Siebenreich - Die letzten Scherben

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Из серии: Siebenreich #1
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Das Verhalten eines geübten Messerstechers! Julia kannte es aus Filmen. Sie konnte sich nicht erinnern, ihn in der Gaststube gesehen zu haben. Vielleicht hatte er sich in der Dämmerung eingeschlichen, um zu später Stunde einzelne Zecher auf ihrem Weg zum Schlafplatz abzupassen. Dies barg für ihn wenig Gefahr, die Opfer wären wohl müde und nicht mehr ganz die Herren ihrer Sinne. Und bis jemand auf ihre Hilferufe aufmerksam geworden wäre und zwischen den Nebengebäuden des Gasthofes den Tatort ausgemacht hätte, wäre er längst über alle Berge. Aber es war ohnehin unwahrscheinlich, dass jemand zu Hilfe käme. Zu groß wäre die Angst, selbst Opfer zu werden. Wer würde ihnen helfen?

So stand er ihnen gegenüber, Hohn und Überlegenheit sprachen aus seinem gehässigen Grinsen. Sein schlechtes und lückenhaftes Gebiss fand Julia abstoßend. Seine Handbewegung war klar, er hatte es auf ihre Habe abgesehen. Der Tornister versprach reiche Beute.

Sie sah zu Mike hoch. Gib ihm endlich den verdammten Rucksack, forderte sie ihn in Gedanken auf. Zu sprechen traute sie sich nicht. Alles andere als sicher war sie sich allerdings, ob der Schlitzer sie dann gehen ließe. Zumal sie nun eine weitere Gestalt aus dem Nebel auftauchen sah.

Der Neue war kräftig gebaut, ohne dick zu sein. Eher zäh und ausdauernd. Er drückte sich zwischen seinem Kumpan und dem Bretterzaun hindurch. Auf diese Weise würde er sich Mike und Julia in den Rücken schieben. Sein Messer ließ er im Gürtel stecken. Stattdessen schwang er eine Keule in Richtung seiner Opfer.

Julia zitterte, kalter Schweiß stand ihr auf der Stirn. Die Situation war eindeutig, die Halsabschneider brauchten keine Worte. Sie hatte sich flach an den Zaun gedrückt. Verzweiflung packte sie, als sie feststellen musste, dass es unmöglich war, sich durch die zu schmalen Lücken zu zwängen. Instinktiv ging sie in die Hocke. Dass auch das keine Rettung versprach, war ihr klar. Es gab ihr höchsten ein paar Augenblicke mehr zu leben. Genau die Zeit, die die Galgenvögel brauchten, sie auf die Beine zu ziehen, nachdem sie Mike erstochen oder erschlagen hatten! Er stand so, dass er keines seiner Schwerter hätte ziehen und sich verteidigen können. Ihr Schicksal war besiegelt.

Zwischenzeitlich hatten die Räuber ihre Opfer eingekeilt. Julia musste sich beinahe übergeben vor Angst und Ekel. So nah standen ihr die beiden, dass ihr der Geruch nach Schweiß und Alkohol Übelkeit bereitete. Anscheinend genossen sie ihre Position der Stärke, sonst hätten sie schon längst angegriffen. Aus der Nähe sah Julia nun die Nägel, die der Größere in seine Keule getrieben hatte. Lang. Spitz. Tödlich.

Von Mike durfte sie dieses Mal keine Hilfe erwarten. Sie fand ihn unbewegt, angespannt. Er blickte den Wegelagerern in die Augen, als versuchte er, durch ein erhaschtes Blinzeln den Augenblick des Angriffs zu erkennen.

Leises Scharren erweckte Julia aus ihrer Starre. Unvermittelt sackte der Messerstecher in sich zusammen, ohne dass sie vorher eine Regung der drei Männer hatte erkennen können. Auch der Schläger blickte verständnislos auf seinen Spießgesellen. Als er den Kopf wieder seinem vermeintlichen Opfer zuwandte, war dies die letzte Bewegung, die er in seinem Leben vollführte.

Mike untersuchte die Toten schnell und oberflächlich. Er streifte ihre Jackenärmel zurück, Julia konnte flüchtig bei beiden eine Art Brandmal oder Tätowierung an der Innenseite eines Unterarmes erkennen. Mike nickte, murmelte etwas, das Julia nicht genau verstand. Es hatte geklungen wie »Hatte ich erwartet«.

