KISHOU II

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Revierverletzungen

„Sag’ diesem Grobian, er soll gefälligst nicht so viel Geschrei vom Allsein verdrängen – er soll endlich aufhören mit diesem Geschrei. Er verschreckt ja damit das arme Tier!“, schimpfte das Untere Squatsch gestikulierend, während es zu Mo hinüberging, die gerade eine zu Tode erschrockene Kishou unter ihrem weißen Gewand verbarg ... „Oh – oh ... verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung!“, beeilte er sich schnell hervorzubringen, als er sie unter dem Gewand Mos bemerkte. „Ich habe nicht bemessen ...!“

„Ist schon gut!“, beeilte sich Kishou mit unüberhörbar zittriger Stimme zu versichern. Es war ihr äußerst peinlich, soviel Angst zu haben – wo doch alle anderen ihr signalisierten, dass keinerlei Gefahr bestand. Aber der Anblick eines solchen Monsters hatte wohl den größten Alarm in ihrem kleinen Bäuchlein ausgelöst, an den sie sich jemals erinnern konnte. Noch immer zitternd vor Aufregung rieb sie an ihm herum. „Entschuldige Mo!“, stotterte sie nun, während sie sich unsicher wieder aus dem schützenden Tuch herausschälte – freilich ohne dabei die Nähe zu ihr aufzugeben. „Wenn ich gewusst hätte ... so hab’ ich mir den nicht vorgestellt!“, schluckte sie, und beäugte vorsichtig das, was die anderen ,Kurluk’ nannten. Sie hoffte sehr, dass dieses Tier sie nicht bemerkte. Im Moment jedenfalls schien es mit anderem beschäftigt. Es schnaubte unaufhörlich, gab seltsame Dunkle Laute von sich, und warf seinen brachialen Kopf mit weit aufgerissenen Rachen immer wieder in die Höhe.

Boorh schwang sich endlich von seinem Hochsitz, und kletterte geschickt vom dem Tier herunter. Man sah, dass sich sein Körper noch an jeden Tritt erinnerte, als wäre er gestern das letzte Mal auf ihm geritten. Mit dem breitesten Grinsen im Gesicht, dass Kishou jemals an ihm gesehen hatte, kam er zu ihnen. „Boorh entscheidet: Es ist Kurluk, der Gefährte Boorhs und der Gefährte Mos. Nun auch der Gefährte Kishous. Boorh entscheidet, Kishou, die Bezwingerin Suäl Graals und Befreierin der Großen Wasser wird mit Kurluk in schon wenigen Zeiten Das Dritte Tal der Dritten Ebene des Dritten Drom vom Allsein verdrängen!“

„Und der gehorcht dir wirklich?!“, konnte sich Kishou doch nicht verkneifen, ängstlich zu fragen.

„,Nur’ ihm! ,nur’ ihm! – und Mo versteht sich!“, mischte sich das Untere Squatsch etwas nörgelnd ein. „Aber wen wundert’s – wen wundert’s: Wie der Herr ... wie der Herr ... so’s ... na ja, ... kann ich grad' nicht vom Allsein trennen, wie das weitergeht ...!“

Boorh grinste selig. „Kurluk ist: ,Boorh will’! – Kurluk ist ,gut’!“, proklamierte er stolz. Wobei unklar bleiben sollte, ob sich sein Stolz auf Kurluk bezog, oder auf den Umstand, dass er sich gemerkt hatte, was für ihn ,gut’ und ,böse’ bedeutete.

Mo horchte plötzlich auf und wendete sich um. Aufmerksam musterte sie die Umgebung.

„Ist was entschieden?“, fragte das Untere Squatsch, und schaute prüfend in die selbe Richtung.

„Mo ist nicht vollkommen entschieden ... was hier das Allsein verdrängt!“, erwiderte sie horchend. „Doch Mo ist entschieden, dass etwas ihr Revier verletzt. Und Mo ist ebenso entschieden: es ist nicht das erste Mal, dass es die Grenze Mos überschreitet!“

„Du meinst, hier ist noch irgendwo was?“, fragte nun auch Kishou, und beteiligte sich an der Suche. „Hoffentlich nicht Suäl Graal, die würd’ mir jetzt gerade noch fehlen!“, fügte sie mit verhaltenem Ton hinzu.

