Siebenreich - Die letzten Scherben

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Из серии: Siebenreich #1
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»Habt ihr schon gehört? Die Schiffspassagen im Süden, in Seeland, werden knapper, und die Überfälle um die Hafenanlagen häufen sich. Alles, weil die reichen Kaufleute infolge des Krieges in ihre überseeischen Kontore fliehen.«

»Aber im Norden ist´s noch schlimmer! Orks und Goblins fallen in Horden durch Pässe aus dem Gebirge ein, nördlich der Morgenberge. Auf einem riesigen Schlachtfeld führen sie Krieg. Am Rande zur Tundra im Norden verteidigten die Zwerge ihre Heimat, durch den Schutzwall werfen die Menschen aus Siebenreich vom Süden her ihre Soldaten und Magier in die Schlacht«

»Ja, und neuerdings hört man auch hier im Landesinneren vereinzelt von Überfällen auf Gehöfte und sogar auf ganze Dörfer.«

Der Fremde hatte sich zur Seite geneigt, sein Ohr berührte beinah die dünne Trennwand. Er sog die Informationen förmlich auf, sie würden Einfluss haben auf seine Pläne für die nächsten Wochen. Am Ende der Erzählungen nickte er zustimmend, als gehöre er zu der Gruppe. Er fühlte sich über die Orklage im Bilde.

Er nahm einen langen Zug, bevor er wieder ins Grübeln verfiel. Wie so oft analysierte er auch jetzt seine eigene Situation und verband sie mit dem eben Gehörten. Sein beinahe stummes Selbstgespräch bekam niemand mit.

»Bist du deiner Aufgabe jetzt noch gewachsen? Sie wird von Tag zu Tag schwieriger, verlangt mehr Beweglichkeit und noch mehr Vorsicht. Aber froh kannst du sein, es überhaupt bis hierher geschafft zu haben. Du hast dich angepasst, eingelebt. Die ersten Erlebnisse in diesem Land waren ja nicht gerade geeignet, dich auf ein langes Leben hoffen zu lassen, mittlerweile ist deine Zuversicht aber sicherlich gerechtfertigt. Das Klima tut dir gut, ebenso die Bewegung in der freien Natur. Dazu kommt Magie als Naturgesetz. Dem ist wohl zu verdanken, dass du dein Alter nicht mehr spürst. Dein Gehör ist geschult, es ist, als wären die durch deinen Tinnitus unterdrückten Frequenzen wiedergekehrt. Und abgenommen hast du fernab deiner alten Zivilisation, bist beweglich und ausdauernd.« Er lachte kurz auf. »Kein Wunder, wenn du jeden Tag meilenweit läufst!« Seine Brauen zuckten. »Verdammt! Trotzdem will ich endlich einen festen Platz. Einen Rückzugsort, an dem ich meine Ruhe finde.« Er seufzte kurz, straffte die Schultern und setzte sich wieder gerade. »Wenn ich alles erledigt habe.«

Sein immer noch sonnengebräunter Teint kontrastierte gefällig mit dem hellen Haar. Er fand, mit seinem Haar, Oberlippen- und Kinnbart, alles weiß und zu lang, sah er aus wie Buffalo Bill Cody in seinen späten Jahren. Unwillkürlich schmunzelte er, als er sich klarmachte, dass mit diesem Vergleich hier niemand etwas hätte anfangen können. Während er fast der einzige Gast war, der sich so gut wie täglich rasierte, hatte er Schwierigkeiten, eine brauchbare Schere aufzutreiben. Dass seine Bräune an anderen Körperstellen nachließ, bedauerte er. Das Klima wie auch sein unruhiges Leben versagten ihm die ausgedehnten Sonnenbäder, die er früher so genossen hatte. Seine Eitelkeit musste er wohl ablegen.

»Du fühlst dich bedeutend jünger als Ende fünfzig. Im Grunde kannst du zufrieden sein. Mit der Welt und mit dir selbst.«

Er verschränkte die Hände hinter dem Nacken und lehnte sich entspannt zurück.

3.

Die Tür des Wirtshauses stand offen. In ihrer Nähe fand ein beschränkter Luftaustausch statt, weshalb die Gäste sich eng beieinander stehend mit Vorliebe dort aufhielten.

Aus Gewohnheit hatte der Fremde die Tür im Blick. Nun sah er, wie sich eine Frau von der Seite in den Türrahmen schob, scheu, unentschlossen. Sie machte keine Anstalten, den Gastraum zu betreten, sondern drückte sich halb drin, halb draußen unter dem Vordach herum. Er beobachtete sie ohne besonderes Interesse, zumal er gegen das helle Viereck und durch die Menschengruppen hindurch nur einen Teil ihrer Silhouette wahrnahm und weder ihr Alter noch sonstige Details ausmachen konnte. Die Dämmerung spendete draußen mehr Licht, als die schummrige Schankstube hergab.

