KISHOU II

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„Ach so!“ In Kishous Gesicht ging ein großes Licht auf. „Jetzt verstehe ich!“, sagte sie, und ein breites Grinsen erschien in ihrem Gesicht. „Deswegen ...!“ Sie kicherte etwas vor sich hin. Endlich hatte sie verstanden, warum das Untere Squatsch immer so gegen Boorh stichelte ...

„Äh – deswegen? ... fragte das Untere Squatsch irritiert.

„Ist ja auch egal!“, wiegelte Kishou ab. Aber danke, dass du mir erklärt hast, was du da eigentlich machst. Dann verstehe ich jetzt dein Problem. Deswegen herrscht ihr hier eigentlich auch zu Zweit. Wenn du allein kommst, nimmt man dich wohl nicht so richtig ernst – oder?“

„Genau so ist es entschieden, und genau so verdrängt es das Allsein! Genau so ist es!“ Das Untere Squatsch machte einen ehrlich bemitleidungswürdigen Eindruck. „In meiner Wenigkeit verdrängt sich der Herrscher eines ganzes Volkes vom Allsein – eines ganzen Volkes – und das Volk bemisst keinen Respekt vor seinem Herrscher ... Nur weil der nicht ganz so dick ist ... Oh, oh – verzeiht meine kleine unbemessene Verdrängung ...!“

„Schon gut!“, lächelte Kishou und strich tröstend über seinen Arm. „Setz dich doch auch noch ein bisschen. Es ist gerade so schön hier zu sitzen und sich vorzustellen, wie es wäre, wenn hier vor uns nichts als Wasser wäre, und hinter uns eine bis zum anderen Horizont reichende große Wolke aus grünen Blättern und Blüten in allen Farben!“

„Oh, oh – wenn Ihr gestattet!“ Die kleinen Kulleraugen des Unteren Squatsch leuchteten auf, und er beeilte sich, neben ihr Platz zu nehmen.

„Jetzt wo Boorh wieder da ist, wird das Volk sicherlich sehr bald erkennen, wer du bist, und man wird wieder Respekt vor dir haben!“, tröstete Kishou. „Es ist nun einmal so entschieden, dass ihr nur gemeinsam das Allsein verdrängen könnt!“

„So entscheidet Kishou, und wie Kishou vollkommen bemessen entschieden ist, so verdrängt es das Allsein!“, bestätigte das Untere Squatsch, und es war zum ersten Mal eine erstaunliche Ruhe und Zufriedenheit in ihm zu entdecken – und Kishou lächelte in sich hinein, als sie bemerkte, dass sie bereits anfing, sich in den seltsamen Worten der Chemuren auszudrücken. Dann aber verzog sich ihr Gesicht doch wieder zu einer nachdenklichen Mine. „Mmh – das ist dann aber auch wieder so eine komische Sache ... Ich dachte, ich hätte verstanden, dass Boorh seine Kraft von dir braucht, um etwas in die Tat umzusetzen ... so ist es doch gemeint – oder?!“

„ja, ja – genau so. Genau so verdrängt es das Allsein!“, beeilte sich das Untere Squatsch zu bestätigen, um gar nicht erst irgendwelche Zweifel aufkommen zu lassen.

„Aber im Ersten Drom warst du doch nicht da, und Boorh hat doch alles allein gemacht ...?

„Oh nein, nein – Boorh hat im Ersten Drom kein Allsein verdrängt!“

„Aber ich war doch immer dabei, und hab’ geseh’n ...!“

„Oh nein, oh nein – nichts hat Boorh verdrängt vom Allsein. Boorh hat kein Sein vom Allsein verdrängt. Niemand kann im ersten Drom das Sein vom Allsein verdrängen – nicht einmal ihr…!“ Er stockte und schluckte verlegen. „Verzeiht die kleine Unbemessenheit dieser Verdrängung vom Allsein ... aber sie ist eigentlich doch vollkommen bemessen – wenn ihr gestattet ...!“

„Häh ... „ In Kishous Gesicht stand ein großes Fragezeichen. „jetzt versteh' ich aber gar nichts mehr!“

„Nun – äh – das Erste Drom ist Allsein. Allsein! ... und niemand kann ein Sein vom Allsein verdrängen, bevor es entschieden und vom Allsein getrennt ist! Niemand kann das!“

„Wie ...?“

„Nun, so ist es. So ist es vom Allsein verdrängt. Boorh und Mo haben das Sein ,entschieden’ und vom Allsein ,getrennt’ im ersten Drom – doch um das entschiedene und vom Allsein ,getrennte‘ vom Allsein zu ,verdrängen‘, ... braucht es das Untere Squatsch – braucht es meine Wenigkeit!“ Er fing wieder sichtlich an, nervös zu werden. „Das ist ja gerade mein Problem, dass niemand es versteht. Das niemand es versteht und jeder zu bemessen meint, es wäre Boorh allein! ... Boorh allen!“, er wiegte verzweifelt seinen Kopf hin und her und seufzte tief auf.