„Nein, zu gering ist das Revier bemessen, das in das Mos eindringt!“ Ihr Kopf hob sich plötzlich etwas, und ihr Blick musterte nun den Horizont in der Richtung, aus der sie gekommen waren. „Es ist entschieden, noch etwas verdrängt das Allsein – doch dieses bemisst einen sehr großen Raum!“

„Oh je ... „ reagierte Kishou nervös. Ihr Bäuchlein wollte wohl heute nicht mehr zur Ruhe kommen. „... klingt alles nicht sehr gut!“ Ihre Augen begaben sich bereits auf die Suche nach geeigneten Fluchtmöglichkeiten. „Wenn man wenigstens wüsste, was es ist ...”

Die Gegend, aus der sie kamen, und die nun von Mo angezeigt wurde, war nicht einzusehen. Die vielen großen Gesteinsbrocken behinderten den Blick in die tiefer gelegene Ebene.

Kishou lief ein Stück weit zu einem großen Felsen, der aus dem Boden ragte. Von dort oben müsste man mehr sehen können, hoffte sie. Seine Oberfläche war sehr porös und gab ihren Händen guten Halt. Wenige Augenblicke später schon stand sie auf seinem höchsten Punkt und schaute in die Ebene hinein. Das Erste was sie sah, versetzte sie zunächst einmal eher in Erstaunen, als das sie sich erschrak. Erst der Zweite Blick weitete ihre Augen mit Schrecken. „Korks!“, fiel es aus ihr heraus. Sie waren noch ein Stück weit entfernt, doch nahe genug, um alle Einzelheiten des Geschehens dort unten sehen zu können.

Es war zunächst eine riesige Zahl von Afetiten, die sich auf sie zu bewegten, und die sich in diesem Moment in zwei Teile aufspalteten. Durch diese aufklaffende Lücke ergoss sich eine Unzahl jener Wesen, mit denen Kishou schon einige böse Erfahrungen machen durfte. Es waren Korks. Wie dickflüssiges Metall ergossen sich ihre reflektierenden Eisenkörper durch den breiten Kanal, den ihnen die Afetiten schufen.

Kishou fuhr herum „Da unten kommen unheimlich viele Wesen – vielleicht Bewohner von hier!“, rief sie so laut sie konnte zu den anderen hinüber. „Aber es sind auch Korks dabei ... unheimlich viele Korks!“ Ihre Stimme überschlug sich fast, während sie wie wild gestikulierend in die Richtung der aufkommenden Gefahr wies. So übersah sie diese kleinen dunklen Stäbchen, die sich in diesem Moment von den Afetiten her in den Himmel erhoben, und deren Summe wie eine kleine dunkle Wolke in ihre Richtung schwebte ...

~*~

Gefahr

Tek duckte sich tief in seine Deckung, als er plötzlich Kishou auf sich zukommen sah. Seine Augen suchten nach Ausweichmöglichkeiten, aber er konnte noch nicht einschätzen, was das Ziel dieses Wesens war – oder war er bereits erkannt ...?

Er lugte vorsichtig an seinem Schutz vorbei. Das kleine, sonderbare Wesen, begann sehr nah bei ihm auf einen größeren Felsen zu klettern. Tek vergewisserte sich, dass sein Versteck so hoch war, das es genügend Schutz vor Entdeckung bot. Zum ersten Male hörte er auch die Stimme dieses Wesens, und es schnürte ihm fast den Hals zu. Es konnte unmöglich die Stimme nur einer Verdrängung vom Allsein sein – ging es ihm durch den Kopf. Nie zuvor hatte er einen solchen Klang vernommen. Er hörte bruchstückhaft etwas von Afetiten und von Korks – was konnte das Wesen meinen?

Tek kauerte sich tief geduckt mit dem Rücken an dem Felsen, der ihm Deckung bot, und lauschte den verwirrenden Klang der Worte des sonderbaren Wesens. Dann war es still ... Er schaute nach oben, als erwartete er, dass noch weitere Worte von ihr über seinen Deckung kippen würden – doch es blieb still. Aber stattdessen entdeckte er eine kleine, dunkle Wolke am Himmel, die sich seinem Aufenthaltsort schnell näherte.