Nach einer Weile gab sie sich einen Ruck und schob sich an einer keifenden Bauersfrau vorbei, die ihren schwankenden und lallenden Mann mit leichten Schlägen und Kopfnüssen ins Freie dirigierte.

Sie hatte den Gastraum betreten und stand jetzt im Licht einer der Lampen, die von eingedicktem Tierfett gespeist wurden und die mehr Qualm als Helligkeit abgaben. Um sie herum verstummten die Gespräche. Die Männer und die wenigen Frauen begafften sie ohne Zurückhaltung, einigen stand der Mund offen.

Aus ihrer starren Haltung schloss er, sie sei sich ihrer Situation bewusst und hoffe, nur angestarrt, aber nicht begrapscht zu werden. Er schätzte sie auf Anfang fünfzig und bewunderte ihre tadellose Figur.

»Aber wer hat die nur angezogen?« murmelte er überrascht. Dann setzte er sich gerade, als ob er sie so noch besser sehen könnte.

Das geblümte helle Sommerkleid aus einem locker fallenden Stoff war an mehreren Stellen eingerissen, am Saum fehlte ein Stück. Ihr Kleid war aus seiner alten Welt! Nun endlich schenkte er ihr die Aufmerksamkeit, die ihr Auftritt verdiente. Offensichtlich hatte sie schon bessere Zeiten erlebt. Aus ihrem ergrauten Haar wuchs die Tönung heraus, sie hatte es wohl nur mit den Fingern halbwegs geordnet. Sie trug keine Strümpfe, weshalb ihm ihre blutigen Beine auffielen. Seine Erfahrung sagte ihm, dass sie einen längeren Weg durch Wald und Flur hinter sich gebracht haben musste. Wäre sie jünger gewesen, hätte er sie hübsch genannt, so lief sie unter gut aussehend. Sie passte ebenso wenig hierher wie er selbst.

Sie atmete tief durch, richtete sich aus ihrer gebeugten Haltung auf und zog die Schultern zurück. Sie reckte den Hals und sah sich nach einem freien Sitzplatz um. Sekundenlang blieb ihr Blick am letzten Tisch hängen, dem einzigen, an dem sich die Zecher nicht drängten, dann schritt sie auf ihn zu, zwischen den Gruppen hindurch. Dem Tisch in der dritten Nische kam sie zu nah.

»Schätzchen, bleib hier!«

Der am Gang sitzende Kerl packte sie mit seiner Rechten. Seiner groben Kleidung nach zu urteilen, an der Erde und Rinde hafteten und die nach Holz und Rauch roch, schien er Holzfäller oder so etwas Ähnliches zu sein. Sich seinem Griff um ihre Taille zu entwinden, brachte sie nicht fertig. Er zog sich an ihr halb in die Höhe. Frauen galten bei diesen wilden Kerlen als Freiwild, besonders, wenn sie ohne Begleitung waren und hilflos wirkten. Die anderen auf seiner Bank johlten und ermunterten ihn durch zweideutige Zurufe. Sie wehrte sich, zappelte, und beide plumpsten auf die Bank, sie kam auf seinem Schoß zu sitzen. Er grinste zufrieden. Genau so hatte er sich das vorgestellt.

Im Beifall für den Kerl verhallte ihr Protest ungehört. Sie zitterte. In der kurzen Zeit, die sie in dieser Gegend verbracht hatte, hatte sie Schreckliches mitbekommen, zum Glück aber nicht selbst erlebt. Das stand ihr nun wohl bevor.

Der Fremde hatte die Entwicklung kommen sehen. Als die beiden auf die Bank fielen, stand er schon neben ihnen.

»Schluss jetzt! Lass die Frau los!«

»Was geht … dich das an? Kümmer´ dich … um dein´ eigenen Kram«, kam es unwirsch zurück. Der Alkohol ließ ihn stammeln.