Als er mit seiner Untersuchung fertig war, beugte sich zu Julia herab und zog sie am Handgelenk auf die Beine. Seinen Tornister wechselte er auf die andere Schulter, griff ihn fester und legte den Zeigefinger auf die Lippen.

»Das war´s dann wohl. Aber kein Wort darüber!«

Dann schob er sie vor sich her in Richtung Scheune.

Sie beherrschte sich, unterdrückte ihre Panik, blieb stumm, genau wie während der eben überstandenen Szene. Nicht ein Wort war gefallen zwischen den Galgenvögeln und ihren Opfern, die letztendlich lebend und, ohne Beute geworden zu sein, ihrem Schlafplatz zustrebten. Julia fügte sich in die Eile, zu der er sie antrieb. Sie war froh, dem Schauplatz des Überfalls zu entkommen, und wollte nichts sehnlicher als weit weg, möglichst schnell. Es war schlimm genug zu wissen, dass sie im Lauf des kommenden Morgens wieder hier vorbeimusste. Der Gasthof bot keinen anderen Ausgang.

Für den unerwartet glimpflichen Ausgang ihres Abenteuers hatte Julia keine Erklärung. Dennoch wagte sie nicht zu fragen, was die Halsabschneider zu Boden geschickt und ihnen das Leben geraubt hatte. Vor der Antwort hatte sie Angst. Einen brutalen Trick vermutete sie. Ausgeführt von dem Mann, der sie vorher und jetzt wieder aus einer Gefahr gerettet hatte, deren Folgen sie sich nicht ausmalen wollte. Er wurde ihr unheimlich.

6.

Nach wenigen Augenblicken, die Julia als Ewigkeiten empfand, erreichten sie die Scheune. Die Holztreppe zum Heuboden über dem Stall war steil und ließ ein Geländer vermissen. Das Schnarchen, Röcheln und die anderen Geräusche, die zweifelsfrei von zahlreichen Schläfern stammten, übertönten das Knarren der Stufen. Hier sollte sie nun den Rest der Nacht verbringen? Preisgegeben jedem, der an ihr vorbeikam und sie begaffen wollte. Oder mehr!.

Oben angekommen war sie erleichtert, dass Mike sie auf eine kleine Plattform neben der Treppe dirigierte, weg von der Masse der Schlafenden, die sich auf der anderen Seite aneinanderreihten. Sie schliefen auf Stroh, das die sie unter sich aufgehäuft hatten. Der Boden zwischen diesen Schlafinseln war nacktes Holz. Für Decken musste jeder selbst sorgen, viele hatten sich nicht zugedeckt. Ihre Habe hatten sie am Kopfende abgelegt, jederzeit erreichbar, falls sich jemand daran zu schaffen machte. Sofern der den Schläfer noch wach werden ließ.

Mike ließ sie neben der Treppe stehen und ordnete das Stroh auf dem Boden. Am Ende hatte er eine gleichmäßige handspannendicke Schicht zusammengescharrt. Seinen Tornister hatte er abgestellt und öffnete ihn nun. Nach einigem Kramen förderte er eine dünne Decke aus einem Gewebe zutage, das Julia nicht kannte, und warf sie geschickt über das Stroh aus. Auf dem Schlafplatz kniend, schob er den Tornister von der Treppe fort an den Rand der Plattform und lehnte ihn dort an die Wand. So konnte sich niemand an dem Rucksack zu schaffen machen.

Julia sah nun, dass ihr Platzangebot war größer als das jeden anderen Schläfers.

Er bemerkte ihr Erstaunen darüber.

»Für diese Bequemlichkeit musste ich auch einen höheren Preis bezahlen. Aber das war es mir wert.«

Sie war ihm dankbar dafür.