Tek war ein Afetit und er war ein Dompteur. Er wusste, wie der Pfeil sich im Blau des Himmels abzeichnete – und er hatte schon unzählige Male beobachten können, wenn sich viele von ihnen am Himmel vereinigten ...

~*~

In letzter Sekunde

Nein!“ Ein gellender Schrei durchbrach die Stille aus jener Richtung, der Kishou gerade eiligst den Rücken gekehrt hatte.

Sie fuhr erschrocken herum – und erstarrte. Ein fremdes Wesen – ein Afetit vielleicht – raste mit höllischen Tempo direkt aus sie zu. In seinem Gesicht zeichnete sich Panik ab ... und er stülpte während des Laufes etwas über seine rechte Hand. Es kam alles so plötzlich, und der Schrei dieses Wesens hallte noch immer in Kishou nach. Wie versteinert starrte sie dem Rasenden entgegen – als sie den leichten Luftzug spürte.

Boorhs große zweischneidige Axt war die Ursache, als sie dicht an ihr vorbei sein Ziel in dem auf sie zueilenden Fremden suchte. Der machte eine jähe Drehung – gerade, als die Axt in ihn einschlagen wollte. Sie rutschte fast an seinem schmächtigen Körper entlang und riss ein Stück seines groben Leinenhemdes mit sich. Er taumelte und fiel – als Kishou einen surrenden Ton in der Luft vernahm, dem gleich darauf ein kleines ,Ratsch’ folgte. Die erste Pfeilspitze hatte sich dicht bei ihr in den festen Boden gebohrt.

Der Fremde schien bei seinem Sturz kaum den Boden berührt zu haben, so schnell stand er bereits wieder – direkt vor Kishou. Sein Körper drehte sich, und im selben Augenblick schlugen bereits die ersten Pfeilspitzen in dieses Ding ein, in dem seine rechte Hand steckte – um sie auf der anderen Seite ebenso schnell wieder in der entgegengesetzten Richtung zu verlassen. Es schien eine Art Tanz. Der schmächtige Körper drehte und wendete sich mit atemberaubender Geschwindigkeit. Ein Regen von Pfeilen ging auf Kishou herab und spickte die Erde um sie herum, doch nicht ein einziger fand sein erhofftes Ziel. Jene, die es hätten finden können, fanden ihr Ende in der seltsamen Halbschale, die der Fremde trug.

Nach nur wenigen Augenblicken war der Spuk vorbei. Einen Moment lang suchten die Augen des Fremden noch den Himmel ab, dann wendeten sie sich zu Kishou.

Die stand noch immer wie versteinert am selben Fleck, unfähig zu begreifen, was geschehen war. Nun aber lief ein Schauer durch ihren Körper, als der Blick des Fremden sie traf. Noch nie hatte sie solche Augen gesehen. In einem sanften, hellen Blau, das einen Blick in den Himmel freizugeben schien, lag die leuchtend-grüne Iris wie das Blatt eines gerade erst erwachten Baumes. Ein schwarzer, breiter Schlitz, der den Boden mit dem Himmel verband, teilte das Blatt beinahe in zwei Hälften. „Ich ... ich ...!“, stammelte Kishou. Weiter kam sie nicht, denn Boorh und Mo waren bereits bei ihr. Mo legte sofort schützend ihr Gewand um sie, die von all dem aber nichts zu bemerken schien. Wie paralysiert starrte sie in die Augen des Fremden.

 

„Boorh entscheidet: Du bist ein Dompteur!“, polterte Boorh sogleich los, während er mit einem kleinen Ruck einen Pfeil aus seinem Oberarm riss – um sogleich den Fremden mit einem anerkennenden Schlag auf die Schulter zu versehen. Den jungen Afetiten, der ebenso versteinert stand, und nicht von den Augen Kishous lassen konnte, traf der Schlag gänzlich unvorbereitet. Wie ein Stück leichten, ausgetrockneten Holzes fegte es ihn davon.