Für seine versuchte Hilfeleistung erntete der Fremde rundum Gelächter. Schließlich hatte sich der Unhold vorhin nur halb aufgerichtet und schon dabei eine hünenhafte Statur gezeigt. Im Stehen würde er den Fremden gut und gern um Haupteslänge überragen. Außerdem hatte er Muskeln wie Seilstränge, und die Kerle am Tisch waren seine Kumpane. Doch der Fremde ließ sich nicht beirren. Ruckartig riss er die Frau aus seinen Armen und zog sie neben der Bank auf die Beine. Langsam überwand der Hüne seine Überraschung. Schwerfällig schob er sich aus der Bank, fand sich jedoch sofort an beiden Schultern unsanft zurückgedrückt. Sein zweiter Versuch scheiterte ebenso kläglich. Mit wildem Blick zog er nun unter dem Tisch ein schartiges Messer. Unübersehbar waren die Blutrinne und eine schwarze Kruste vom Heft bis zur Spitze. Sicherlich stammte sie nicht vom Verzehr des letzten Bratenstücks.

»Kerl, ich bring´ dich...« Den Satz brachte er nicht zu Ende. Der Mund stand ihm offen, sein eben dunkelrot angelaufenes Gesicht verlor alle Farbe. Vor Schrecken gelähmt starrte er auf sein Bein, sah es schon verloren. Orkschwerter mit ihrer Schärfe und ihrem Gewicht hatten einen schrecklichen Ruf. Einmal in Schwung, waren sie durch nichts aufzuhalten. Der Fremde hatte, anstatt sich aus der Reichweite des Messers zu retten, in einer einzigen flüssigen Bewegung eins der Schwerter gezogen und von der dicken Tischplatte die Ecke abgeschlagen. Die Klinge verharrte eine Handbreit über dem Bein.

Der Wirt hatte schon Ärger gewittert, als der Fremde sich erhoben hatte. Er hatte sich von seinem Aussichtspunkt abgestoßen und sich ihm nachgedrängt. Nun wippte er nervös von einem Fuß auf den anderen und traute sich nicht einzugreifen angesichts des fürchterlichen Schwerts. Noch schwerer wog der Umstand, dass ein Mensch diese zu schwere Waffe so virtuos beherrschte. Niemand hatte bemerkt, dass der Fremde sein Handgelenk auf dem Oberschenkel abgestützt und den Schwung gezielt aufgehalten hatte. Er seinerseits hatte den Wirt kommen gesehen, drehte sich zu ihm um und lachte ihn an. Dabei zeigte er ein Gebiss, das für hiesige Verhältnisse ungewöhnlich war. Zumindest für jemanden in seinem Alter, das ohnehin nur die wenigsten erreichten. Seine Zähne waren ordentlich ausgerichtet, fast weiß und so gut wie vollzählig, nicht die bräunlichen Stummel, die einem hier üblicherweise blieben. Deutlich waren nun im Licht auch die beiden Narben zu sehen, die sich von seiner Schläfe bis an das rechte Ende des Oberlippenbartes zogen. Sie gaben ihm das Aussehen eines kampferprobten Veteranen. Dass sie von einem Ast herrührten, den er in der Wildnis aus seinem Weg gebogen, dann aber zu früh hatte zurückschnellen lassen, erzählte er nie deshalb jemandem.

 

»War … das Zufall, oder kannst du wirklich mit dem Orkschwert umgehen?« Der Spießgeselle des Grobians konnte seine Neugierde nicht mehr zügeln.

»Ihr könnt es ja auf einen Versuch ankommen lassen.« Dann wandte sich der Fremde zu dem Holzfäller.

»Ich hoffe, das war eine Lehre für dich.«

Den beruhigte sein schelmisches Zwinkern keineswegs.

Der Fremde drehte sich nun zum Wirt um, der noch immer um seine Fassung rang.

»Meister Wirt, lasst den Tisch richten, ich komme für den Schaden auf. Und bringt jedem am Tisch einen Humpen Apfelwein auf den Schrecken, und diesem Kerl gleich zwei, damit er wieder ins Leben zurückfindet.«

Der drohende Aufstand der Holzfäller war im Keim erstickt.

Seit er sie von der Bank gezogen hatte, war die Frau zu keiner Bewegung fähig. Scheinbar teilnahmslos verfolgte sie die Szene. Nun sah sie ihren Retter dem Kerl auf die Schulter klopfen, fühlte sich dann von ihm unvermittelt am Oberarm gepackt und mitten durch die zurückweichende Meute zu seinem Tisch gezerrt. Unmittelbar darauf fand sie sich seinem Platz gegenüber auf die Bank gedrückt. Ihr Sträuben und ihr verängstigter Blick berührten ihn wohl keineswegs. Dass es nur zu ihrem Besten war, hatte sie nicht erfasst. Seine vorgetäuschten Besitzansprüche bewahrten sie vor weiteren Pöbeleien, denn nach dem Vorfall mit dem Holzfäller wollte sich keiner mit ihm anlegen. Sie jedoch hasste ihn instinktiv wegen der blauen Flecke, die seine Umklammerung hinterlassen würde. Genau da, wo der kurze Ärmel endete, wären sie über Tage sichtbar! Stumm rieb sie die schmerzende Stelle. Für einen Protest fehlte ihr die Kraft.