Zusammen mit der Decke über dem Stroh hatte er noch zwei kleinere aus dem Tornister gezogen, eine reichte er ihr als Zudecke. Voneinander abgewandt entkleideten sie sich bis auf die Leibwäsche. Julia schlüpfte unter ihre Decke und wickelte sich darin ein, bevor Mike sich ausgezogen hatte. Die Decke kratzte. Sie rollte mit den Augen und fragte sich, ob sie darunter überhaupt Schlaf finden konnte. Er legte sich neben sie und blickte sie an. Sie schaute über ihn hinweg, als ob sie ihn nicht wahrnähme, und beobachtete die anderen Schläfer. Der Anblick derer, die keine Decke hatten, brachte ihr die Überzeugung, dass sie die einzigen waren, die Leibwäsche überhaupt kannten. Alle anderen schliefen in ihren Kleidern. Nun kannte sie mit Gewissheit den Ursprung des strengen Geruchs in der Gaststube und anderswo, wo sich Menschen versammelt hatten. So fiel ihr der Vorfall mit den vier Kerlen bei ihrem Eintreffen im Dorf wieder ein, und sie spürte Panik in sich aufsteigen.

Ohne sich dessen bewusst sein zu können, weckte Mike sie aus ihren trüben Gedanken. Er wünschte ihr eine gute Nacht und fragte sie halblaut, ob sie noch das Bedürfnis hätte zu reden und ob sie ihm ihre Fragen jetzt oder erst morgen stellen wollte.

Es dauerte lang, bis sie sich entschieden hatte. Sie drehte sich auf den Rücken und betrachtete den hölzernen Dachstuhl, dessen Balken sich an einigen Stellen durchbogen. Lücken hatten sich in das Dach gefressen, die Schindeln waren wohl vom Wind abgetragen worden. Erkennen konnte sie nichts. Keinen Mond, keine Sterne. Als ob der Nebel die Scheune auch von oben eingehüllt hätte. Ihr Schlafplatz hatte dank des darunter ruhenden Viehs eine für die Nacht recht annehmbare Temperatur. An den Geruch hatte sie sich nach kurzer Zeit gewöhnt.

»Wo bin ich? Wie komme ich wieder heim?« waren ihre am meisten drängenden Fragen.

»Das Land heißt Siebenreich. Den Namen sollen ihm vor Menschengedenken die sieben Stammesführer gegeben haben, die sich im Krieg gegen ihre Feinde zusammenschlossen und dazu ihre Stammesgebiete zusammenlegten.«

Er setzte sich auf, winkelte die Beine an und schlag die Arme um seine Knie.

»Soweit ich gehört habe, ist genau dieser Jahrhunderte lang vergessene Krieg jetzt wieder aufgeflammt.«

Es folgte eine Pause, bevor er im Flüsterton fortfuhr.

»Siebenreich ist ein Königreich. Frag mich nicht, wie der König heißt! Die einen sagen, er sei verschollen oder vor dem Krieg geflohen, und der Statthalter von Königstein würde regieren. Andere erzählen, er befehlige die Truppen im Norden, denn nur er sei in der Lage, die konkurrierenden Soldaten und Magier zum gemeinsamen Vorgehen zu bewegen. Auf jeden Fall ist langsam auch hier die Wirkung des Krieges zu spüren. Keine Hungersnot, aber marodierende Orks und Goblins. Das macht auch diese Gegend unsicher. Und der Abzug der Landsknechte nach Norden begünstigt Raub und Wegelagerei durch Räuberbanden. Alles in allem finsteres Mittelalter.«

 

Er schaute sie an. Sie hatte sich auf die Seite gerollt, blickte ihn fest an. Seine Worte sog sie auf wie ein Schwamm. Immerhin beschrieb er gerade, was das Schicksal ihr zugedacht hatte.

»Orks und Goblins? Gibt es die wirklich? Ich dachte, das wären Erfindungen von Märchen-Autoren, um ihre Bücher zu füllen.«

Bei seinem Lachen erkannte sie die Reihe weißer Zähne, die sich vom Halbdunkel abhoben.