„Verzeih meine kleine Unbemessenheit!“, war Boorh darauf ehrlich erschrocken. Er wollte dem Gestrauchelten zu Hilfe eilen – der aber stand bereits wieder.

Verschiedene rote Flecken auf Boorhs Körper ließen vermuten, dass der Pfeil, den er gerade aus seinem Arm gezogen hatte, nicht der Einzige war, der ihn getroffen hatte. Mo und er waren in den Pfeilregen hineingelaufen, in dem Versuch, Kishou zu retten – und er wusste wohl nun sehr genau, was seine Axt beinahe angerichtet hätte.

„Ihr müsst schnell fort!“, rief der Afetit, der offenbar endlich seine Fassung wiedergefunden hatte. „Ihr müsst fliehen!“ Seine Augen richteten sich ängstlich in den Himmel.

„Was ist entschieden?!“, fragte Mo mit dieser erstaunlichen Ruhe, die sie offenbar niemals verlor.

„Ich kann es nicht bemessen!“, antwortete der Gefragte mit fast verzweifelter Stimme. „Ich kann es nicht bemessen, ... aber ihr müsst schnell diesen Ort verlassen!“ Und dann sprudelte es förmlich aus ihm heraus. „Es verdrängen dort Stämme der Grabenmacher das Allsein – und es verdrängen dort Stämme der Langen Schatten das Allsein ... ich.. ich kann es nicht bemessen ... Doch Tek kennt die Bemessungen ihrer Pfeile! Sie verdrängen vereint das Allsein! ... sie sind gerichtet gegen euch ...! Tek kann es nicht bemessen ...!“

„Was ist entschieden in den Korks?!“, wurde er von Mo unterbrochen.

„Korks?!“, staunte Tek mit weit aufgerissenen Augen. Als wäre es das Stichwort gewesen, waren nicht mehr aus all zu weiter Entfernung, leise die krächzenden Laute der Eisenwesen zu hören.

„Stämme der Grabenmacher? ... der Grabenmacher – zusammen mit Stämmen der Langen Schatten? – und alle zusammen verdrängen das Allsein gemeinsam mit den Korks ...?“, kam nun auch die verwunderte Stimme des Unteren Squatsch aus dem Hintergrund.

Boorh richtete sich in aller Größe auf. „Boorh entscheidet: Es ist eine Verdrängung Suäl Graals vom Allsein!“ Sein Gesicht verfinsterte sich. Er lief zu einem der fast runden, riesigen Steine, und stemmte seinem Rücken unter ihn. Langsam gab der runde Klotz nach, und kam in Bewegung. Zögerlich gab er seinen Widerstand gegen die Kräfte Boorhs auf, und begann bedächtig, dem Gefälle folgend, seine erzwungene Reise.

„Kommt!“, sagte Mo nur, und wendete sich bereits mit Kishou in ihrem Arm um.

„Boorh entscheidet, Boorhs Axt wird einige Entscheidungen bemessen, und vom Allsein verdrängen!“, rief er ihr fast trotzig nach.

„Kommt!“, wiederholte Mo nur. „Es ist entschieden!“

Auch das Untere Squatsch setzte sich nun in Bewegung, und folgte Mo, die geradewegs auf Kurluk zusteuerte. Boorh, fest seine Axt umfassend, blickte unschlüssig zwischen Kurluk, und dem sich langsam und stolpernd entfernenden Gesteinsbrocken hin und her.

„Komm endlich, du plattfüßiger Beulenmacher, du plattfüßiger! Du hast doch vom Allsein getrennt was entschieden ist!", schimpfte das Untere Squatsch. „Oh – oh verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung!“, beeilte er sich schnell in das Gewand Mos hinein zu sagen. Er lief neben ihr einher, und hatte wohl für einen Moment übersehen, das Kishou unter ihrem Gewand verborgen war.

Boorh gab endlich auf. Missmutig wollte er sich gerade den anderen anschließen, als sein Blick auf den kleinen Afetiten fiel. Der stand einfach nur da, und blickte hinter Mo her – oder besser hinter dem, was sich unter ihrem Gewand abzeichnete.