»Erzähl«, hörte sie ihn sagen, »was machst du in dem Aufzug in dieser Gegend? Bist du lebensmüde? Am ersten Haus oder Hof, wo du vorbei gekommen bist, hättest du dir was zum Anziehen besorgen sollen, das hierher passt. Du fällst auf wie der berühmte bunte Hund. Mit so was machen die hier kurzen Prozess.«

Sie mit einem korrekten Sie anzusprechen, kam ihm offensichtlich nicht in den Sinn. Diese Unhöflichkeit gab ihr den Rest, und ihre Verzweiflung nahm überhand. Sie verfiel in ein kaum hörbares, trockenes Schluchzen.

»Ich weiß nicht, wo ich bin und was ich hier soll. Vor vier Tagen fand ich mich in plötzlich im Wald wieder. Der war ganz anders als der Park, in dem ich spazieren gegangen war. Ich hab´ lange gebraucht, um den Wechsel zu realisieren. Dann fand ich nicht mehr zurück. Und an die Bauernhöfe traute ich mich nicht ´ran, die Leute sahen so wild aus. Außerdem bin ich an zweien vorbeigekommen, die brannten. Menschen haben geschrien, und große Kerle haben sie gejagt. Hier dachte ich, die Menge bietet mir Schutz.«

»Mmh. Vier Tage. Vermutlich der Langewald vor den Morgenbergen. Kenn´ ich. Hunger?« Auf ihre Beobachtungen der Überfälle ging er nicht ein.

Unvermittelt kam ihr die Entbehrung während dieser Zeitspanne ins Bewusstsein.

»Ich könnte ein Pferd verschlingen!«

Er schüttelte den Kopf.

»Braten muss reichen. Was anderes gibt´s hier sowieso nicht.«

Dann drehte er sich zum Wirt um.

Der hatte zwei Mägde mit Krügen zu dem Tisch der Holzfäller geschickt. Die beiden bedienten im Laufschritt, galt es doch, über ein Dutzend schwere Humpen zu servieren, und die Kerle waren ungeduldig. Der Wirt hatte die Geste des Fremden bemerkt. Zögernd trat er an den Tisch, an dem die Frau sich etwas beruhigt hatte und nun erschöpft mit Kopf und Schultern an der Wand zur Nische mit den Kaufleuten lehnte. Die hatten nur Auge und Ohr für den Fremden und seine neue Bekanntschaft. Man tuschelte, hütete sich aber, die Neugierde zu offensichtlich zu zeigen.

Der Wirt nahm seinen ganzen Mut zusammen und unterbreitete seine Rechnung.

»Die Zeche für fünfzehn Krüge Apfelwein beträgt fünfundsiebzig Kupferstücke. Da ist euer Verzehr noch nicht eingerechnet. Alles zusammen und der Preis für das versprochene Nachtlager belaufen sich nun auf über ein Silberstück. Auf eine Ausbesserung des Tisches verzichte ich, vielmehr will ich das abgeschlagene Stück Holz in der Nische an einen Balken nageln.« Er lachte kurz auf. »So hat man immer einen Anlass, bei einem guten Humpen den Vorfall in Erzählungen wieder aufleben zu lassen.«

Insgeheim fragte er sich, ob der Fremde über ausreichend Barschaft verfügte oder ob er einen Zechpreller vor sich hatte. Dann hätte er, wie schon öfter, seine stärksten Knechte rufen lassen, die den Kerl vom Hof geworfen hätten. Anschließend hätte er sich an seinem Gepäck schadlos gehalten.

Der wiederum bot ihm ein breites Lachen feil, griff in eine Westentasche und förderte Kupfermünzen und ein Silberstück zutage. »Das ist mehr, als ihr gefordert habt. Dafür verlange ich noch eine Mahlzeit für die Frau. Außerdem sagt mir, ob für sie noch ein Schlafplatz frei ist.«

Der Wirt, der ob der widerspruchslos dargebotenen Bezahlung seinen Mut wiedergefunden hatte, schüttelte den Kopf.