Das Gedankenkarussel, das in Kishous Kopf mal wieder heftig im Kreise fuhr, war ihr hinlänglich bekannt, und sie hoffte entsprechend auf den Augenblick eines rettenden Widerstands. Tatsächlich dauerte es dieses Mal gar nicht so lange ... „Das würde ja bedeuten ... das Erste Drom ist gar nicht wirklich – also ich meine ... es wäre ja dann eigentlich nur irgendwie sowas ... wie ... wie eine Idee ... oder sowas wie eine Art Traum!?“

„Eine Entscheidung!“, wurde sie vom Unteren Squatsch korrigiert. „Nur erst eine Entscheidung! So verdrängt es vollkommen bemessen das Allsein. Es ist zunächst eine Entscheidung. Es trennt das Sein vom Allsein ...!“

Kishou kamen in dem Moment die Worte Trautel Melanchfuls in den Sinn, in denen sie einmal meinte, das Große Belfelland sei ein besonderer Ort, an dem nichts so wäre wie es scheint, und doch läge in allem das Wahre ... „Das heißt ... das Erste Drom war noch gar nicht Wirklich, sondern nur erst die Entscheidung für ein Sein, das hier im Zweiten Drom dann zur Wirklichkeit wird ...!“, grübelte sie laut nach ...

„Dank meiner Wenigkeit! So ist es. Eben Dank meiner Wenigkeit. Genau so ist es entschieden und verdrängt es das Allsein. Eure Entscheidung ist vollkommen bemessen und vom Allsein getrennt, und ebenso verdrängt es das Allsein ...!“ Die Augen des Unteren Squatsch leuchteten hell und er wiegte seinen kugeligen Körper aufgeregt hin und her. Endlich, so schien es ihm wohl, hatte ihn jemand verstanden.

„Deshalb war das auch so’n komisches Gefühl, als wir das Erste Drom mit dir durch’s Allsein verließen – und aus dem Allsein rauskamen … als wenn man aufwacht ... is’ ja verrückt alles ...”, staunte Kishou. Sie schüttelte etwas resignierend den Kopf. „Also so irgendwie hab’ ich’s wohl verstanden ... Jetzt wird mir immerhin einiges klarer – aber ich glaube, es ist im Moment noch ein bisschen viel auf einmal!“ Sie schaute einen Augenblick in die kleinen Murmelaugen des Unteren Squatsch und grinste plötzlich. „Danke, dass du mich aufgeweckt hast!“, sagte sie mit einem kleinen Anflug von Spitzfindigkeit.

Das Untere Squatsch überhörte die kleine Ironie in der Bemerkung Kishous und fühlte sich endlich einmal wieder angemessen wichtig – wie lange hatte er das nicht mehr erlebt.

Über die ausgiebige Unterhaltung war die Sonne nun endlich unter dem Horizont verschwunden und ein unbeschreibliches Farbenspiel überzog den sterbenden Himmel. Kishou gähnte herzhaft. „Wir werden die Nacht wohl hierbleiben!“, stellte sie mit einem Blick zu Mo und Boorh fest, die nebeneinander sitzend, mit eingefrorenen Gesichtern auf dem Boden hockten. „Also dann – Gute Nacht, Unteres Squatsch!“, verabschiedete sie sich von ihm, krabbelte auf allen Vieren zu Boorh hinüber und machte es sich in seinem Schoß bequem. Es war doch allemal immer wieder sicherer dort – man wusste ja nie ... und im Gegensatz zum ersten Drom, waren hier zudem doch immerhin schon Temperaturunterschiede spürbar, und die Nacht war kühler als der Tag.