„Was ist es, das du dort vom Allsein verdrängst?!“, fragte Boorh.

„Ich?“, schreckte der Angesprochen auf „... ich ... ich kann es ... nicht bemessen ...!“

„Boorh entscheidet: Du wirst aber bemessen haben, was entschieden ist!“

„Du entscheidest ... Du entscheidest ...!“, schluckte der Kleine. „... ich darf mit euch kommen?!“

Boorh schaute noch einmal Bedauernd in die Richtung seiner stolpernden Kugel. Die hatte inzwischen schon etwas Fahrt aufgenommen, und auf ihrer unregelmäßigen Bahn eine Weitere angestoßen, die es nun der Ersteren gleichtat. Dann wendete er sich wieder zu dem Afetiten. „Boorh entscheidet: Du bist ein Dompteur! Und Boorh entscheidet. Du bist der Dompteur, der Kishou, die Bezwingerin Suäl Graals und Befreierin der Großen Wasser, vor dem Allsein bewahrte! Boorh entscheidet: Du verdrängst nun das Allsein in dem Revier Kishous!“ Seine Axt in den Schulterhalfter schiebend wendete er sich um, und stapfte los.

„Kishou – Hast du bemessen? ... die Bezwingerin Suäl Graals und Befreierin der Großen Wasser, hast du bemessen? Der kleine Afetit hatte Mühe mit Boorh Schritt zu halten und war über alle Maßen aufgeregt,

„... Und Boorh entscheidet: du bist vor allem der Dompteur, der der Axt Boorhs in der Vollkommenheit seiner Bemessung zu widerstehen vermochte!“, proklamierte er anerkennend ...

~*~

Rahons List

Rahon entdeckte es im selben Moment, als es sich unweit vor ihnen an dem Ausläufer des Feuerbergs, der direkt vor ihnen lag, auf einem Felsbrocken stehend, zeigte. Er gab sofort das Zeichen zum Halt.

Die Stämme liefen, seit sie den Wald passiert hatten, auf breiter Front nebeneinander, denn Rahon erwartete auf Grund der Spuren in jeden Augenblick, dass sie auf die Fremden stoßen würden – und er wollte in diesem Moment auf keinen Fall in den hinteren Reihen stehen. Auch den Korks hatte er sicherheitshalber befohlen, dichter aufzuschließen.

Diese Maßnahme hatte sich bereits bewährt, wenn auch gänzlich anders, als erwartet. Sie liefen blind in die Falle des Rjuchhu hinein – was acht Afetiten das Leben kostete. Drei davon waren seine Stammesangehörigen. Allein ihre große Übermacht, und vor allem das schnelle Eingreifen der Korks, die bereits dicht zu ihnen aufgeschlossen waren, hatten schlimmeres verhindert.

Rahon brauchte nur wenige Augenblicke für seine Entscheidungen. Die Gestalt dort auf dem Felsen war aus diese Entfernung noch nicht klar zu erkennen. Es war keines der Unzähligen Wesen, die dieses Drom belebten, dessen war er sich sicher – und es war den Spuren nach die Zeit, da er mit einem Aufeinandertreffen rechnen durfte. Es konnte Tek sein, der sich dort oben einen Überblick verschaffte – allein die Unvorsicht, mit dem sich die Gestalt präsentierte, stand dieser Spekulation entgegen. Vielleicht war es ja bereits jenes Wesen, das es zu vernichten galt.

Rahon befahl sofort, dass die Stämme weiter auseinanderrücken, um den Korks einen Weg nach vorn freizumachen. Augenblicke später schon ergossen sie sich durch die gebildete breite Schneise der beiden Stämme.

Rahon reagierte keineswegs spontan. Er hatte sich auf diesen Augenblick vorbereitet, und jede Einzelheit war bereits Teil seines Plans – deren Details auch den Grabenmachern bekannt war. Von Mund zu Mund wurde er während des Marsches durch die Reihen seiner Stämme weitergegeben, und so wusste jeder von ihnen, was als nächstes geschehen würde. Er war nicht zufällig der Führer eines der größten Stämme der Grabenmacher – und Suäl Graal hatte sicherlich nicht zufällig ihn erwählt, das Heer zu führen. Er war scharfsinnig und schreckte vor nichts zurück, um seine Pläne in die Wirklichkeit umzusetzen.