»Alles, was frei ist, ist die Ecke oben in der Scheune. Da, wo ihr schon zu nächtigen gedenkt. Ihr müsst eben zusammenrücken.« Dann fügte er mit einem anzüglichen Blick auf die Frau hinzu: »Aber haltet euch zurück!«

Gut gelaunt zahlte der Fremde die geforderte Summe. Die Frau würde seinen Schlafplatz mit ihm teilen.

Sie zuckte zusammen. Ob sie einverstanden war oder nicht, schien ihn nicht zu kümmern.

Vor Mattigkeit fand sie keine Widerworte. Sie fügte sich in ihre Lage, in der sie schon längst nicht mehr über sich selbst zu bestimmen hatte. Aber als ihr Essen gebracht wurde, wurde sie munter. Ein großes Stück Braten, frisch vom Spieß und heißer als seines vorhin, sowie Brot und der etwas streng riechende, würzige Käse. Sie rutschte vor zur Kante, beugte den Oberkörper über den Tisch und begann zu essen. Alles roch gut, das braune Brot war noch warm, die Rinde knusprig. Wie alle aß sie mit den Fingern. Besteck hatte die Magd nicht gebracht, und auch ihr Gegenüber machte keine Anstalten, ihr sein Messer zu reichen, das er selbst benutzt hatte. Er saß zurückgelehnt an die Wand, hielt seinen Humpen mit beiden Händen umfasst auf dem Schoß und beobachtete sie wortlos. Ab und zu trank er einen Schluck. Sie hatte ihr Fleisch schon fast gegessen, Zu schnell, wie sie selbst feststellte. Das gehörte sich nicht. Wie sonst wäre es zu erklären gewesen, dass ihr Bratensaft aus dem Mundwinkel lief. Sie wischte ihn sich mit dem Unterarm vom Kinn. Eine Magd knallte ihr einen Humpen Apfelwein auf den Tisch. Ohne zuvor daran zu riechen oder sonst irgendwie feststellen zu wollen, um welches Getränk es sich handelte, setzte die Frau den Krug an und leerte ihn zur Hälfte. Sie verschluckte sich, setzte ab und verzog ihr Gesicht zu einer säuerlichen Miene. Der Fremde grinste schadenfroh. Er prostete ihr zu und nahm selbst einen Schluck. Nun erkannte auch sie, wie komisch ihr Schlingen gewirkt hatte. Ihr anfangs verschämtes Lächeln steigerte sich unwillkürlich zu einem befreienden Lachen. Sie blickte ihrem Gegenüber geradewegs in die Augen. Trotz ihrer Erschöpfung und der daraus resultierenden Anspannung war das Eis gebrochen.

4.

Es war Abend geworden. Der Wirt hatte die Tür anlehnen lassen. Die meisten Dörfler waren in ihre Häuser oder Hütten zurückgekehrt. Geblieben waren vor allem Reisende, zumeist Männer. Frauen waren außer ihr und den Mägden nur noch zwei anwesend.

Sie hatte den zweiten Krug Apfelwein angetrunken. Sie war zu aufgekratzt, um sich jetzt auf ein wie auch immer geartetes Lager zu begeben. Zudem war ihr der Gedanke, mit wem sie sich den Schlafplatz teilen sollte, nicht gerade angenehm. Das ließ sich aber unter den gegebenen Umständen kaum vermeiden. Die vergangenen drei Nächte hatte sie auf dem Waldboden zugebracht oder in einem verrotteten Heuschober geschlafen. Das wäre Luxus gewesen, wäre das Heu nicht feucht und schimmlig gewesen. So war sie heute früh unausgeruht aufgestanden, und Stunden hatte es gedauert, den Modergeruch aus der Nase zu bekommen. Ihr Weg durch endloses Brachland mit blühenden Büschen und stark riechenden Wiesenblumen half ihr dabei. Trotzdem fühlte sie sich immer noch schmutzig. Bei dem Gedanken an ihren Zustand fiel sie wieder in sich zusammen.

Er hatte sich vorhin, während sie, mittlerweile mit Genuss, das letzte Stück Käse gegessen hatte, kurz mit »Ich bin Mike. Orkjäger.« vorgestellt. Ob Orkjäger sein Nachname war oder eine Beschäftigung, die ihm seinen Lebensunterhalt einbrachte, darüber war sie sich nicht im Klaren. Es interessierte sie auch nicht wirklich. Falls es sein Beruf war, hatte er ihr nichts dazu erklärt. Überhaupt gab er sich wortkarg, hatte offensichtlich keine Lust, etwas von sich preiszugeben. Sie wähnte sich immer noch in einem schlechten Traum. Nichts wünschte sie sich sehnlicher, als dass er endlich aufhörte.