Kishou kuschelte sich tief in Boorhs Schoß, als sich plötzlich eine wohlige Wärme um sie herum ausbreitete. Als sie die Augen verwundert noch einmal aufschlug, sah sie um sich herum ein mattes rötlich fluoreszierendes Licht – wie eine Glocke lag es über Boorh und ihr. Eine Art wabernder, stehender Blitz ging von ihrer Wandung ab – und als ihre Augen der Erscheinung folgten, fand sie dessen Ursprung in einer kleinen, flirrenden Kugel, wie aus tausend unsteten Insekten, in dessen Mitte sich ein leuchtender Kern befand. Er strahlte nicht so heftig, wie sie es schon einmal gesehen hatte – es war dagegen eher nur ein glimmen. Aber Kishou verstand nun, was die Ursache der Wärme war. Mit einem zufriedenen Lächeln auf den Lippen schlief sie ein.

~*~

Rahon gehorcht

Die ,Verbotene Stätte’ war nicht weit von Zargo entfernt. Gerade einmal ein Tagesmarsch trennte die Oase von jenem Ort, der von Suäl Graal bestimmt war, sich mit ihren Todfeinden zu verbünden.

Rahon wählte nicht den direktesten Weg dorthin. Er nahm einen etwas längeren in Kauf, um von einem der höheren Hügel das Areal dieses normalerweise gemiedenen Ortes überblicken zu können, bevor sie es endgültig erreichen würden. Das Misstrauen saß tief. Noch niemals in allen bekannten Zeiten war es zu einer Verbrüderung mit den Langen Schatten gekommen – und Rahon war nicht nur ein unerschrockener Krieger, er erwies sich auch immer wieder als äußerst scharfsinnig.

Suäl Graal war so verhasst wie gefürchtet unter den Afeten, was wohl für alle Völker aller Drome dieser Welt galt – sie war es ja schließlich, die das Große Belfelland mit seinen Dromen den langsamen aber unaufhaltsamen Untergang geweiht hatte. Und wenn man ihr folgte, dann nur ihrer Macht wegen, der niemand etwas entgegen setzen konnte – und um ihrer Wut zu entgehen. Sie alle kannten die Geschichte ihres Droms und die Zeiten der fließenden Wasser nur noch aus den Legenden. Aber alle sahen auch den weiteren, langsamen aber steten Niedergang ihres Lebensraumes, der jede zurückliegende Zeit bereits als eine ,ehemals blühende‘ erscheinen ließ. Jede bereits vergangene Zeit hatte allenthalben immer noch mehr geboten, als die Aktuelle.

Es muss eine außerordentlich große Macht sein, die es zu bekämpfen gilt, dachte sich Rahon. Suäl Graal hatte es nicht nötig, für irgend etwas Hilfe anzufordern, daran ließ keine der Legenden einen Zweifel. Wenn sie es dennoch tat, so musste etwas ungeheuerliches Geschehen sein. Wer waren diese Fremden, die imstande waren, Suäl Graal herauszufordern, und die das Große Belfelland, und damit auch ihren Lebensraum, zerstören wollten? – und warum will Suäl Graal sie vernichten, wenn die doch nichts anderes im Sinne führen, als Suäl Graal selbst? Das alles ergab keinen Sinn.

 

Aber Rahon hatte nun die Macht Suäl Graals am eigenen Leibe erfahren. Und wenn auch alles keinen rechten Sinn ergab, so blieb doch nur der Gehorsam, um vielleicht Schlimmeres zu vermeiden.

~*~

Vereinigung

Sie hatten das angestrebte Ziel ihres Umwegs erreicht. Eine kleine Gruppe seines Gefolges bildete ein schweigendes Spalier, um Rahon den Weg zu der Stelle auf der Anhöhe frei zu machen, von dem man am besten auf das weite Feld der Verbotenen Stätte blicken konnte. Sie lag inmitten einer ausgedehnten, flachen Lichtung, die nur spärlich mit trockenen Gräsern überwuchert war, und bestand aus vier gigantischen dreieckigen Platten aus Felsgestein, die sich an den Ecken ihrer Fundamente vereinten, und sich nach außen geneigt, schräg in den Himmel erhoben, wie die Blätter einer gigantischen farblosen Blüte in der Morgensonne. Den Blütenkelch bildete gewissermaßen ein quadratischen Innenhof, den die vier gigantischen Felsplatten begrenzten.