Als die ersten Reihen der Korks die Schneise durchquert hatten, rannte er los. Er lief mitten in die Formierung der metallischen Gestalten hinein, und sprang einem der Korks auf den Rücken. Geschickt hangelte er sich an ihm hoch und klammerte sich an seinen Hals. Seine Beine ruhten auf den Ausbuchtungen des Kork, aus denen die dünnen, stangenartigen Laufglieder hervortraten. Er musste in jedem Fall an Vorderster Front sein, um ohne Verzögerung zu erfahren, wann ihre Aufgabe erfüllt, und damit der unselige Packt mit den Langen Schatten aufgehoben war. Niemand wusste, wann die Korks nach Erfüllung des Auftrags von Suäl Graal wieder freigegeben werden. Vielleicht schon in dem selben Augenblick der Vernichtung des Fremden, vielleicht auch erst etwas später – wenn die Korks wieder zurückgekehrt waren, und sich direkt unter ihnen befanden. Die Korks konnten ja schließlich nicht sagen, ob ihr Angriff erfolgreich war. Die Stämme der Afetiten hätten sich erst selbst überzeugen müssen – und dann wäre es für eine angemessene Reaktion möglicherweise bereits zu spät. So war es sein Plan, bei erfolgreicher Vernichtung des fremden Wesens, das sich bei dem Unteren Squatsch aufhielt, drei Pfeile gleichzeitig senkrecht in den Himmel zu schießen.

Für die Langen Schatten – so war die offizielle Verabredung – hätte es die Bedeutung, dass sie und die Grabenmacher zur Unterstützung des Kampfes aufrücken sollten. Die Stämme der Langen Schatten und die der Grabenmacher sollten sich zu diesem Zwecke trennen, um von zwei Seiten gleichzeitig in den Kampf eingreifen zu können. Auf diese Weise wäre für die Grabenmacher die benötigte Distanz gewährleistet, und sie könnten sich im entscheidenden Moment zurückziehen, während die Langen Schatten in die Falle der Korks geraten würden – die entweder noch den Befehlen Rahons gehorchten, oder aber inzwischen frei waren. Das Eine bedeutete wie das Andere das Ende der Langen Schatten.

Rahon verlor keinen Gedanken daran, dass sein Entkommen aus dieser Situation mehr als fraglich war. Aber eben genau das war seine Stärke – und es lag außerhalb der Vorstellungskraft der Langen Schatten, dass Rahon sich bedenkenlos selbst opfern würde – auch das war im Kalkül Rahons eingegangen.

Das Aufsitzen Rahons auf den Kork war das Zeichen für die Afetiten, eine gemeinsame Salve von ihren Bögen auf den Ort abzuschießen, wo sich die Gestalt zeigte. Es war aus dieser Entfernung sicherlich noch nicht sehr effektiv, aber mit etwas Glück konnte der Vorteil dieses Überraschungsmoments sogar bereits die Entscheidung bringen – immerhin sollte dem Fremden jetzt noch die Deckung fehlen. Rahons Augen folgten der Wolke aus Pfeilen, die bereits ihren höchsten Punkt erreicht hatten, und sich nun langsam gegen das Ziel neigte. Die Gestalt auf dem Felsen war inzwischen wieder verschwunden.

Die Korks kamen schnell voran. Im Laufschritt sprangen sie mehr, als das sie liefen, und auch den leichten Anstieg schienen sie nicht einmal zu bemerken. Allein ihr Krächzen war in solch unmittelbarer Nähe, mitten unter ihnen, schier unerträglich.

Rahon stutzte. Dort oben bewegte sich etwas auf sie zu, und es war nicht schwer zu erraten, was es war. Eine kleine Lawine aus mehreren Felsbrocken stolperte ihnen mit zunehmender Geschwindigkeit entgegen. Vielleicht war es Zufall. Aber es schien ihm nicht sehr wahrscheinlich. Der auf dem Felsen gestanden hatte, musste die anrückenden Heere gesehen haben, soviel war sicher. Das wiederum konnte nur bedeuteten, das die Steinlawine die erste Reaktion des Feindes war – ein erster Verteidigungsakt, ... oder die Vorbereitung zu einem Angriff ...!