Orkjäger? Nun erst, nach ihrer Mahlzeit, rief sie sich ins Gedächtnis, dass sie auf ihrem Weg zu diesem Tisch in anderen Nischen Kerle bemerkt hatte, die ähnlich wie ihr Gegenüber gekleidet waren. Verschwommen hatte sie Bogen und Köcher wahrgenommen, Schwerter und ein paar kleinere Rundschilde, für die sie mal den Namen Buckler gehört hatte. Sie hatte gelernt, hieraus habe sich das Sprichwort »Rutsch mir den Buckel ´runter!« abgeleitet. Jedenfalls hatten die Kerle nicht eingegriffen, sondern von Anfang bis zum Ende feixend das Schauspiel ihrer zweifachen Niederlage beobachtet. Anscheinend waren sie Zwistigkeiten zwischen einem der Ihren und der eher ungelenken Landbevölkerung gewohnt. Sie schienen gewusst zu haben, wie der Streit ausginge, sonst hätten sie gewiss für sie Partei ergriffen. Jünger und kräftiger als ihr Retter schienen sie allemal.

Plötzlich ergab alles einen Sinn. Das erzählte sie ihm auch, es sprudelte nur so aus ihr heraus.

»Die letzten Tage waren ein Albtraum. Nach der Arbeit war ich noch im Park spazieren gegangen, habe die letzte Sommersonne genossen. Und plötzlich … plötzlich, als ich eine Hecke durchquerte, war der Kiesweg verschwunden. Auch hinter mir. Buchstäblich stand ich im Wald. Der war nicht dicht, man konnte weit darin sehen, er schien kein Ende zu haben. Und nach oben schirmte er den Blick gegen das Sonnenlicht ab. Es war alles so fremd, so unglaublich.«

Sie sah ihn an, wartete auf eine Regung.

Er nickte ihr zu.

»Das hattest du schon erzählt. Aber red´ weiter, das wird dir gut tun.«

»Ohne Orientierung bin ich durch den Wald gehetzt, später über Wiesen. Regen hatte die Luft saubergewaschen, es duftete nach frischem Gras. Am dritten Tag erst, also gestern, kam ich in eine bewohnte Gegend. Das half mir aber nicht. Die Leute sahen so wild und ungepflegt aus. Ich hatte Angst vor ihnen. Nur einmal, einmal habe ich eine alte Frau angesprochen. Sie war allein unterwegs, trug ein Bündel auf dem Rücken. Ärmlich sah sie aus in ihrer fadenscheinigen Kleidung, aber wenigstens sauber.«

Ihre letzten Worte hatten rau geklungen, so, als habe sie einen trockenen Mund. Sie griff ohne hinzuschauen nach dem Humpen und wunderte sich, dass er ihn ihr entzog. Da erst merkte sie, dass sie aus seinem hatte trinken wollen. Er kippte ihn leicht, und sie bemerkte, dass er leer war. Sie griff nach ihrem, nahm ein paar Schlucke und hielt ihn ihrem Gegenüber hin.

»Willst du?«

Wie geistesabwesend schüttelte er den Kopf. Er hatte gerade einer Magd zugewinkt, dass sie ihm noch etwas bringen sollte.

»Ähm, nein danke.« Erst nach einer Weile antwortete er und nahm den Faden wieder auf.

»Bist du mit ihr mitgegangen? Was hat sie dir erzählt?«

Es war das erste Mal, dass er auf ihren Bericht einging.

»Erzählt? Ach so. Es war unglaublich! Sie sprach von Orks und Goblins, von einem Krieg weiter im Norden. Mittlerweile hätte sie aber auch von Überfällen in ihrer Umgebung gehört. Deshalb sei sie unterwegs nach Königstein, der königlichen Residenz. Dort sei die Welt noch in Ordnung. Noch, wie sie ein paarmal betonte. Denn da, wo sie herkäme, sei der Himmel dunkler geworden, und nicht einmal die Magier wüssten Rat. Ich war froh, als sie weiterzog.«

»Das mit dem dunklen Himmel war nur eine Metapher für die Angst der Leute. Die Furcht legt sich ihnen aufs Gemüt. Warum hast du dich der Alten nicht angeschlossen. Offensichtlich kannte sie sich doch aus und hätte die helfen können.«

 

»Ich weiß es ehrlich gesagt auch nicht. Wohl, weil mir alles so unwirklich vorkam. Außerdem hatte ich den Eindruck, sie fantasiere, und ihre Beschreibungen machten mir Angst. Als sie weg war, habe ich es bedauert.«

Diesmal griff sie nach dem richtigen Krug.