Dieser Innenraum – die eigentliche ,Verbotene Stätte’ – die vielleicht 200 Schritte durchmaß, unterschied sich in nichts von seiner äußeren Umgebung. Ein kahler, trockener Boden breitete sich darin aus. Nichts außergewöhnliches war innerhalb seiner Begrenzung zu erkennen – wenn man davon absieht, dass man an diesem Ort nicht einmal einen einzigen vertrockneten Grashalm fand. Und doch würde kein Afetit es jemals wagen, diesen Hof zwischen den vier weit geöffneten Felsplatten zu betreten. Viele Legenden rankten sich um diesen Ort. Ihnen gemeinsam war ein Bezug zu Suäl Graal, die dort ihr Unwesen trieb – oder die sich zumindest zuweilen dort aufhalten sollte. Es war ein unheiliger Raum, um den man einen möglichst großen Bogen machte.

Rahons Hände krampften sich um den Schaft seiner Lanze. Es dürfte wohl kaum das erste Mal gewesen sein, dass er von einer Anhöhe herab den Feind erspähte. Aber noch niemals waren es so viele auf einmal – und noch undenkbarer war es, dass er nicht herabsteigen sollte, um gegen sie zu kämpfen.

Das ganze Unterfangen ergab für Rahon wenig Sinn – und noch weniger gab es einen Grund, Suäl Graal zu trauen. Was, wenn es nur eine Falle war – wenn sie sich mit den Langen Schatten verbündet hatte? – Was freilich auch nicht viel Sinn ergab.

Die einzig unumstößliche Tatsache war: die Langen Schatten waren da. Es mochten drei oder vier Stämme sein, die sich dort unten zusammenfanden – Stämme der Grabenmacher waren nicht auszumachen. Zeitlich betrachtet sollten zumindest zwei der Stämme der Grabenmacher zugegen sein. Sie wären räumlich ebenso wie er in der Lage, diesen Ort in der zur Verfügung stehenden Zeit zu erreichen. Das allerdings musste nicht bedeuten, dass sie nicht doch wenigstens in der Nähe waren. Sie würden sich nicht viel anders Verhalten als er selbst, und erst einmal aus sicherer Distanz das Geschehen erkunden. Die Grabenmacher mussten, so lange es irgend möglich war, vermeiden, sich mit den Langen Schatten in einem Nahkampf zu befehden. Sie wären ihnen in gleicher Stärke unterlegen – einfach schon von daher, weil die Langen Schatten um einiges größer waren als sie, und folglich mit ihren Handwaffen über eine größere Reichweite verfügten. Sie waren zudem hervorragende Nahkämpfer und trotz ihrer klobigen hölzernen Schilde äußerst beweglich.

Solange es also möglich war, bekämpften die Grabenmacher den Feind aus der Distanz mit ihren Bögen. Hier genossen sie den Vorteil der besseren Schützen – und den des Fängers, der jedem Schützen zugeordnet war. Sie trugen keine Schilde, wie die langen Schatten . Der Schütze brauchte zwei freie Hände für sein Tun. Die Aufgabe des jeweiligen Fängers war es daher, den Schützen zu sichern, und mit seinem Spinschuh die gegnerischen Pfeile abzufangen und möglichst zurück zu schleudern.

Aber auch die langen Schatten waren sich offenbar nicht sicher, ob Suäl Graal nicht versuchte, sie zu hintergehen. Das dumpfe Stampfen aus der Ferne zeugte davon, wie Rahon sofort erriet.

Eine besondere Kriegsstrategie der Grabenmacher bestand darin, sich unter die Stellungen der Langen Schatten zu graben, um dann überraschend mitten unter ihnen aufzutauchen – oder sie in unterirdisch ausgehobene Fallen stürzen zu lassen. Die Langen Schatten erwehrten sich gegen diese Strategie mit bolzenartig zugehauenen großen Steinen, die sie mittels einer auf Kufen gelagerten Hebevorrichtung herumzogen, um sie regelmäßig auf den Boden aufschlagen zu lassen. Auf diese Weise versuchten sie, etwaige Hohlräume und Untertunnelungen zum Einsturz zu bringen, bevor sie ihnen gefährlich werden konnten.

Das Ganze konnte natürlich auch genauso ein Zeichen dafür sein, dass sich die Langen Schatten auf einen Kampf vorbereiteten ... Dagegen sprach aber dann wiederum die Offenheit ihrer Stellung, die als Treffpunkt ausgewiesen war. Die Langen Schatten vermieden normalerweise tunlichst den Kampf im freien überschaubarem Feld, in dem sie zur ungehinderten Zielscheibe der Bogenschützen ihrer Feinde wurden.