»Abgesehen davon, dass es sie gibt, sind sie eine echte Plage. Ich rede jetzt nicht vom Krieg. Der ist für hiesige Verhältnisse weit weg – noch. Ich rede davon, dass sie von den Morgenbergen her einsickern. Bis jetzt überfallen sie nur einzelne Höfe und kleine Dörfer, die sich überraschen lassen. Ihre militärische Struktur ist einfach, mit Masse triffst du auf einfältige Schläger. Sie sind aber geschickt mit ihren krummen Schwertern, sie sind stark und brutal. Alle. Ihre Grausamkeit habe ich erst mit der Zeit erkannt. Seitdem versuche ich, sie zu erlegen, wo immer sie in meiner Nähe auftauchen.« Ein kurzes Seufzen unterbrach seine Erzählung. »Deswegen will ich auch nach Süden. Im Norden kann ich wenig ausrichten, da sind schon die Soldaten und Magier. Sie und die Zwerge aus der nördlichen Tundra nehmen die Orks in die Zange. Ich hoffe, sie halten sie noch lange auf. Weiter im Süden sind es nur einzelne Trupps. Bis jetzt bin ich mit ihnen fertig geworden. Aber ich brauche eine Basis.«

»Militärische Struktur?« Sie schaute ungläubig. »In den Filmen sind das doch hirnlose Horden, die ohne erkennbares Ziel einfach das Land überschwemmen.«

»Mitnichten.« Er lachte heiser, wusste er es doch aus Erfahrung besser. Nun glaubte er, sie mit dieser Erwiderung zufriedengestellt zu haben. Eigentlich kein Thema, für das sich eine Frau interessiert, wunderte er sich, als sie doch nachhakte. Das irritierte ihn. Kopfschüttelnd gab er nach. Ihm leuchtete ein, dass sie so viel wie möglich über ihre neue Umgebung wissen wollte, auch wenn sie sicherlich nicht alles behalten würde.

»Fünf Kämpfer, Orks und die beweglicheren Goblins zusammen, bilden einen Trupp. Wenn ich also von Orks rede, sind fast immer Goblins dabei. Drei Trupps bilden einen Zug. Mit dem Zugführer, seinem Schamanen und den Meldern um die zwanzig Krieger. Vier Züge sind eine Kompanie. Dazu kommen Kompanieführer, eigene Schamanen und der Tross, also über hundert Mann. Von einer größeren Truppe habe ich noch nichts gehört.«

Er holte Luft.

»Ich bin bisher nur auf Trupps gestoßen und einmal auf einen Zug, der im Begriff war, einen Bauernhof zu überfallen. Die Trupps hatten sich getrennt, um den Hof von zwei Seiten anzugreifen. Ein Fehler.« Was er damit meinte, ließ er offen.

»Das reicht jetzt über Orks«, beendete er das Thema. »Kommen wir nun zu deiner großen Frage!«

Sie wusste nicht, ob er nur eine Kunstpause machte oder ob er sich seine Gedanken zurecht legen musste. Sie rollte sich auf den Bauch, stützte sich auf die Ellenbogen. Ihr Kinn lag auf ihren gefalteten Händen. Sie sah ihn direkt an. Er hatte sich gerade auf den Rücken gelegt.

»Also«, begann er, »du gehst spazieren und stehst auf einmal im Wald. Ist mir genauso gegangen. Vor rund zwei Jahren. Du bist durch ein magisches Tor marschiert. Das merkst du aber erst, wenn du durch bist, dich umdrehst und nicht mehr zurück findest. Du läufst hin und her auf dem Weg, den du glaubst gekommen zu sein. Läufst ein paarmal um die Bäume, von denen du meinst, dass sie das Tor bilden. Schüttelst den Kopf über deine blöden Fantasien und weißt nicht weiter. Das passiert dir, egal, ob du allein bist oder mit anderen zusammen. Nicht alle aus deiner Gruppe müssen mit durch das Tor gegangen sein. Von meiner Gruppe fehlten die meisten.«

Die Erinnerung daran, wie er selbst hierhergekommen war, ließ seine Stimme zittern.

Julia konnte seine Anspannung förmlich spüren.

Er richtete den Oberkörper halb auf und ließ sich auf die Ellbogen zurücksinken.