Er sah um sich in die ausdrucklosen Fratzen der Korks. Was sollte er ihnen Befehlen? Bemesst die Steine, die da vorn das Allsein verdrängen? Die Legenden beschreiben die Korks als ,Besondere Apparate’ – geschaffen, das sein dem Allsein zuzuführen. Rahon hatte, wie fast alle Afetiten, seine Erfahrungen mit den Korks, und so wusste er, dass Korks nicht gemacht waren, um vor irgend etwas auszuweichen, von dem sie angegriffen wurden ...

Er beobachtete den stolpernden Lauf der einzelnen Brocken aufmerksam, und versuchte abzuschätzen, wo sie in die breite Front der Korks einbrechen würden. Es war aber kaum möglich, dies mit Sicherheit voraus zu sagen. Er hoffte nur, das er selbst von ihnen verschont blieb, denn ohne ihn wären die Stämme der Grabenmacher vielleicht verloren.

Dann geschah es. Scheppernd krachten die Geschosse in die Reihen der ehernen Kreaturen und rissen lange Schneisen in sie hinein. Nur vielleicht zehn Reihen neben ihm riss einer der Brocken die stählernen Leiber auseinander. Die harten Einschläge schlugen eine Welle der Zerstörung in die Korks, die sich beidseitig der steinernen Geschosse während ihres Eindringen fortsetze. Die auslaufende Welle des nächst liegenden Einschlags neben ihm erreichte noch gerade seinen direkt benachbarten Kork. Der bekam einen kräftigen, seitlichen Stoß von einem stürzenden Kampfgenossen – und rammte seinerseits jenen Kork, auf dem Rahon ritt. Der kam einen Moment ins taumeln – fiel aber glücklicherweise nicht.

 

Rahon atmete tief durch ... Unberührt und mit dem Gleichmut eines Treppenwurms wurden die geschlagenen Lücken sofort wieder von nachrückenden Korks besetzt.

In unmittelbarer Nähe des Felsens, auf dem vorher die Gestalt erschienen war, ließ er halten. Es reichte völlig aus, wenn ein einzelner Kork seine Befehle hörte, oder sonstwie wahrnahm. Alle anderen wussten es damit offenbar auch. Er sprang nur kurz vom Rücken seines zweistelzigen Gefährts, um die Deckung eines Felsen zu nutzen. Ohne weitere Verzögerung setzte sich der Tross sofort wieder in Bewegung.

Mit einer gewissen Faszination betrachtete er die endlos anstürmenden Massen der gleichförmig formatierten Korks – wie sie sich kurz vor seinem schützenden Fels wie ein einziger Körper, gemeinsam reagierend, kurz aufspalteten, um sich hinter dem Stein sofort wieder zusammen zu schließen.

Der gleichförmige Tritt ihrer Laufglieder wirbelte eine Menge Staub auf. Rahon zog sein leichtes Tuch vom Hals, und band es schützend vor die Augen. So wartete er ab, bis endlich die letzte Reihe seiner unwirklichen Kampfgefährten seine Deckung passiert hatten. Gebannt lauschte er dem sich entfernenden Rhythmus der federnden Schritte – jeden Moment erwartend, darüber die untrüglichen Zeichen eines beginnenden Kampfes zu vernehmen. Die ersten Reihen der Korks sollten das Ziel schon erreicht haben ...

Doch entgegen seiner Erwartung trat plötzlich Stille ein!?

Vorsichtig kroch er aus seiner Deckung hervor. Tatsächlich waren die letzten Reihen der Korks nicht sehr weit gekommen – sie standen nun kaum einen Steinwurf vor ihm in vollkommener Bewegungslosigkeit. Für einen Moment war Rahon irritiert und dachte angestrengt nach. Das hier passte nicht in seine Vorstellungen des Ablaufs der Sache ...