Rahons Blick wandte sich zum Himmel. Für eine Untertunnelung der Langen Schatten war die Zeit nicht mehr. Die Sonne hatte längst ihren Zenit überschritten, und sie brauchten noch eine kleine Zeit, bevor sie jenen Schatten erreichten, den einer der dreieckigen Felsplatten in der Abendsonne auf den Boden warf, und der bereits die eingetroffenen Stämme der Langen Schatten zu überfluten begann. Ihm blieben also wenig Möglichkeiten mit der Situation umzugehen.

Wortlos rammte er seine Lanze in den Boden, streckte beide Arme weit von sich, und spreizte dabei die Finger auseinander. Die Grabenmacher verstanden die Aufforderung, die in dieser Geste lag, und begannen, sich gleichmäßig links und rechts von ihm zu einer langen Front auszubreiten. Auf diese Weise boten sie den Schützen der Langen Schatten kein klares Ziel und sie selbst behinderten sich nicht gegenseitig in ihrem Schussfeld.

Sie machten ihre Bögen bereit, und die jeweiligen Fänger traten einige Schritte vor sie. Dann kam das Zeichen von Rahon, und das lange und nunmehr lückenhafte Band seines Stammes setzte sich in Bewegung. Bevor sie den Rand des lichten Areals erreichen würden, war es eher unwahrscheinlich, dass sie von den Langen Schatten entdeckt wurden,. So war die Aufmerksamkeit auf jenen Augenblick gerichtet, da sie aus dem Schutz der verdorrten Vegetation heraustreten würden, um die weite Lichtung zu betreten.

Dieser Augenblick war nicht sehr fern, und als er eintrat, kündigte sich ihre Entdeckung unmissverständlich damit an, dass augenblicklich das dumpfe Stampfen der Bolzen verstummte.

Rahon hob seine Lanze über den Kopf und richtete sie entlang der Kampflinie seines Gefolges aus, und die Grabenmacher stoppten ihr weiteres vordringen. Es waren weniger als tausend Schritte, die beide Heere noch voneinander trennte. Noch zu weit für die Bogenschützen, aber jeder weitere Schritt wollte nun abgeschätzt werden.

Rahon wartete. Sein Blick durchstreifte aufmerksam die Ebene. Zwei Richtungen schienen ihm dabei besonders wichtig, denn dort verharrte sein Blick immer wieder für einen Moment. Die eine lag etwas seitlich rechts von ihnen, die andere zur Linken, fast ein Stück hinter der verbotenen Stätte. Das Verhalten der Langen Schatten war aus dieser Entfernung noch schwer abzuschätzen. Größere Bewegungen waren nicht zu erkennen.

Rahons Augenlider ruckten nach oben. Das worauf er lauerte war eingetreten. Fast gleichzeitig traten in den erwarteten Richtungen zwei weitere langgezogene Kampflinien in das freie Feld. Ihre Aufstellung und ihre Richtung ließ keinen Zweifel daran, dass es sich um Stämme der Grabenmacher handelte. Soweit entsprachen die Ankündigungen Suäl Graals also der Wahrheit.

Er hob wiederum seine Lanze, dessen Spitze nun nach Vorn wies. Mit verhaltenem Marsch setzte sich die Formation wieder in Bewegung. Kurz darauf konnte man bereits erkennen, dass die beiden anderen Stämme es ihnen gleichtaten. In einem großen Sternmarsch bewegten sich die drei Gruppen auf das Heer der Langen Schatten zu.

~

Auge in Auge

Es war der Punkt erreicht, wo die Pfeile auf langem Flug ein Ziel erreichen konnten, und die Spannung stieg an. Die Stämme der Grabenmacher begannen sich mehr und mehr zu vereinigen und einen großen, ausgedehnten Halbkreis zu bilden, der die Langen Schatten einschloss. Ihre strategische Position war ohne Zweifel die bessere, aber das Bild trog, denn die Zahl ihrer Kämpfer war klar geringer als die der Gegner, und in einem offenen Nahkampf hätten sie wohl trotz ihres gefährlich anmutenden Kessels kaum eine wirkliche Chance.

Die Nervosität wuchs, und immer häufiger war in den Reihen ein leises Pitchen mit einem darauf folgenden summenden Ton zu hören. Es klang, wie die langen Flügel eines großen Insektes. Es waren die angeschlagenen Sehnen der Bögen, die in der wachsenden Nervosität immer wieder auf ihre Spannkraft überprüft wurden.

