickte.

»Schließlich widmeten sich alle sieben dem Feuermachen. Zwei oder drei wetteiferten miteinander mit trockenem Holzmehl aus faulen Baumstämmen oder mit trockenen Gräsern. Die übrigen gaben gut gemeinte Ratschläge. Einer pustete jeden aufglimmenden Funken wieder aus, anstatt zu warten, bis eine kleine Flamme das trockene Zeug wenigsten stellenweise entzündet und sich Glut gebildet hätte. Alles in allem stümperhaft, und an ihre Sicherung hatten sie überhaupt nicht gedacht. Normalerweise hätte einer oder hätten zwei Wache halten müssen und sich so lange gar nicht am Lagerleben beteiligen dürfen.«

»Du warst allein?«

»Natürlich, wie gewöhnlich. Bin halt Einzelgänger. Orks zu jagen ist kein schönes Geschäft, und die anderen Orkjäger sind selten nach meinem Geschmack. Im Gasthof zusammen einen trinken, ja. Gespräche schön und gut. Jeder prahlt dabei, ich auch. Aber noch lieber höre ich zu, ich kann jede Menge Neuigkeiten dabei aufschnappen.«

Er nahm einen Schluck Apfelwein aus dem Lederschlauch.

»Also habe ich meinen Kampfzauber ausgepackt und die ersten drei ins Jenseits geschickt. Das war für sie schnell und schmerzlos. Ich habe erst lernen müssen, dass so etwas auch den Orks gegenüber nur fair ist. Sie sind eben so, wie sie sind. Sie kennen es nicht anders. Deswegen muss ich sie nicht zu Tode quälen. Dann habe ich an meinem Ring gedreht, meine Schwerter gezogen und bin zu ihnen gerannt. Es war einfach, sie bewegten sich nicht einmal. Sie hatten sich über das Zusammensacken ihrer Gefährten genauso gewundert wie du gestern Abend bei den beiden Räubern.«

Er bemerkte ihre gefurchte Stirn.

»Mein Kampfzauber. Und sehen konnten sie mich nicht. Das mit dem unsichtbar machenden Ring hast du ja wohl vorhin erkannt. Der Waldboden war weich. Moos, keine Zweige, keine trockenen Blätter. Also war ich lautlos über ihnen, solange sie noch über ihre Kumpane gebeugt standen. Ein Dutzend schneller Hiebe. Keine Gegenwehr. Die Überraschung war zu groß, außerdem standen sie sich gegenseitig im Weg und hätten ihre Waffen gar nicht ziehen können. Alles hat keine halbe Minute gedauert. An Beute nimmst du dann nur mit, was du verkaufen kannst. Dazu gehört eigentlich alles, was aus Eisen ist, obwohl es am meisten wiegt. Der Rest ist grobes, brüchiges Leder, aber das kauft dir kein Mensch ab. Und sonst haben sie nichts, was auch nur einen gewissen Wert hätte.«

Er zuckte die Schultern, überzeugt, alles Wissenswerte weitergegeben zu haben.

»Aber«, warf sie zaghaft ein, »das waren doch offenbar noch halbe Kinder, wenn sie sich so verhalten. So unvorsichtig, meine ich. Und hatten sicher Familie.«

Sie konnte sich die Verhältnisse einfach nicht vorstellen.

Er schüttelte den Kopf und tischte ihr die landläufige Meinung auf.

»Alle Orks hält man für stark. Und grundsätzlich für grausam, sogar sadistisch. Es gibt nur Krieger, Männer. Keine Frauen, erst recht keine Orkkinder. Keine kleinen Orks, die Ball spielten, Abzählverse singen oder mit Holzschwertern kämpfen üben. Jedenfalls hat man diesseits der Grenze zu den Orklanden die noch nie gesehen, Krieger aber zuhauf.«

Die Sache mit dem Kampfzauber und dem Ring war in ihrem Entsetzen über den Tod der orkschen Kindersoldaten gar nicht bis in ihr Bewusstsein vorgedrungen. Sonst hätte sie ihn ausgefragt, was es mit der Magie auf sich habe. Er hatte sie gestern Abend und heute kurz nach ihrem Aufbruch nur als Teil der Naturgesetze angerissen, aber nicht weiter beschrieben.

Die Lust auf ihn war ihr nach seiner Schilderung, wie er die wehrlosen, jungen Orks überfallen und abgeschlachtet hatte, vergangen. Sie schauderte. Sie fragte sich, wie sein im Grunde umgängliches Verhalten und seine Kaltblütigkeit zusammenpassten.

5.

Irgendwann waren sie zu dem Schluss gekommen, aufbrechen zu müssen.

»Bis zum Abend schaffen wir es zu einem Wald, dessen Bäume uns guten Schutz vor wilden Tieren, Räubern und vielleicht Orks bieten. Man kann ziemlich leicht hinaufklettern, und das Laub verhindert, dass man von unten gesehen wird. In den Astgabeln haben wir gute Schlafplätze. Lass dich überraschen! Solche Bäume hast du noch nie gesehen.«