»Irgendwann hältst du es nicht mehr aus, und du fängst an zu rennen. Egal, wohin, schließlich weißt du ja gar nicht, wo du bist und wo du hinkannst. Wenn du länger hier bist, triffst du Leute, die schon von diesen magischen Toren gehört haben. Weil immer wieder jemand in seltsamen Kleidern – so wie du jetzt und früher ich – hier aufschlägt, sich nicht zurechtfindet und lauter komische Fragen stellt. Was ist das hier? Wieso ist alles anders? Wie komme ich zurück? Ganz selten triffst du jemanden von drüben. Die meisten, die hier gelandet sind, fühlen sich gestrandet, sind depressiv und weigern sich, dies hier als Realität anzuerkennen. Naja, das Leben hier macht es einem ja auch nicht gerade leicht. Krieg, Orks, Magie. Da stehen die Leute dann neben sich. Die wenigsten sind noch vernünftig. Deswegen habe ich dich vorhin auch zu mir rübergezogen. Allein kommst du hier nicht zurecht. So, und nun zum Rückweg! Richte dich mal auf einen längeren Aufenthalt ein. Der kann ein Leben lang dauern. Auch hier soll es magische Tore geben. Mir hat man nur den Standort von einem einzigen beschrieben. Und das auch nur ganz vage. Es liegt mitten im Orkland, in einer steinigen Wüste weit ostwärts der Berge, durch die die Orks auf das Schlachtfeld strömen. Das heißt, solange Krieg herrscht, gibt es kein Durchkommen. Außerdem …« Er zögerte, als fürchte er sich davor weiterzusprechen. »Außerdem, wer weiß schon, was auf der anderen Seite liegt? Landest du wieder in Freiburg, oder führt dich das Tor in ein urzeitliches Land mit Sauriern? Oder triffst du auf Mad Max und Aunt Entity mit ihrer Donnerkuppel? Ich mag gar nicht dran denken. Sogar ich hab´ Angst davor. Hier leben wir wenigstens!«

Er versank für eine Weile stumm in Grübeleien. Er hatte ihr alles erzählt.

»Tut mir Leid, dass ich so wenig Trost für dich habe. Aber je eher du dich mit dem Gedanken anfreundest, erst mal hier bleiben zu müssen, umso schneller gewöhnst du dich daran und verzweifelst nicht.«

Sie starrte ihn an. Sein Bericht war unglaublich. Unerhört. Dennoch hatte sie nicht den Eindruck, er habe ihr Hirngespinste aufgetischt. Aber sie brauchte Zeit, seine Erzählung zu verdauen.

Sie wickelte sich in ihre Decke, schlang die Arme rund um sich, drehte ihm den Rücken zu und flüsterte.

»Halt mich fest! Ich brauch´ das jetzt.«

Er drehte sich zu ihr auf die Seite und legte seinen freien Arm um den Kokon, in den sie sich eingesponnen hatte. Die Berührung erweckte ein Gefühl der Begehrlichkeit. Er unterdrückte die Regung, obwohl Julia ihm gefiel. Die Mission, der er sich insgeheim zur Rettung Siebenreichs verpflichtet hatte, war zu gefährlich, als dass er ein Verhältnis hätte eingehen dürfen. Obwohl er spürte, dass sie trotz ihrer Erschöpfung noch lange wach liegen würde, schlief er bald ein. Er kannte das ja mittlerweile alles und hatte seinen Frieden mit dieser Welt geschlossen. Aber wie würde sie mit alldem umgehen? Sie brauchte Schutz. Wie konnte er ihr helfen? Wollte er das überhaupt?

7.

Es musste kurz nach drei sein. Das sagte ihr zumindest ihr Gefühl, als sie aus ihrem unruhigen Schlaf tauchte und durch die kaum geöffneten Lider in das Halbdunkel schaute. Sie drehte sich um und wollte ihren Radiowecker befragen, aber keine roten Ziffern leuchteten ihr entgegen. Stattdessen schirmte ein Schatten sie in dieser Richtung ab. Nach Betasten und Nachdenken erkannte sie ihren Tischgenossen vom Vorabend. Zuerst fragte sie sich, wie viel sie getrunken hatte, denn es war wohl das erste Mal seit zu langer Zeit, dass sie jemanden über Nacht zu sich nach Hause mitgenommen hatte. Die Erinnerung an ihre neue Realität traf sie wie ein Schlag vor den Kopf. Erschrocken fuhr sie hoch. Der Verlust der alten Welt und der alten Gewohnheiten schockierte sie, aber in dieser Nacht konnte sie nichts daran ändern. Sie legte sich wieder auf die Seite, schlang die Arme um ihre Knie und wartete mit leisem Schluchzen auf den Schlaf. War das alles wirklich wahr? Und wie oft würde sie sich noch in ihre alte Umgebung zurückwünschen?