Die Langen Schatten verhielten sich bis zu diesem Zeitpunkt erwartungsgemäß. Sie igelten sich hinter ihren großen Schildern in ihrer gewohnten Verteidigungsstellung ein. Doch jeder Grabenmacher wusste, dass zwischen den Schilden bereits Pfeilspitzen hervorlugten, deren Schäfte auf gespannten Sehnen ruhten. Die Augen der Fänger unter den Grabenmachern waren geübt, und hatten jede dieser Pfeilspitzen in ihrem Blick.

Die Mitte der Formation der Grabenmacher überschritt als Erste den Beginn des weiten Schattens, den eine der riesenhaften pyramidenförmigen Felsplatten inzwischen auf das freie Feld zeichnete. Wie ein überdimensionales Dach erhob sie sich in ihrer Neigung über das Herr der Langen Schatten.

Dann standen sie sich nur noch einen Steinwurf gegenüber. Eine unheimliche Stille trat ein, als sich die beiden Lager misstrauisch belauerten. Selbst das vereinzelte Summen der Bogensehnen war verstummt. Jeder wartete gespannt auf den nächsten Augenblick, und auf den, der darauf folgte. Jedes noch so kleine Geräusch, und war es auch nur das kaum vernehmbare Knacken eines Gelenks, verursachte in seiner Umgebung, dass sich dort die Nackenhaare hochstellten. Die Spannung war zu hoch, als dass sie noch lange aufrechterhalten werden konnte.

Und dann geschah es.

Ein leises, zischendes Geräusch war zu hören, als der Pfeil den engen Spalt zwischen zwei Schildern der Langen Schatten verließ, um seinen Auftrag nach einem kurzen, gradlinigen Flug, in Rahons Körper zu erfüllen.

Es waren zwei der besten Fänger, die ihm zugeteilt waren. Sie erkannten das Ziel des Pfeils, kaum das er aus den Schildern herausgetreten war – und sie waren auf ihren Platz, kaum das der Pfeil die halbe Strecke seines rasenden Fluges zurückgelegt hatte. Ein kurzes ,Ratsch’ war zu hören, als er in die glatte Wandung des Spinschuhs des vorderen Fängers glitt, um ihn fast im selben Moment auf der anderen Seite wieder zu verlassen. So schnell wie er kam, kehrte er zu seinen Auftraggeber zurück, um durch den selben Schlitz zwischen den schützenden Schildern wieder einzudringen, aus dem er hervorgetreten war. Es war ein meisterlicher Konter. Ein leises Aufstöhnen zeigte das Ende seines Irrfluges an. Der Kopf eines Langen Schatten erhob sich über den Schilderwall, dessen weit aufgerissene Augen auf das Ende des Pfeilschaftes schielten, der tief in seiner Stirn steckte. Dann verschwanden Kopf und Pfeil wieder.

Rahon war geistesgegenwärtig genug, im Moment des Pfeilfluges zu erkennen, dass sie verloren wären, wenn diesem Pfeil der offene Kampf folgen sollte. Brüllend schleuderte er seine Lanze einige Schritte vor sich in den Boden, stieß seine beiden Fänger zur Seite und marschierte forschen Schrittes und ohne jeden Schutz geradewegs auf die verblüfften Langen Schatten zu. „Wer von euch seine Hand gegen mich erhebt, der erhebt sie gegen Suäl Graal! Und so wie Suäl Graal diesen da eben dem Allsein zuführte, ist sie entschieden, es mit jedem tun, der die Hand gegen mich erhebt. Denn in mir ist entschieden: Rahon, die Hand Suäl Graals, der zu folgen euer Auftrag ist!“ Schäumend und grollend stand er breitbeinig und mit geöffneten Armen zwischen den Fronten. „Also wer will es noch einmal wagen!“, brüllte er in den Wald von Schildern hinein.

Er war sich sehr bewusst, wie hoch sein Spiel war – wie sehr er bluffte. Er hatte sehr stark aufgetragen und ziemlich maßlos übertrieben. Aber es war die einzig denkbare Chance für die Grabenmacher, der Katastrophe zu entgehen. Wenn die Langen Schatten sich nicht beeindrucken ließen, war er im nächsten Moment tot – und nach kurzer, heftiger Schlacht, drei ganze Stämme der Grabenmacher mit ihm. Wenn sie aber auf seine Worte hereinfielen, bestand immer noch die Möglichkeit, dass Suäl Graal ihn für seine Anmaßung abstrafte, um ihm zu zeigen, welches ihre tatsächliche Hand ist – dann wäre es auch um ihn geschehen. Sein Kalkül war es, dass es nicht im Interesse Suäl Graals sein konnte, wenn es hier zu einer offenen Schlacht zwischen den Grabenmachern und den Langen Schatten kommen würde, und sie ihm deshalb schon gewähren lassen müsste. Seine Rechnung ging auf.