»Später entdeckte ich eine Gruppe Männer, die an einem Waldrand lagerten. Ich schlich mich so nah, dass ich Ihre Kleidung und Ausrüstung erkennen konnte. Der Wind trug ihre Gespräche zu mir herüber. Ich bekam solche Angst, dass ich mich fortschlich. Ich habe gebetet, dass sie mich nicht entdeckten. Fast kriechend bin ich durch die Büsche zurückgeschlichen. Dann bin ich gerannt, nur noch gerannt, bis ich vor Seitenstechen nicht mehr konnte.«

Sie bemerkte seine hochgezogenen Brauen. Als er schwieg, zuckte sie die Schultern und fuhr fort.

»Ob es ein Dutzend Männer waren oder nur ein halbes, weiß ich gar nicht mehr. Aber alle waren bewaffnet. Mit Schwertern, Morgensternen oder einem, einem … Kriegshammer. Auf so einen hat mich vor Jahren ein Bekannter aufmerksam gemacht, mit dem ich eine Ausstellung übers Mittelalter besucht hatte. Über Überfälle, Mord und Plünderung hatten die Kerle sich unterhalten. Vergewaltigungen waren auch dabei, gar nicht mal selten. Man wolle ja auch sein Vergnügen haben, hatten sie geprahlt. Für mich hörte sich das alles ernst gemeint an, nicht erfunden. Solche Art Fantasie kann nur einem kranken Hirn entspringen. Naja, einem gerade noch, aber gleich einem Dutzend? Was meinst du dazu? Kannst du dir vorstellen, wie froh ich war, unbemerkt entkommen zu sein?«

Obwohl ihre Fragen rhetorisch gemeint waren, öffnete er den Mund, um etwas zu erwidern. Mit einer wedelnden Handbewegung brachte sie ihn zum Schweigen, bevor er auch nur ein Wort hatte sagen können. Sie zuckte zusammen, als sie bemerkte, dass ihre Geste doch recht brüsk erschien.

»Entschuldige! Es war nicht böse gemeint. Mir ist nur aufgefallen, wie unhöflich ich war. Du hattest dich ja schon vorgestellt. Ich bin Julia. Von Juliane. Aus Freiburg.«

Sie reichte ihm die Hand. Scheinbar irritiert ergriff er sie und schüttelte sie kurz. Sie fühlte, dass das hier eine ungewohnte Geste sein musste.

»Juliane. Wie Juliane Werding. Am Tag, als Johnny Kramer starb«, schob er wie in Tagträumen versunken nach.

Sie sprang nicht darauf an, bemerkte nicht, dass er gerade erklärt hatte, auch aus ihrer Welt zu stammen. Sie war noch fest verwobener Teil ihrer Eindrücke und Einbildungen, die ihr intensiv eine neue, unbekannte und grausame Realität aufdrängten.

»Durch Freiburg bin ich zuletzt im August zwanzigsechzehn gefahren, das heißt, daran vorbei. Mit dem Auto von München nach Spanien. Atlantikküste, hinter Santiago de Compostela.«

Mit einiger Verspätung begriff sie, dass er ihrem Bewusstsein noch einen Rettungsring zugeworfen hatte. Dankbar nahm sie die Hilfe an und ordnete ihre Gedanken um das Gehörte herum neu. Ein paar Augenblicke brauchte sie, dann hatte sie ihre Schlussfolgerungen gezogen. Ihre Miene hellte sich auf, sie suchte den Blickkontakt mit ihm.

»Ihr seid eine Gruppe von Rollenspiel-Freaks, nicht wahr?« Sie sprach zu schnell und verhaspelte sich prompt. »Fan…, Fantasy oder so? Habt euch eure Welt gebastelt, eine Art Themenpark. Und verbringt hier eure Wochenenden oder Ferien mit dem Ausleben erfundener Geschichten.«

Der Gedanke war für sie befreiend. Endlich eine handfeste, verständliche Erklärung für ihre Situation, in die sie hineingestolpert war und die ihr surreal und grotesk erschien! Zumindest unerklärlich. Die zahlreichen Ungereimtheiten blendete sie unbewusst aus.