Als sie wieder aufwachte, fand sie sich allein auf ihrem Lager. Ihr Herz raste vor Panik, er habe sie allein zurück gelassen. Nicht nur, weil sie ihn inzwischen sympathisch fand. Sie war nach seinem Bericht in der Nacht zu dem Schluss gekommen, dass sie ihn brauchte. Wenn sie überleben wollte, wozu sie sich nun fest entschlossen hatte. Und zurück nach Freiburg! Sie war überzeugt, er könne ihr helfen, auch, wenn er es selbst noch nicht glauben wollte. Sie würde es ihm schon beibringen.

Als sie die Decken um und unter sich fühlte und den Tornister neben sich stehen sah, beruhigte sie sich wieder. Durch die Lücken im Dach lugte ein blauer Himmel, der Heuboden war in Zwielicht getaucht, in dem sie nun Einzelheiten erkennen konnte. Unendlich viele kleinste Teilchen von Stroh schwirrten schwerelos durch die Luft und glitzerten, wenn sie in einen der Sonnenstrahlen gerieten, die durch die Ritzen zwischen den Schindeln herein fanden. Der Anblick verursachte bei Julia einen Niesreiz, allergisch war sie keineswegs. Sie lag allein auf der ganzen Fläche, die übrigen Schläfer hatten ihre Habseligkeiten zusammengeklaubt und waren verschwunden. Die ihr gegenüber liegende Seite des Heubodens war nach außen offen. Von dort glaubte sie den Geruch von frischem Brot wahrzunehmen. Das machte ihr klar, dass sie lange geschlafen haben musste.

Sie fuhr zusammen. In diesem Moment steckte Mike den Kopf in ihren Schlafplatz. Er stand weiter unten auf der Treppe, seine nassen Haare klebten ihm am Kopf. Er war angezogen. Er stieg vollends die Treppe hoch, wünschte ihr einen guten Morgen und beugte sich über sie, um seinen Tornister über sie und das Schlaflager hinweg zu sich zu ziehen. Er zog eine lederne Hose und sein zusammengerolltes Lederhemd heraus und reichte ihr beides.

»Das steht dir besser als das dünne Fähnchen von gestern. Ist zwar ein paar Nummern zu groß, aber da achtet niemand drauf.«

Jetzt erst gewahrte sie, dass ihr Kleid nicht mehr über dem Geländer hing. Stattdessen erkannte sie einen Zipfel des Stoffes in einer Tasche des Tornisters.

»Vorher will ich mich waschen. Eine Dusche wäre noch besser«, gab sie zurück, während sie ihm Hemd und Hose aus der Hand nahm.

»Gibt´s unten im Hof«, erklärte er ihr mit schelmischem Lachen, »zwei Waschtröge für zwanzig Mann, gemischter Freilicht-Waschraum.«

»Waaas?« Sie war entsetzt. Das fehlte noch, dass alle ihr bei der tagelang vermissten Körperpflege zuschauen konnten! Sie richtete sich auf und stieg in die Hose. Dann schnüffelte sie an dem Hemd, zog die Nase kraus und zog es trotzdem an. Sorgsam achtete sie darauf, alle Knebel zu schließen. Sie drehte ihm den Rücken zu.

»Komm frühstücken!« Er grinste immer noch.

»Was gibt es? Und einen Kaffee brauch´ ich!«

»Das gleiche wie gestern Abend. Oder statt Fleisch etwas Honig. Die haben hier auch eine Biene«, flachste er. »Kaffee kannst du dir abschminken, den kennt man in dieser Welt nicht. Zu trinken gibt es etwas, das an Pfefferminztee erinnert. Ich war schon unten und hab´ eine Wegzehrung in Auftrag gegeben. Wir sollten bis Mittag aufgebrochen sein, um unser Tagesziel zu erreichen. Es sei denn, du willst hierbleiben.«

»Wohin gehen wir?«

»Königstein. Du triffst vielleicht die Alte wieder, von der du gestern erzählst hast. Außerdem kann man da vernünftig einkaufen, und es ist sicherer. Du bleibst dann dort. Ich will weiter nach Süden, und in Königstein werden gerade von den Bürgermeistern aus dem ganzen Land Orkjäger angeheuert. Vielleicht schaff´ ich´s ja, mich an die Südgrenze verpflichten zu lassen.«

Inzwischen hatte er die Decken ausgeschüttelt und in seinem Tornister verstaut und war schon auf dem Weg die Treppe hinab.