 

Nach einem kurzen Moment der gespannten Stille löste sich plötzlich eines der Schilder aus der Wand, und ein bärtiger Kopf kam darüber zum Vorschein. Er hatte den langen, grauen Bart hinter seinen Hals zu einem Zopf verflochten. Stehend überragte er Rahon fast noch einmal um seine halbe Länge. Es mochte wohl der Anführer eines der Stämme sein. Er kam nun einige Schritte auf Rahon zu, und warf unwillig sein Schild in den Sand. In der Hand hielt er ein grobes Schwert. „Suäl Graal hat das Erscheinen deiner Zeit entschieden, und hier nun verdrängst du das Allsein, Grabenmacher!“, rief er ihm mit der Dunkelheit einer Stimme zu, die in keinem Verhältnis zu der dürren Schlaksigkeit seines Körperbaus stand. „Doch es ist nicht unser Wille einen Pakt mit den deinen vom Allsein zu verdrängen!“ Drohend richtete er sein Schwert in die Richtung Rahons. „Der Pakt endet mit der Bemessung dessen vom Allsein, was in Suäl Graal entschieden ist!“

„So ist es entschieden, und verdrängt es das Allsein!“, rief Rahon, von der Geste des Langen Schatten wütend, äußerlich jedoch unbeeindruckt, zurück.

Innerlich sah es freilich etwas anders aus. Er wusste, dass er für genau diesen zukünftigen Augenblick einen Plan haben musste, der ihm und seinen Stämmen die Möglichkeit gab, noch rechtzeitig eine ausreichende Distanz zu den Langen Schatten herzustellen. Unter diesen Kräfteverhältnissen durfte es auf keinen Fall zu einem Nahkampf kommen. Aber noch hatte er keine Vorstellung davon, wie er das bewerkstelligen sollte. Die Vernichtung jenes Wesens, das Suäl Graal Kishou nannte, war verknüpft mit dem Schicksal seiner Stämme, und musste entsprechend gut vorbereitet sein.

„Korks!“, hallte es in diesem Moment laut aus den Reihen der Grabenmacher heraus. Alle Köpfe fuhren herum. Das rote Licht der Abendsonne brach sich in einem langen dünnen Band spiegelnder Körper, das sich in der Entfernung am Rande des Areals aus den Hügeln herausschälte. In atemloser Stille starrte alles gebannt in die Richtung der Aufmarschierenden – und die Hände krampften sich um die Waffen.

„Es ist in Suäl Graal entschieden, dass die Entscheidungen der Korks den Bemessungen deiner Worte folgen!“, presste endlich der Anführer der Langen Schatten aus schmalen Lippen hervor. Es war nicht zu übersehen, dass ihm alles andere als wohl bei dem Anblick der metallischen Körper war, und er sich versichern wollte, dass von ihnen erst einmal keine Gefahr ausging.

„Das solltest du nie vergessen!“, konterte Rahon, und sein Zeigefinger richtete sich wie die Spitze einer Lanze gegen den bärtigen Widersacher. Es war in diesem Moment eine wichtige Trumpfkarte für ihn – wohl wissend, dass diese Karte sich ebenso schnell gegen ihn selbst wenden würde, wenn der Auftrag erledigt war.

Das Heer der Korks, das dort schnell näher kam, hatte ein beeindruckendes Ausmaß, und Rahon war sich bei diesem Anblick seiner Sache alles andere als sicher. Noch nie hatte er eine solche Masse dieser Ungetüme gesehen, denen man normaler Weise bereits bei weit kleiner Anzahl letztlich nur mit Flucht begegnen konnte. Es war alles andere als leicht vorstellbar, dass er sie in der Hand hatte – dass sie auf ihn hören würden ...

In den beiden Lagern der Stämme wurde es langsam unruhig. Mit jedem Schritt der Korks verringerte sich die Chance einer vielleicht noch möglichen Flucht, oder irgendwelcher Vorbereitungen für Gegenmaßnahmen.