Es konnte Zweierlei bedeuten: Entweder sie hatten ihr aufgetragenes Werk bereits vollendet, und es gab nichts mehr zu tun – die Überraschung des Pfeilregens hatte den Kampf bereits entschieden – oder aber es gab niemanden an dem Ort, der bekämpft werden konnte ...? Die erste Möglichkeit schloss ein, dass ihm vielleicht keine Zeit bleiben würde, rechtzeitig die Pfeile abzuschießen, bevor die Korks nunmehr über ihn herfielen. Er konnte ja das Zeichen erst geben, wenn er sich von der tatsächlichen Vernichtung der Fremden überzeugt hatte ... Zweitere würde lediglich bedeuten, dass die Jagd noch nicht zu Ende war.

Vielleicht gab es aber auch noch eine dritte Möglichkeit – eine, die ihm nicht in den Sinn kommen wollte ...

Er zog seinen Bogen von der Schulter und legte drei Pfeile in die Sehne, bevor er sich auf den Weg machte. Er wollte wenigstens jederzeit für das Zeichen bereit sein.

Vorsichtig schlängelte er sich kurz darauf durch die dichten Reihen der Korks, die bislang keinerlei Notiz von ihm nahmen. Sein Kopf bewegte sich ohne Unterlass hin und her. Es war nicht leicht, sich durch den getrübten Blick des Tuches zu orientieren, und gleichzeitig dabei etwaige verräterische Bewegungen der Korks nicht zu übersehen. Das Tuch von den Augen zu nehmen, wollte er aber auch nicht riskieren, bevor er nicht wusste, was sich an der Spitze der Korks vielleicht abspielte. Die Warnung Suäl Graals war eindeutig.

Endlich hatte er die vorderste Reihe erreicht. Er blickte angestrengt zwischen sie hindurch. Er sah auf einen lichten Ort – und dieser Ort war leer ...

Rahon ließ den Bogen sinken und streifte das Tuch von den Augen. Er drängte sich durch die letzten Korks hindurch und betrat die freie Fläche. Sein Blick fiel sofort auf das Loch im Boden, das sich nicht weit von ihm auftat. Er lief hinüber und schaute nachdenklich in die große, und unübersehbar frisch aufwühlte und tiefe Kuhle, und versuchte sich einen Reim darauf zu machen. Die Stirn in Falten gelegt, schaute er über das Land ... Dessen Zeit auch immer hier das Allsein verdrängte, kann noch nicht weit gekommen sein, dachte er bei sich.

Sein Blick fiel auf zwei reliefartige Eindrücke auf der anderen Seite der Mulde. Er lief um die Grube herum und betrachtete nachdenklich die deutlichen Abdrücke. Rahon war kein besonders begabter Spurenleser, aber das musste man hier auch nicht sein, um sofort zu bemerken, dass es sich hier um die Abdrücke von Läufen handelte. Er legte überlegend den Kopf auf die Seite. Läufe solchen Ausmaßes hatte er noch nie gesehen. Gehörten sie dem fremden Wesen, das sie dem Allsein zuführen sollten?

Rahon nickte: So wird es das Allsein verdrängen! – und er meinte eine Vorstellung von der Kraft dieses Wesens zu bekommen. Aber immerhin – es war vor ihnen geflohen!

Wieder suchten seine Augen den Blick in die Weite des Landes „Etwas, das flieht, fürchtet zu unterliegen. Es ist also besiegbar!“, Sagte er leise zu sich, und kehrte zurück zu den Korks.

Die Jagd war noch nicht vorbei, wusste er nun. Doch alle Zeit ist bemessen in ihrem Ende. Dieses Gesetz kennt keine Ausnahme. So würde auch die Zeit der Jagd ihr Ende finden. Daran konnte es keinen Zweifel geben.

Er bestieg wieder einen der Korks und gab den Befehl zum Rückzug. In weiten Schritten lief das Heer wieder hinunter zu den Stämmen. Rahon bemerkte nicht zum ersten Mal auf seinem Ritt, dass die Korks die Stöße ihrer schweren Körper bei den Sprüngen mit ihren stelzenartigen Beinen erstaunlich gut abfingen. Es war fast bequem, auf ihnen zu reiten. ...

~*~

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