Sie folgte ihm auf den Fersen, ging aber vor der Scheune auf Abstand. Sie erinnerte sich, dass sie am Schauplatz des nächtlichen Überfalls vorbei mussten und scheute sich davor. Schließlich gab sie sich einen Ruck und schloss zu ihm auf. Am Tatort angekommen, gewahrte sie Reisende wie Gesinde um die beiden Toten herum stehen. Die hatte man inzwischen aus ihrer Körperhaltung gelöst, in der sie zusammengesunken waren. Die Totenstarre war vorüber. Sie lagen nun hintereinander längs des Zaunes ausgestreckt. Die Umstehenden waren ratlos darüber, wie zwei Leichen, die keinerlei Verletzungen aufwiesen, unbemerkt im Gehöft abgelegt worden sein konnten. Dass sie hier gestorben sein mochten, daran dachte man nicht. Schließlich waren sie hier unbekannt. Man reimte sich die ersten Gerüchte zusammen.

 

Sie drängten sich an den Neugierigen vorbei und betraten die Gaststube. Unterwegs hatte er ihr den Platz zum Waschen gezeigt. Nackte oder halbnackte Männer und Frauen zankten sich um einen freien Platz an den hölzernen Trögen. Solche Tröge hatte sie in Alpentälern gesehen, sie standen dort als Tränken auf Viehweiden. Sie war froh, sich das erspart zu haben. Doch der Anblick machte ihr Bedürfnis nach Erleichterung und Hygiene nur stärker.

Er hatte ihre Unruhe bemerkt.

»Nach dem Frühstück machen wir uns auf. In der Nähe gibt es ein Waldstück mit einem kleinen Gewässer. Dort ist alles da für unsere Morgentoilette.«

Das Frühstück bestand aus frisch gebackenem, noch heißem Brot, dem gleichen Käse wie gestern, der kalte Braten war in dünne Scheiben geschnitten. Etwas Butter gab es auch, sie aßen sie aber nicht, denn sie sah ranzig aus. Das kalte Getränk erinnerte wirklich an Pfefferminztee, war aber auch mit anderen Kräutern gebrüht worden.

Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, ging er in die Küche und holte die Wegzehrung ab, von der er ihr erzählt hatte. Brot, Braten und Käse, alles einzeln in Lappen eingewickelt, die er der Küchenmagd vorher gegeben hatte. Der Proviant war reichlich, geeignet, einen zweitägigen Marsch gut zu überstehen. Die Magd hatte es gut gemeint. In zwei lederne Schläuche ließ er sich Getränke einfüllen, in den einen den Kräuteraufguss, in den größeren Apfelwein. Der Magd hatte er ein für hiesige Verhältnisse üppiges Trinkgeld zugesteckt.

Zurück im Schankraum nickte er Julia zu. Sie stand auf und gesellte sich zu ihm. Sie war sich nicht im Klaren, wie sie damit umgehen sollte, dass er über ihren Kopf hinweg entschieden hatte, sie nach Königstein mitzunehmen und dort zu lassen. Einerseits verfluchte sie ihn für seine Arroganz, die ihr einen freien Willen abgesprochen hatte, andererseits wusste sie, dass sie keinesfalls hierbleiben konnte. Sie hatte kein Geld in der hiesigen Währung, keine Kleidung zum Wechseln, das von ihm angesprochene Gewässer zum Waschen oder Baden war sicher meilenweit weg in einer ihr unbekannten Richtung – und sie hatte Angst. Angst vor den Menschen hier. Und Angst vor dem Verlorensein in dieser seltsamen Welt.

»Außerdem muss er mich nach Freiburg bringen«, wiederholte sie in Gedanken ihr Credo.

»Übrigens danke«, ließ sie sich vernehmen.

»Wofür?«

»Dass du heut´ Nacht nicht über mich hergefallen bist.«

Die Antwort schluckte er hinunter. Sein spitzbübisches Schmunzeln sagte genug.