„Du solltest in deinen ,Freunden‘ vielleicht eine Begrüßung vom Allsein verdrängen, bevor sie so entscheiden!“, sagte der Lange Schatten mit verbissener Ironie, aber sichtlich nervös, während er sein Schild wieder vom Boden aufnahm!“ Das seltsame Krächzen der Korks war inzwischen nicht mehr zu überhören.

Rahon durfte sich seine Unsicherheit nicht anmerken lassen. Wortlos wendete er sich ab und lief – vorbei an der Aufstellung seines Gefolges – den Korks mit langen Schritten geradewegs entgegen. Mit Hochspannung waren alle Blicke an seinen Weg geheftet, während sich der Abstand zwischen ihm und den Korks schnell verringerte.

Sie sahen in der Entfernung, wie er vor dem endgültigen Zusammentreffen plötzlich stehen blieb – und kurz bevor die Gestalt Rahons mit dem Meer der Korks endgültig verschmolz, stoppten auch sie plötzlich ihren Aufmarsch. Es war aus der Entfernung nicht zu erkennen, was sich dort Hinten genau abspielte, aber nach einer kleinen Weile bewegte sich Rahon wieder zurück, und auch die Korks setzten sich erneut in Bewegung. Der Abstand zwischen ihm und den Eisenwesen verringerte sich aber nicht mehr. Es war augenscheinlich, dass sie ihm folgten.

Auf beiden Seiten explodierte die Hochspannung in einem spontanen, befreienden Jubel. Bögen, Schilder und Schwerter reckten sich erleichtert in den abendroten Himmel, während Rahon an der Spitze eines gewaltigen Heeres von Korks, das ihm folgte wie eine Schafherde, mit hochaufgerichteten Gang zurückschritt.

Auch dem Anführer der Langen Schatten war seine Entspannung durchaus anzusehen, Er beherrschte sich allerdings, seine Erleichterung im gemeinsamen Jubel vor den Grabenmachern zu entblößen. So ebbte denn auch das Erleichterungsgebaren seines Gefolges sehr schnell wieder ab. Die Ruhe ihres Anführers erinnerte sie wohl schnell wieder daran, dass es der Feind war, der dieses Heer befehligte, und es war in diesem Falle nicht einmal eine Beruhigung, dass dies nur ein Pakt auf Zeit war, und mit der Erfüllung des Auftrags endete. Suäl Graal hatte ihnen zwar Belohnung versprochen, aber es gab auch auf Seiten der Langen Schatten niemanden, der Grund hatte, ihr zu trauen.

Mit der sich stetig verringernden Distanz der Eisenwesen zu ihnen, verstummte auch die Begeisterung der Grabenmacher. Ihre Reihen begannen sich aufzulösen, und man versuchte doch, einigen Abstand zu den Korks zu gewinnen.

Als Rahon seinen Marsch innehielt, kam auch die eiserne Lawine der Korks zum stehen. Fast ehrfürchtig starrten alle auf die Monstren mit ihren leblosen Gesichtern. Gegen das riesige Heer der Korks erschienen die Afetiten, wie ein Häufchen verlaufener Kaninchen.

Die Korks bildeten, in unzähligen Reihen aufgestellt, eine breite Front, und standen regungslos formiert und exakt ausgerichtet. Ihre krächzenden Laute aus dieser Nähe waren ohrenbetäubend und fast schon schmerzhaft. Rahon drehte sich um, und schrie etwas zu ihnen hinüber. Ohne einen Übergang brach das Krächzen schlagartig ab. Die nun entstandene Ruhe wirkte beim Anblick der Kampfmaschinen aber fast noch bedrohlicher. Er wendete sich nun an den Anführer der Langen Schatten: „In Suäl Graal ist entschieden, das die Spur Teks – einem Dompteur vom Stamme der Grabenmacher, der, seinen Stamm verratend, sich mit dem Feinde Suäl Graals verband – jenen Ort bemessen wird, der in Suäl Graal als ,Kishou’ entschieden ist. Wir werden ohne Verzug den Pfad nach Zargo vom Allsein verdrängen, um von dort die Spur Teks zu bemessen!“

Er drehte sich nun im Kreise, und rief laut, dass alle ihn hören konnten: „Die Sonne verdrängt schon bald nicht mehr das Allsein. Fackeln sollen ihre Bemessungen ersetzen – und erhaltet ihr Leben mit dem, was auf dem Pfade das Allsein verdrängt!“