»Ich war mal bei der Landshuter Hochzeit und an einem Wochenende beim Kaltenberger Ritterturnier«, fügte sie hastig hinzu, als ob sie ihre Interpretation bestätigen und aus dieser Bestätigung Mut schöpfen wollte. »Dann bin ich hier ja goldrichtig. Ich bin ganz gut im Bogenschießen, bin immer noch Mitglied in der Freiburger Schützengesellschaft und war sogar einmal bei der Landesmeisterschaft dabei. Jetzt fehlt mir nur das passende Kostüm.« Ihre vermeintliche Erkenntnis vollendete sie mit einem Anflug von Galgenhumor, erleichtert, ihrer Verzweiflung die Schärfe nehmen zu können. »So etwas wie Robin Hood.«

»Fast hast du Recht. Nur, dass wir uns keine Welt zusammenreimen. Wir stellen auch keine Geschichten nach, sondern das hier ist das echte Leben. Du sagst ja selbst, du hast die Kerle belauscht. Es sieht aus wie Fantasy, und eine Rolle spielt hier auch jeder. Denen von hier ist sie angeboren, wir von drüben nehmen sie an oder schaffen sie uns. Die Realität ist Krieg, Unterdrückung und Kampf. Verwundungen heilen unter Umständen, aber Arm ab ist und bleibt Arm ab. Und wenn du tot bist, stehst du eben nicht in der nächsten Stadt oder am nächsten Lagerfeuer wieder auf. Tot ist tot. Und zurück nach Freiburg kommst du auch nicht mehr. Zumindest nicht so schnell. Das ist der Unterschied zum Rollenspiel.«

Julia lehnte sich entspannt zurück, atmete ohne Aufregung, obwohl seine Erklärungen weniger geeignet waren, sie zu beruhigen, sondern eher, sie in ihre Angst und geistige Lähmung zurückzuschicken. Endlich jemand, der ihre Situation und ihre Verunsicherung verstand! Jemand, der sie aus der Willkür eines Wilden gerettet hatte und der ihr nun die Lage erklärte. Mit wenigen klaren Worten. Und mit einem gewissen Spielraum, wie sie unterstellte. »Wir nehmen eine Rolle an oder schaffen sie uns«, hatte er gesagt. Das klang gut. Nach einem Ausweg, wenn man bloß suchte und sich entsprechend bemühte. Den Rest schien sie nicht gehört zu haben. Sie lächelte und nahm einen weiteren, diesmal langen Zug. Auf einmal schmeckte der Apfelwein gar nicht mehr so sauer.

5.

Irgendwann hatten sie ihre Krüge geleert, es war spät geworden. Sie standen auf. Julia torkelte. Im Gegensatz zu Mike hatte sie Mühe, sich aufrecht zu halten und ihren Weg nach draußen zu finden. Er hatte seinen Tornister an einem Riemen gegriffen, hievte ihn hoch und warf ihn sich über die Schulter. Ihren Arm schlang er um seinen Hals und fasste sie um die Taille. Sie fand es bequem, so gestützt zu werden. Nicht ohne Stolz merkte sie, dass sie kaum kleiner war als er. Zuerst empfand sie seine Berührung nur als fürsorglich und angenehm. Sie war einfach zufrieden, nicht ihr ganzes Körpergewicht ihren weichen Knien und den Füßen anvertrauen zu müssen, die ihr nicht mehr ganz gehorchen wollten. Dann fand sie den Kerl irgendwie sympathisch.

Den Weg zur Türe legten sie als Gespann zurück. Die Frische der Nachtluft draußen umfing sie überraschend. Sie machte sich von ihm los und war nach ein paar tiefen Atemzügen froh, wieder einigermaßen sicher auf eigenen Füßen zu stehen. Nach wenigen Schritten hatte sie ihr Gleichgewicht wiedergewonnen.

Ganz dunkel war es nicht. Ein bleicher Mond erlaubte es, einige Schritt weit Konturen zu erkennen. Nebel hatte aus der Ebene den Weg über die Mauern gefunden. Alles war schemenhaft, und die feuchtkalte Luft war gewürzt mit dem unverkennbaren Geruch nach Vieh, Heu und Unrat. In kurzem Abstand folgte sie Mike zwischen den Zäunen und Palisaden innerhalb des Gehöfts zu der Scheune, in deren Obergeschoss der Wirt ihnen die Schlafplätze zugewiesen hatte.

Die Gestalt nahm sie erst wahr, als sie schon fast zusammengestoßen waren. Ein Mann, nicht groß, aber Angst einflößend. Er war zerlumpt gekleidet, von drahtigem Körperbau und mit Narben im Gesicht und an den Armen. Ihre Form deutete auf Schnittwunden hin. Nun erkannte sie auch den Zweck seiner pendelnden Bewegung! Sein Messer wechselte er ständig von der einen in die andere Hand, die Spitze mal nach oben, mal nach unten gerichtet. Er stand leicht nach vorn gebeugt, sein ganzer Körper wiegte sich von einem Bein aufs andere.